General Faleh Al-Dhahri sammelte hunderte Stunden Filmaufnahmen über die Besetzung der Großen Moschee in Mekka – und stieß auf eine Mauer des Schweigens. Sein Sohn Abdulaziz will nun mit diesem Archivmaterial einen Dialog in Saudi-Arabien anstoßen.
zenith: Sie haben Jahre darauf gewartet, dass sich jemand für die von Ihrem Vater gesammelten Aufnahmen interessiert. Gibt es innerhalb Saudi-Arabiens kein Interesse an dieser Thematik?
Abdulaziz Al-Dhahri: Wir haben bei uns in der Familie alles Mögliche aufbewahrt: Filmmaterial, Zeitungsschnipsel. Wir gingen davon aus, dass es ein großes öffentliches Interesse geben wird und sich viele Journalisten an uns wenden würden. Umso erstaunter waren wir, dass kein Medienvertreter in Saudi-Arabien nachgefragt hat. Das Thema wurde totgeschwiegen. Aus dem Ausland kamen zwar Anfragen von Journalisten, allerdings war mein Vater da sehr vorsichtig.
Warum?
Er wollte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass er in dieser Sache eigene Interessen vorantreibt.
Um was für Aufnahmen handelt es sich im Einzelnen und wer hat sie angefertigt?
Mein Vater stand nicht selbst hinter der Kamera – verfügte aber über gute Kontakte bei den Behörden. Die Aufnahmen hat die Armee angefertigt, das Material landete dann beim Informationsministerium. Und in der Großen Moschee haben Überwachungskameras ohnehin alles aufgezeichnet.
1979 waren Sie gerade sechs Jahre alt und wurden in einem Land groß, das von den Folgen der Moscheebesetzung geprägt war. Wird 1979 – wie in Iran oder Afghanistan – in Ihrer Generation als Schicksalsjahr und Zeitenwende wahrgenommen?
Ich denke nicht, dass man das mit Iran vergleichen kann. Dort vollzog sich über Monate eine Revolution, die ein neues System, einen neuen Staat schuf. Bei der Besetzung der Großen Moschee in Saudi-Arabien handelte es sich um das Werk einer Gruppe Krimineller, die eine Straftat beging. Und der Wandel, der danach in Gang gesetzt wurde, ging ja von der Regierung aus.
Unabhängig von den Maßnahmen der saudischen Führung damals: Haben Sie persönlich einen Wandel im gesellschaftlichen Klima wahrgenommen?
Der Wandel bestand in der Reaktion der Regierung – und dem Fehler, den sie damals begangen hat, nämlich den Konservativen entgegenzukommen. Nur so konnte diese Strömung überhaupt solch eine breite Basis in der Bevölkerung schaffen.
Wie hat Ihre Familie diesen Wandel aufgenommen?
Mein Vater war mit diesen Veränderungen nicht einverstanden. Er ist dann auch zwei Jahre später in den Ruhestand gegangen, um Konflikte zu vermeiden. Er sah schon damals diese Richtungsänderung als Fehler.
»Niemand hatte damit gerechnet, dass eine Moschee Ziel eines Angriffs werden könnte«
In der Dokumentation »Mekka 1979« resümiert der saudische Journalist Khaled Al-Maeena, dass Juhayman Al-Otaiba die Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen hätte. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?
Ja, absolut. Ich würde allerdings nicht sagen, dass unbedingt er den »Krieg« gewonnen hat, denn er war ja nicht der Träger dieser Ideologie. Aber die Reaktion der Regierung hat dazu beigetragen, dass dieses Gedankengut Verbreitung fand.
Wollen Sie mit Ihrer Aufklärungsarbeit über die Ereignisse von damals gewissermaßen gegensteuern?
Die Instrumentalisierung von Religion ist in der Region weit verbreitet – Juhayman hat sich dessen schuldig gemacht, Khomeini ebenfalls. Für uns als Gesellschaft liegt der Schlüssel darin, dass wir miteinander reden. Die saudische Regierung hat sich damals dazu entschieden, die Konservativen zufriedenzustellen – bis aus dieser Strömung ein Monster erwuchs, das sich nicht mehr füttern ließ.
Braucht es für so einen Dialog einen öffentlich zugänglichen Ort in Saudi-Arabien, an dem sich die Menschen über die Ereignisse informieren können – eine Art Gedenkstätte?
Gedenkstätten sind für uns ein fremdes Konzept. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, eine faktische Grundlage zu schaffen. Es kursieren so viele Gerüchte und Verschwörungstheorien darüber, was damals passiert ist.
Wie werden die Ereignisse denn in der Schule behandelt? Oder findet eine solche Auseinandersetzung nicht statt?
Nein, darüber wird nirgendwo informiert – weder in den Medien noch in den Schulbüchern. Es ist natürlich trotzdem Gesprächsthema, aber nur im Privaten und auf Grundlage vieler Gerüchte. Ob sich daran etwas ändern wird? Solch ein Wandel bedarf einer entsprechenden Mentalität, die sich erst einmal in der Gesellschaft durchsetzen muss. Aber selbst wenn die staatlichen Behörden das Thema aufgreifen wollen würden: Es fehlt die Faktenbasis, denn viel Material ist inzwischen verloren gegangen. Eine vollständige Aufklärung ist nicht mehr möglich.
Warum das lange Schweigen? Hatte man Angst, den Moscheebesetzern und ihren Zielen das Wort zu reden?
Natürlich handelte man damals aus Angst, dass die öffentliche Bühne der Juhayman-Gruppe Legitimität verleihen könnte. Dieser Kurs hat aber letztlich das Gegenteil erreicht.
Immerhin: Im Vergleich zu Osama Bin Laden ist der Name Juhayman Al-Oteiba heute nur Experten ein Begriff.
Bin Laden war vorwiegend außerhalb Saudi-Arabiens aktiv – und verdankt den Medien seine internationale Bekanntheit.
Der Protest von Juhaymans Gruppe basierte unter anderem auf einer Modernisierung des Landes. Das war 1979. Heute, 40 Jahre später, behauptet der Kronprinz, mit seiner Agenda ähnliche Ziele zu verfolgen. Ist erneut mit Widerstand zu rechnen?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Kronprinz Muhammad Bin Salman geht den Modernisierungsprozess ja wie eine Schocktherapie an – ein Routine- und Tabubruch. Ich finde es sehr positiv und intelligent, dass er selbst an der Speerspitze dieses Wandels steht. Letztlich verleiht das dem Modernisierungsprozess die notwendige Legitimität. Und ein Ereignis wie 1979? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich so was wiederholt. Die Juhayman-Gruppe hatte ja den Überraschungseffekt auf ihrer Seite – niemand hatte damit gerechnet, dass eine Moschee Ziel eines Angriffs werden könnte.
»Gedenkstätten sind für uns ein fremdes Konzept. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, eine faktische Grundlage zu schaffen«
Einige saudische Gelehrte lehnten damals zwar die Methode der Juhayman-Gruppe ab, ließen aber durchaus ideologische Überschneidungen erkennen – etwa, als sie an die Terroristen appellierten, wieder in den Schoß der »Umma« zurückzukehren, und in einer Fatwa dekretierten, dass in der Großen Moschee kein Blut vergossen werden dürfe – und so eine Stürmung durch das saudische Königshaus verzögerten.
Die Fatwa sollte Blutvergießen verhindern, aber sie war eben auch Ausdruck dieser extremen Angst, das konservative Spektrum der Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen. In diesem Verhalten manifestierte sich der Irrweg der Regierung am deutlichsten. Sie handelte nicht auf Grundlage der nationalen Sicherheit, sondern fügte sich dem Rat der Religionsgelehrten.
Haben Militärfamilien wie Ihre sich vom Staat im Stich gelassen gefühlt?
Man muss sich die konkreten Umstände in diesen Tagen vor Augen halten: Es herrschte pures Chaos. Es war ein heilloses Durcheinander – auch in Fragen der Zuständigkeit. Erst am dritten Tag wurde mein Vater zum Haupteinsatzleiter für die Operation ernannt. Denn es gab ja eine Reihe von Überlegungen, US-amerikanische, französische oder arabische Spezialkräfte heranzuziehen. Grundsätzlich, so berichtete es mir mein Vater später, traute man der eigenen Armee solch einen Einsatz nicht zu.
Wie hat Ihr Vater den Einsatz in der Rückschau bewertet?
Insgesamt positiv – zumindest ab dem Zeitpunkt, ab dem die Operation in professionellen Händen lag. Der Einsatz wurde erfolgreich abgeschlossen – trotz des geringen Vertrauens seitens der Regierung.
Der Titel der Dokumentation über die Besetzung der Großen Moschee lautet »Urknall des Terrors?«. Lässt sich eine direkte Linie von der Juhayman-Gruppe bis zum sogenannten Islamischen Staat (IS) ziehen?
Juhayman Al-Otaiba war nicht besonders gut gebildet – deswegen fällt es mir schwer, hier eine Verbindung zu irgendeinem Gedankengut herzustellen. Aber natürlich gehörte er zu denjenigen, die Religion für ihre Zwecke missbrauchen.
Auf seine Gefährten scheint er dennoch einen beträchtlichen Einfluss ausgeübt zu haben. Würden Sie sich mit den überlebenden Mitgliedern seiner Gruppe zusammensetzen, um zu ergründen, warum sie ihm damals gefolgt sind?
Natürlich – was habe ich denn zu befürchten? Ich glaube, die wissen heute, dass das ein Fehler war. Zumal diese früheren Mitglieder die Gruppe vor der Besetzung der Großen Moschee verlassen hatten – sonst wären sie nicht mehr am Leben, denn gegen alle anderen wurden ja Todesurteile vollstreckt.
Dennoch sprechen viele dieser überlebenden Anhänger noch immer mit Bewunderung über das Charisma von Otaiba. Denken Sie, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit diese Leute über die eigene Radikalisierung in der Jugend kritisch reflektieren lässt?
Selbstverständlich. Es ist doch überall so: Wenn jemand mit rebellischen Gedanken daherkommt, dann ist das anziehend, weil es was Neues ist. Wenn man sich aber mit diesen Leuten austauscht, werden ihre Argumente einem Dialog nicht standhalten – es steckt ja dann doch wenig dahinter. Damit muss man sie konfrontieren.
Welche Bedeutung haben die Ereignisse von 1979 für die Gegenwart?
Die wichtigste Lehre ist die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Denn das ermöglicht es uns, Schlüsse zu ziehen über die Strategien, mit denen den Problemen der Gegenwart begegnet wird. Nicht Juhayman Al-Otaiba war der Ausgangspunkt, der die Zeit danach bestimmt hat, sondern die Art und Weise, wie auf die Besetzung reagiert wurde.
Abdelaziz al-Dhari (46) stammt aus einer Militärfamilie. Bereits sein Großvater kämpfte Seite an Seite mit Staatsgründer Abdulaziz Ibn Saud. Sein Vater, Brigadegeneral Faleh Al-Dhahri (rechts), leitete 1979 den Einsatz der saudischen Armee gegen die Juhayman-Gruppe und sammelte in der Folge Filmaufnahmen des Einsatzes. Seitdem sein Vater an Alzheimer erkrankt ist, verwaltet Abdulaziz Al-Dhahri das Archiv. Teile des Materials waren erstmals in dem Dokumentarfilm »Mekka 1979: Urknall des Terrors?« (Arte/NDR, 2018) von Dirk van den Berg zu sehen. Abdulaziz Al-Dhahri diente ebenfalls in der saudischen Armee, hat sich allerdings aus privaten Gründen in den Ruhestand versetzen lassen.