Für sein Buch »Gestrandet« reiste Tayfun Guttstadt von Istanbul bis nach Diyarbakir. Im Interview berichtet er, unter welchen Bedingungen die vier Millionen syrischen Flüchtlinge leben – und welche Rolle sie für die türkische Innenpolitik spielen.
zenith: Der Titel des Buches suggeriert, dass für die meisten syrischen Geflüchteten die Türkei eine Transitstation ist, ein Ort, an dem sie eher unfreiwillig hängenbleiben…
Tayfun Guttstadt: »Gestrandet« sind die Geflüchteten, weil sie meist nicht die Intention hatten, in die Türkei zu gelangen – es war einfach der nächstgelegene Zufluchtsort. Der Großteil der Flüchtlinge lebt in der Hoffnung, bald zurückzukehren. Andere fühlen sich wohl, weil etwa die Kultur recht ähnlich ist, sie Arbeit oder Freunde gefunden haben. Wieder andere bleiben, weil sie nicht wissen, was sie sonst machen würden. Auch die Angst vor der illegalen Flucht nach Europa oder die Zweifel, ob es dort besser ist, sind Gründe, in der Türkei zu bleiben.
Die überwiegende Mehrheit lebt nicht in den Lagern. Wie ergeht es ihnen in den Städten?
Natürlich bieten die Städte mehr Möglichkeiten. Doch das Risiko der Verarmung ist hoch. Viele Syrer finden sich in Wohnungen wieder, in denen sie mit 30 Personen leben, während sie für Hungerlöhne in der Industrie oder auf dem Bau arbeiten. Und sie müssen sich dann vorwerfen lassen, Türken und Kurden Arbeit und Wohnung wegzunehmen. Wieder andere haben gute Jobs gefunden und leben ein typisches Mittelklasseleben. Auch bereichern die Geflüchteten das Kultur- und Gastronomieleben. Neben Berlin und Gaziantep ist Istanbul eines der Zentren der syrischen Intelligenz und Kunst. Es passiert viel, es sind talentierte Menschen gekommen, die Großartiges erschaffen.
Aufgrund einer Besonderheit des türkischen Asylsystems gilt der Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention nicht für Syrer. Welche Folgen hat das für ihr Leben?
Der Genfer Flüchtlingsstatus gilt in der Türkei nur für europäische Flüchtlinge. Für die Syrer wurde ein Sonderstatus geschaffen, der ihnen offiziell die Nutzung des öffentlichen Gesundheits- und mittlerweile auch des Bildungssystems erlaubt. In der Realität passiert jedoch oft sehr wenig. Manche Ärzte weigern sich, die Geflüchteten zu behandeln, oft gibt gar es keine Schulen oder sonstige Kapazitäten, die versprochenen Rechte auch wirklich anzubieten. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist offiziell sehr beschränkt, aber man sieht, dass dies vielerorts seitens der Behörden kulant gehandhabt wird.
Wird das Thema von der türkischen Gesellschaft ähnlich emotional aufgeladen diskutiert wie in Deutschland?
Vor allem bei nationalistischen AKP-Gegnern ist diese Ansicht verbreitet, die Syrer würden auf Kosten der Bürger in Saus und Braus leben. Die lautesten Befürworter hingegen sind erfüllt von religiösem Pathos, bei dem die Bedürfnisse und Interessen der Geflüchteten wiederum kaum eine Rolle spielen. Sehr wenige Akteure in der Türkei erkennen, dass die Geflüchteten die gleichen Rechte verdienen wie jeder andere Mensch auch.
Quote:
Die AKP tut alles dafür, sunnitische Geflüchtete in ihr Gesellschaftsmodell einzupassen Was bringt das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei?
Es ist ein Versuch zweier Parteien, mit minimalem Einsatz beziehungsweise zu maximalem Eigenvorteil ein Problem aus der Welt zu schaffen – in einer Mischung aus Bequemlichkeit und Überforderung und in Leugnung aller Realitäten.
Was tut die türkische Regierung für die Integration der Flüchtlinge?
Es gibt kein erkennbares Integrationskonzept. Notlösungen prägen die Situation. Immer unter der Annahme, dass man nur kurz ein paar »Gäste« versorgen müsse, weil Assad ja sowieso morgen oder übermorgen falle. Es gibt keine Partei, die sich der Rechte der Geflüchteten auf ehrliche Weise annimmt. Die AKP verwendet eine romantisierende Rhetorik, die ihre politische Instrumentalisierung, vor allem in der Innen- und EU-Politik, kaum verdeckt. Das Thema der Einbürgerung ist deshalb brisant, weil die AKP alles dafür tut, die mehrheitlich sunnitischen Geflüchteten – Nicht-Sunniten kommen nur ungern in die Türkei – in ihr Gesellschaftsmodell einzupassen. Die vor Assad geflohenen Syrer spielen das Spiel teilweise mit und sehen in Erdoğan nicht selten ihren Retter.
Vor allem seit dem Putschversuch ist die Türkei politisch und gesellschaftlich extrem instabil. Wie gehen die Geflüchteten damit um?
Manche überhören oft ganz bewusst alle Nachrichten aus der Türkei. Andere flüchten sich in Zynismus und sehen Erdogan als den nächsten Assad. Viele verfolgen die Entwicklungen genau, aber meist mit dem Fokus auf die Lage in Syrien und die eigene Volksgruppe. Wie sehr Erdogan der Türkei in den letzten Jahren geschadet hat, und dass seine Interessen in Syrien keineswegs selbstlos sind, übersehen sie dabei oft. Dadurch schreiben sie ihm mehr politische Verdienste zu, als ihm zusteht.
Sie zeichnen in Ihrem Buch ein heterogenes Bild der syrischen Geflüchteten. Wie kann man dazu beitragen, dass diese Vielfalt und die Perspektive der Geflüchteten stärker wahrgenommen werden?
Mit den Menschen reden. Offen, ohne Vorurteile, aber auch ohne Samthandschuhe. Dem Gegenüber klarmachen, dass man echtes Interesse hat und doch Spielraum zulassen, falls jemand sich zu einer Sache nicht äußern will. Man sollte sich zudem klarmachen, dass Syrien ein extrem gemischtes Land war, was Ethnien und Konfessionen aber auch Weltanschauungen angeht.
Tayfun Guttstadt
ist in Hamburg geboren und aufgewachsen und hat dort Islamwissenschaft studiert. Er lebte vier Jahre in der Türkei und war u.a. in der dortigen Umweltschutzbewegung politisch aktiv. Inzwischen ist er nach Berlin gezogen.
Gestrandet. Geflüchtete zwischen Syrien und Europa
Eine Reportage aus der Türkei
Tayfun Guttstadt
Unrast Verlag, 2016
244 Seiten, 16 Euro