Ibrahim Hamidi reiste mit den Assads durch Europa und saß in Damaskus im Gefängnis.
Als Journalist in einem Land wie Syrien ist es schwierig, am eigenen Beruf und dessen Grundsätzen festzuhalten. Es gibt genau eine Erzählung: die Erzählung des Regimes. Egal, ob man selbst von dieser überzeugt ist oder nicht, man muss sich ihr unterordnen. Journalisten stehen in der ersten Reihe, wenn es darum geht, die Erzählung der Herrschenden zu vermitteln.
Während meiner mehr als zwanzigjährigen Tätigkeit als Reporter für die Zeitung Al-Hayat in Damaskus bemühte ich mich stets, die Erzählung der Regierung in aller Genauigkeit wiederzugeben. Gleichzeitig versuchte ich, die Vielfältigkeit der syrischen Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur darzustellen. Es war gefährlich, die Buntheit Syriens aufzuzeigen – in diesem Land gibt es nur eine Farbe, nur eine Geschichte, nur eine Partei, nur einen Herrscher.
Meine Versuche kosteten mich viel: Ich saß sechs Monate in Gefängnissen ein, stand weitere sechs Monate unter Hausarrest. Sieben Mal entzog mir die Regierung meine journalistische Lizenz. All dies, obwohl ich nicht einmal zur Opposition gehörte. Im Laufe dieser zwanzig Jahre baute ich professionelle und persönliche Beziehungen zu den meisten syrischen Offiziellen auf, führte mehrere Interviews mit Präsident Baschar Al-Assad und reiste mit ihm nach Europa sowie in die Nachbarländer – ich wollte diese Besuche möglichst farbenfroh erklären.
Wenn ich zu Pressekonferenzen des Regimes ging, wich ich den Kameras aus und stellte auch keine Fragen.
In diesen zwanzig Jahren lernte ich sowohl den Palast als auch das Gefängnis kennen. 2011 bekam meine Geschichte eine neue Dimension. Erst dann wurde mir klar, wie komplex die Aufgabe eines objektiven Journalisten ist, der täglich über die Geschehnisse im Land berichtet. Auch ein Journalist ist nichts anderes als ein verletzlicher Mensch voller Emotionen, ein Wesen, das im Wettlauf gegen die Zeit täglich eine Geschichte erzählt.
Eines Tages im Jahr 2012 standen plötzlich Dutzende Demonstranten vor dem Al-Hayat-Büro in Damaskus. Sie schwenkten Hizbullah-Flaggen und hielten Bilder von Präsident Assad hoch. Einige versuchten, die Eingangstür einzutreten, weshalb ich sofort zur Evakuierung des Gebäudes aufrief. Als ich Regierungsvertreter nach dem Grund der Proteste fragte, antworteten sie nur: »Wir können doch nicht einfach Pro-Regime-Demonstrationen verbieten.«
Zu dieser Zeit wurden Anti-Regime-Demonstrationen nicht nur verboten, sondern mit aller Härte durch Sicherheitskräfte und Armee niedergeschlagen. Keiner der von mir kontaktierten Beamten verhinderte die gewaltsamen Proteste vor unserem Büro. Die Demonstranten stürmten das Haus. Wir bekamen schreckliche Angst, und der Staat beschützte uns nicht.
An einem anderen Tag wohnte ich einer Pressekonferenz von Außenminister Walid Al-Muallim bei, die live im Staatsfernsehen übertragen wurden. Am nächsten Morgen rief mich meine Familie aus der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens an. Sie erzählten, in meiner Heimatstadt würden Flugblätter verbreitet, in denen ich als »Agent des Regimes« denunziert werde – weil ich an einer Pressekonferenz teilgenommen habe. Die Arbeit als Journalist wurde immer schwieriger: Wenn ich zu Pressekonferenzen des Regimes ging, wich ich den Kameras aus und stellte auch keine Fragen. Andererseits vermied ich es immer wieder, über Oppositionsaktionen oder Angriffe des Regimes auf friedliche Demonstrationen zu schreiben.
Mehr als einmal sagte Präsident Assad: »Es gibt keinen Platz für graue Menschen«. Entweder ihr seid für uns oder gegen uns.
Das fiel mir nicht leicht. Ein Journalist sollte zuallererst der Sprecher des Lesers sein. Er ist derjenige, der den Anliegen und Fragen der Menschen eine Stimme gibt, indem er sie bei Konferenzen zur Sprache bringt und die Antworten für alle lesbar aufschreibt. Wie kann sich ein solcher Journalist vor Kameralinsen verstecken, um möglichst nirgends aufzutauchen? Wie kann er bewusst Demonstrationen aus dem Weg gehen?
Alle wollten uns auf ihre Seite ziehen. Viele Kollegen wurden deshalb inhaftiert oder sogar getötet, während andere freiwillig ins Exil gingen oder vertrieben wurden. Es könnte so leicht sein, einfach auf einer Seite zu stehen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, auch verschiedene Meinungen und Positionen darzustellen. Mehr als einmal sagte Präsident Assad: »Es gibt keinen Platz für graue Menschen«. Entweder ihr seid für uns oder gegen uns.
Anfang des Jahres 2014 reiste ich in die Schweiz, um von der zweiten Genfer Friedenskonferenz zu berichten. 45 Länder sowie regionale und internationale Organisationen waren vertreten. Sie alle kamen zusammen, um über die Zukunft Syriens zu entscheiden und die Konfliktparteien zu einer politischen Lösung zu drängen.
Das Hotel, in dem ich einkehrte, kannte ich. Bereits 14 Jahre zuvor, im Jahr 2000, hatte ich dort übernachtet. Damals hatte ich über ein Treffen des ehemaligen syrischen Präsidenten Hafez Al-Assad mit US-Präsident Bill Clinton berichtet. Sie wollten über die Zukunft der Region und einen israelisch-syrischen Friedensprozess entscheiden. Wäre damals ein Friedensabkommen unterzeichnet worden, würden wir heute auf ein anderes Syrien schauen – die ganze Region sähe anders aus.
Journalisten der New York Times oder des Wall Street Journals können versuchen, objektiv zu sein. Von einem syrischen Journalisten kann man das nur schwerlich erwarten.
Damals war die Dolmetscherin Buthaina Shaaban dabei, sie übersetzte die Gespräche zwischen Assad und Clinton. Nun, so viele Jahre später und gefühlt in einer anderen Welt, traf ich sie wieder in Genf – diesmal verhandelte sie mit der syrischen Opposition als offizielle Vertreterin des Regimes. Diese Reisen in die Schweiz wurden für mich zum Sinnbild der Verwandlung Syriens. Ein Land, das vom Spieler zum Spielfeld wurde. Vom Mitgestalter regionaler Politik zum internationalen Spielfeld, dessen Zukunft von anderen ausgehandelt wird.
Journalisten der New York Times oder des Wall Street Journals können versuchen, objektiv zu sein. Von einem syrischen Journalisten kann man das nur schwerlich erwarten. Wer schreibt schon objektiv, wenn die eigenen Familienmitglieder auf vielleicht sogar unterschiedlichen Seiten kämpfen? Wer kann schon mit einem kühlen, analytischen Kopf über die Mörder des Bruder oder Freundes sprechen?
In den 1990ern fiel es mir leicht, über die palästinensischen, irakischen oder libanesischen Krisen zu berichten. Ich traf Verantwortliche und Beteiligte unterschiedlicher Seiten und schrieb schlicht Artikel, die verschiedene Positionen widerspiegelten und möglichst gut die Fakten präsentierten. Seit 2011 schreibe ich über mich selbst, über meine Familie, meine Freunde. Stets sah ich die Gesichter meiner Lieben auf dem Notizblock oder dem Computerbildschirm – und fand einfach keinen Anfang.
Ein ganzes Jahr lang konnte ich nicht schreiben, bis ich Anfang 2013 ins Exil nach London ging. In dieser Zeit widerstand ich der Versuchung, selbst in die Politik zu gehen. Viele Syrer gaben ihren Job auf, um sich dem bewaffneten Kampf oder politischem Aktivismus – für oder gegen das Regime – zu verschreiben. Nach reiflichen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, allen Gefahren und Versuchungen zu trotzen, und weiterhin meinen Beruf auszuüben: Journalismus, getränkt in Qualen und Schmerzen.
Soft Power ist nett, aber Hard Power entscheidet den Krieg.
Anfang 2011 wehte der Wind des Arabischen Frühlings und erweckte viele Träume zum Leben. Viele verglichen diese Zeit mit den Veränderungen in Osteuropa Ende der 1980er Jahre. Wie damals träumten die Menschen auch 2011 vom demokratischen Übergang. Diesmal hingegen spielten die Sozialen Medien eine großen Rolle, von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien.
Anfangs hieß es: Das Hama-Massaker kann sich nicht wiederholen, solange es Youtube, Facebook und Twitter gibt. Die internationale Gemeinschaft würde es in Zeiten der Sozialen Medien nicht erneut dulden, wenn das Regime Zehntausende im eigenen Land niedermetzelt.
Die letzten zehn Jahre haben uns das Gegenteil gelehrt. Die Macht von Facebook und Co. entpuppte sich als Schimäre. Neue Wege der medialen Kommunikation stehen nicht nur der Opposition und ihren Anhängern, sondern auch dem Regime und all seinen Verbündeten zur Verfügung. Anfänglich erlaubte das Regime diese neuen Plattformen sogar – Anfang 2011 hoben die Behörden ein Facebook-Verbot auf.
Als aus den friedlichen Protesten ein militärischer Konflikt wurde, spielten die Sozialen Medien keine große Rolle mehr. Soft Power ist nett, aber Hard Power entscheidet den Krieg. Obwohl Kameras dabei waren, als Raketen vom Himmel stürzten, als Fassbomben wie lauter Regen auf die Menschen niederprasselten. Obwohl die UN mehrere Berichte über den wiederholten Einsatz chemischer Waffen gegen die syrische Bevölkerung veröffentlichte – nicht zuletzt über den C-Waffen-Einsatz in Ghouta im Sommer 2013.
Früher mussten wir um jedes offizielle Zitat kämpfen, das wir in Texten verwenden wollten. Wir nutzten die volle Klaviatur der Sprache, um Zensurverbote geschickt zu umgehen.
Zweifellos waren die Sozialen Medien zu Beginn der Proteste relevant, doch gleichzeitig schafften sie Illusionen. Menschen mit ähnlichen Meinungen befreundeten sich online. Alle umgaben sich mit Usern, die vielleicht andere Dinge posteten oder andere Worte fanden, aber im Kern die gleiche Sache verteidigten. So verwandelten sich Wünsche in den Köpfen der Menschen bereits zu vollendeten Tatsachen, während objektive Analysen ihre Stellung verloren und von manchen sogar verteufelt wurden. Irgendwann traf das Wunschdenken auf die Wirklichkeit – dass das Regime sich hielt, hinterließ bittere Enttäuschung und Frustration.
Nicht nur die Menschen lebten in ihren Blase, sondern auch die großen Medien. Wichtige arabische Fernsehsender lebten im Glauben, das Regime würde »morgen« fallen. Während die Kanäle des Regimes so taten, als wäre in Syrien alles wie immer. Als ich 2012 für einige Tage Beirut besuchte und dort den Fernseher einschaltete, bekam ich das Gefühl, in ganz Damaskus seien plötzlich Kämpfe ausgebrochen. Ich traute mich kaum, dorthin zurückzukehren. Natürlich stimmte das nicht. Wenn ich hingegen in meiner Wohnung in Damaskus saß und Staatsfernsehen schaute, fühlte ich mich, als sei ich wieder im Jahr 2010. Die Maschinengewehrsalven und dröhnenden Granatenexplosionen aus benachbarten Stadtteilen wirkten wie ein Actionfilm im Wohnzimmer der Nachbarn.
Wie schafft es ein Journalist, in dieser Welt nicht unterzugehen? In den 1990ern diktierte ich den Londoner Kollegen die Nachrichten noch durch das Telefon. Welch große Errungenschaft die Faxgeräte waren, die wir irgendwann auf Erlaubnis des Informationsministeriums installieren durften. Allerdings musste ich an meinem auch ein Abfanggerät des Geheimdienstes anbringen, damit alle ein- und ausgehenden Nachrichten mitgelesen werden konnten.
Heutzutage liegen alle Information in Reichweite. Die Ära des traditionellen Journalismus ist vorbei. Früher mussten wir um jedes offizielle Zitat kämpfen, das wir in Texten verwenden wollten. Wir nutzten die volle Klaviatur der Sprache, um Zensurverbote geschickt zu umgehen. Inzwischen sitzen »Bürgerjournalisten« nur wenige Meter entfernt und schreiben, was auch immer sie wollen. Schlagzeilen wie »Die Menschen wollen die Hinrichtung des Präsidenten«. Eine neue Generation von Informationsaktivisten ist entstanden, die sich nicht mehr an »rote Linien« halten muss.
Syrien, wie wir es kennen, existiert nicht mehr, weder politisch noch medial. Eine neue Generation junger Medienmacher gedeiht im Exil und betreibt neue Zeitungen und digitale Nachrichtenportale.
Eine Generation, die sich das Leben im alten Regime nicht einmal vorstellen kann. Eine Generation, die sich nicht ständig auf einem Feld voller explosiver Minen bewegen muss. Aktivisten, die ihre eigenen politischen Positionen propagieren, unterscheiden sich jedoch ganz grundlegend von Journalisten, die ihre Pflicht tun, indem sie Bilder zeichnen, die der Realität möglichst nahe kommen. Für Journalisten wurde die Arbeit angesichts des enormen Informationsflusses und der vielen politischen Agenden immer schwieriger – wie lassen sich in diesem Umfeld Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen?
Auf jeden Fall hat sich die Diskurshoheit des Regimes aufgelöst – heute ist Syrien in drei Einflussbereiche unterteilt. Den Nordosten mit seiner De-Facto-Hauptstadt Qamischli, den die kurdisch-arabischen »Syrischen Demokratischen Kräfte« mit amerikanischer Unterstützung kontrollieren. Das türkisch dominierte Gebiet rund um Idlib. Sowie die Gebiete, die das Regime mit iranischer und russischer Unterstützung hält.
Diese Spaltung spiegelt sich auch im medialen Diskurs wider. Die Kriegsparteien haben Mauern zwischen ihren jeweiligen Erzählungen errichtet. Daher habe ich ein Projekt namens »Syrischer Salon« ins Leben gerufen. Ich möchte Journalisten aus Damaskus, Qamischli und Idlib zu gemeinsamen Schulungen und Workshops einladen. Im August 2020 trafen sich so erstmals seit 2011 Journalisten aus allen Teilen des Landes per Videokonferenz, um sich über Berufsethik im Kriegsjournalismus auszutauschen.
Syrien, wie wir es kennen, existiert nicht mehr, weder politisch noch medial. Eine neue Generation junger Medienmacher gedeiht im Exil und betreibt neue Zeitungen und digitale Nachrichtenportale. Währenddessen versucht das Regime, die Mauern der Angst in den von ihm kontrollierten Gebieten erneut hochzuziehen. Nachdem es die territoriale Kontrolle zurückerobern konnte, begehrt es vermutlich nichts so sehr wie die absolute Hoheit über den medialen Diskurs.
Deshalb zensiert Assad mit aller Strenge. Das jüngste Beispiel hierfür ist der Umgang mit der Corona-Pandemie: Berichte weisen auf die Ausbreitung des Virus in Damaskus und allen Regimegebieten hin. Laut Regierungsangaben hat das Virus weite Teile des Landes jedoch noch gar nicht erreicht. Übersetzung: Aus dem Arabischen von Michael Nuding
Ibrahim Hamidi, geboren 1969 in Idlib, ist Außenpolitik-Redakteur der Tageszeitung Asharq al-Awsat mit Sitz in London. Vorher arbeite er 22 Jahre lang in Damaskus als Bürochef für die Zeitung Al-Hayat und den Libanesischen Fernsehsender LBC. Er ist zudem Berater für das Syrien-Programm des Thinktanks Middle East Institute in Washington.