Muslimische Religionskritiker werden lauter. Man wirft ihnen vor, sie bekämen Beifall von der falschen Seite. Es ist dennoch gut, dass es sie gibt.
Die sogenannte Islamkritik galt in Deutschland lange als Domäne älterer Damen und Herren, die von den behaupteten Zumutungen einer Einwanderungsgesellschaft überfordert waren. Autorinnen und Autoren mit muslimischen Wurzeln erfüllten für diese Gruppe die Funktion von Kronzeugen, die nach Bedarf aufgerufen und gerne selektiv zitiert wurden, um bereits bestehende Vorurteile zu bestätigen.
Vor diesem Hintergrund beäugte das liberale, toleranzbewusste Feuilleton die religionskritischen Anwandlungen muslimischer Autorinnen und Autoren nicht selten mit großer Skepsis: Ihre Beiträge galten schnell als »unausgewogen« und »polemisch«, Beifall »von der falschen Seite« bereits als Ausweis unlauterer Gesinnung.
Ungeachtet dieser weit verbreiteten Befindlichkeiten ist die öffentliche Kritik an religiösen Autoritäten, Traditionen und Dogmen unter deutschen Musliminnen und Muslimen in den letzten Jahren lauter geworden. Es wäre Zeit, einen unbefangenen Blick auf die neuen Religionskritiker und ihre Themen und Anliegen zu werfen.
Dabei handelt es sich – das sei gleich vorausgeschickt – keinesfalls um ein homogenes Feld desillusionierter Ex-Muslime, die durch eine zur Schau gestellte Distanzierung vom Islam um die Gunst der deutschen Mehrheitsgesellschaft buhlen. Der Begriff »Islamkritik« weckt hier falsche Assoziationen. Die Wege zur Religionskritik sind individuell höchst verschieden, ebenso wie ihre Mittel und Ziele.
Dies beginnt schon damit, wie Religionskritiker ihr eigenes Verhältnis zum Islam definieren: Ahmad Mansour, der mit dem Buch »Generation Allah« (2015) bekannt wurde, bezeichnet sich als liberaler Muslim. Sineb El Masrar, die Autorin von »Muslim Girls« (2010) und »Emanzipation im Islam« (2016), präsentiert sich als Feministin und Muslimin.
Ein ungleiches Duo bilden der Agnostiker Hamed Abdel-Samad und der Theologieprofessor Mouhanad Khorchide
Ein ungleiches Duo bilden der Agnostiker Hamed Abdel-Samad und der Theologieprofessor Mouhanad Khorchide, die sich mündlich und schriftlich mehrere interessante Streitgespräche geliefert haben, darunter »Ist der Islam noch zu retten?« (2017). Während Khorchide eine modernistische Reformtheologie vertritt und den Traditionalisten und Konservativen nichts weniger als einen »Verrat am Islam« vorwirft (»Gottes falsche Anwälte«, 2020), hat Abdel-Samad dem islamischen Glauben längst in aller Öffentlichkeit den Rücken gekehrt (»Mein Abschied vom Himmel«, 2009; »Mohamed. Eine Abrechnung«, 2015).
Murat Kayman hingegen, der Autor von »Wo der Weg zur Gewalt beginnt« (2021), bezeichnet sich – in einem bewussten Akt der Unterlaufung klischeehafter Fremdzuschreibungen – als »strenggläubigen« Muslim. Der Titel von Amed Sherwans Buch »Kafir. Allah sei Dank bin ich Atheist« (2020) spricht ohnehin für sich.
Welchen Sinn macht es – könnte man fragen – derart unterschiedliche Standpunkte unter dem Stichwort »Religionskritik« zusammenzufassen? Zwei Gemeinsamkeiten stechen hervor: Es sind einerseits die Sorge um gegenwärtige Trends im globalen Islam – zum Beispiel Salafismus und Dschihadismus –, verbunden mit einer durchaus virulenten Abneigung gegenüber den konservativen Islamverbänden in Deutschland, andererseits die Suche nach einem intellektuell und ethisch konsequenten Standpunkt.
Diese Suche führt unvermeidlich dazu, gängige religiöse Haltungen und Überzeugungen – auch solche, die keineswegs unbedingt mit einer extremistischen Gesinnung einhergehen – mit kritischen Nachfragen zu konfrontieren. Wo auch immer religiöse Positionen und Denkmuster zur Rechtfertigung von moralisch fragwürdigen Handlungen und Zuständen dienen können, gehören sie auf den intellektuellen Prüfstand.
Die Themen liegen auf der Hand: Ungleichbehandlung der Geschlechter, repressive Sexualethik, Entmündigung des Individuums, religiöse Rechtfertigung von Gewalt und Zwang, Instrumentalisierung der Religion im Dienst von Nationalismus und Krieg. Kurzum: Es sind die zentralen Themen moderner Religionskritik, ob in Christentum, Judentum oder anderen Religionen, die hier zur Sprache kommen.
Tatsächlich sind die Erwartungen, die an muslimische Religionskritik gerichtet werden bisweilen überzogen
Die hartnäckige Auseinandersetzung mit den Schattenseiten zeitgenössischer muslimischer Gläubigkeit – und ganz bewusst nicht nur oder in erster Linie mit ihren extremistischen Auswüchsen – ruft viele Skeptiker auf den Plan. Leistet eine derart grundsätzliche Religionskritik am Islam nicht – gewollt oder ungewollt – einer gesellschaftlichen Ausgrenzung von Musliminnen und Muslimen Vorschub? Befördert sie rechtspopulistische Narrative einer Nicht-Integrierbarkeit des Islams oder der Muslime ganz allgemein?
Nicht wenige der religionskritischen Autoren sind gefragte Talkshowgäste und Meinungsmacher in den sozialen Medien. Damit sind sie als öffentliche Aktivisten auch Teil von politischen Anerkennungs- und Verteilungskämpfen, niemals nur neutrale Beobachter. Zweifellos scheitern sie dabei auch gelegentlich an der Herausforderung, eine differenzierte Haltung in wenige druckreife Sätze zu verwandeln.
Doch lässt man sich auf eine sorgfältige und auch kritische Lektüre ihrer Bücher ein, findet man einfühlsame und facettenreiche Schilderungen muslimischer Menschen und Lebensentwürfe in der heutigen Welt. Wer daraus eine Abneigung gegen alle Musliminnen und Muslime zieht, hatte sie wohl schon vorher. Fast alle Religionskritiker pflegen einen offenen Umgang mit der eigenen Biografie und erleichtern damit auch eine kritische Einordnung ihrer Sichtweise. Wer versteht, welche Lebenswege und intellektuellen Neigungen zur Religionskritik führen, kann mit ein wenig Fantasie auch nachvollziehen, warum nicht alle Menschen diesen Weg einschlagen.
Tatsächlich sind die Erwartungen, die an muslimische Religionskritik gerichtet werden – von manchen Autoren durchaus auch selbst genährt – bisweilen überzogen. Religionskritik zielt ihrer Natur nach auf das Grundsätzliche. Pragmatische Sofortlösungen für gesellschaftliche und politische Probleme kann sie nicht bieten.
Der Fokus migrantischer Religionskritiker liegt zudem nicht immer nur auf Deutschland
Der Fokus migrantischer Religionskritiker liegt zudem nicht immer nur auf Deutschland. Besonders Migranten der ersten Generation wie Abdel-Samad, Mansour, Khorchide und Sherwan schreiben auch gegen die Tabuisierung des kritischen Nachdenkens um Religion in ihren Herkunftsländern und -milieus an.
Einige mischen sich aktiv in arabisch- und türkischsprachige Debatten in den Sozialen Medien ein, wie etwa Hamed Abdel-Samad, dessen religionskritischer YouTube-Kanal über 100.000 Abonnenten hat und damit zu den populärsten in der gesamten arabischen Welt zählt. Gerade der Aktivismus in den Sozialen Medien führt zu einem hohen Maß an Anfeindungen und Bedrohungen von Seiten konservativer Muslime.
Neigen die muslimischen Religionskritiker auch deshalb zu einem allzu pessimistischen Blick auf die Muslime in Deutschland? Kurzfristig erreicht ihre Kritik bestenfalls eine Minderheit von Zweiflern oder intellektuell Interessierten. Trotzdem – das zeigt die historische Erfahrung mit den christlichen Kirchen – kann sie langfristig folgenreich sein: Autoritäre, wissenschaftsfeindliche, misogyne und sexuell repressive religiöse Strukturen und Denkmuster ändern sich nie von alleine, sondern nur unter Druck von innen und von außen.
Dass sie diesen Wandel ermöglichen und fördern, ist ein wichtiges Kennzeichen offener demokratischer Gesellschaften. Die muslimischen Religionskritiker zeigen, dass diese Errungenschaften im Zeitalter der Migration auch gegen neue Herausforderungen verteidigt werden müssen, die in den Erfahrungswelten des nicht-migrantischen Teils der Gesellschaft gar nicht vorkommen. Bleibt die Frage, ob die Religionskritiker einem Missbrauch ihrer Aussagen zum Zweck der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Musliminnen und Muslimen überzeugend genug entgegentreten. Liefern ihre Beiträge neue Impulse für eine unmissverständlich nicht-rassistische Kritik an islamischen Traditionen und Denkmustern?
Kann es der Gesellschaft gelingen, muslimische Religionskritiker nicht als Kronzeugen gegen den Islam und muslimische Mitbürger zu missbrauchen?
Praktisch alle erwähnten Werke – das mag Freund und Feind überraschen – gehen durchaus explizit und ausführlich auf rassistische Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft ein. Einige unterbreiten sogar konkrete, teilweise auch unbequeme Vorschläge, was sich in der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft ändern sollte. Allerdings weigern sie sich auch einigermaßen hartnäckig dagegen, im mehrheitsgesellschaftlichen Rassismus die primäre Ursache für die als problematisch empfundenen Zustände in migrantischen Milieus zu sehen.
Die ständige Berufung auf einen »Opferstatus« gegenüber der Gesellschaft, die sie bei manchen muslimischen Akteuren ausmachen, ist allen Religionskritikern ein großes Ärgernis. Im Rahmen solcher innermuslimischen Kontroversen geraten muslimische Religionskritiker nicht selten mit den Sprechkonventionen der antirassistischen und orientalismuskritischen Szene in Konflikt, benutzen Begriffe und Argumente, die dort reflexartig als islamophober und rechtspopulistischer Code verbucht werden. Was wiegt schwerer: Das Recht von Musliminnen und Muslimen, ihr eigenes Herkunftsmilieu zu kritisieren, oder das Streben nach einem respektvollen gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten und benachteiligten Gruppen? Und warum muss hier überhaupt ein Gegensatz bestehen?
Kann es der Gesellschaft gelingen, muslimische Religionskritiker nicht als Kronzeugen gegen den Islam und muslimische Mitbürger zu missbrauchen, sondern als Individuen mit einer eigenen Perspektive wahrzunehmen? Kann die nicht-muslimische Öffentlichkeit lernen, die Relevanz religionskritischer Perspektiven anzuerkennen und ihre Argumente kritisch zu prüfen, ohne damit andere muslimische Standpunkte pauschal für ungültig zu erklären? Wenn das gelingt, dann könnten muslimischer Glaube und die kritisch-aufklärerische Auseinandersetzung mit ihm genauso selbstverständlicher Teil der öffentlichen Diskussion sein, wie es beim Christentum längst der Fall ist. Dann wäre der Islam wohl endgültig in Deutschland angekommen.
Dr. Sebastian Elsässer ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Orientalistik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.