Der ferngesteuerte Angriff über mit Sprengstoff präparierte Kommunikationsgeräte stellt die anonymisierte Kriegsführung auf eine neue Stufe. Israel trifft zwar auch die Hizbullah, aber versetzt dabei ein ganzes Land in Panik.
Eine Erinnerung an den 4. August 2020 sind die Sirenen: Ununterbrochen hört man sie am Dienstag und Mittwoch in Beirut, wie auch nach der Hafenexplosion im August vor vier Jahren. Wieder schießen die Zahlen von Toten und Verletzten in kürzester Zeit in die Höhe, wieder erhält man Nachrichten, in welchen Krankenhäusern am dringendsten Blutspenden benötigt werden, wieder schreibt man Freunden, ob alles okay sei. Es hätte ja schließlich sein können, dass auch sie betroffen sind von einer Attacke, die mutmaßlich der Hizbullah galt und auch vor allem sie traf. Die aber dennoch den gesamten Libanon terrorisiert.
Tausende Pager, kleine, nicht zu ortende Kommunikationsinstrumente, explodierten am Dienstag zeitgleich um 15:30 Uhr Ortszeit, verletzten etwa 2.500 Menschen, 300 von ihnen so schwer, dass sie noch immer in Lebensgefahr schweben. Sie töteten 12, zwei von ihnen Kinder im Alter von 9 und 11 Jahren. Kurz vor den Explosionen sendeten die Pager ein sekundenlanges Piepen, sodass die Menschen sie aus ihren Hostentaschen fischten, um nachzusehen. Auch das war wohl Teil des Plans; auf diese Weise sollten die Geräte vor allem Verletzungen am Kopf, an lebenswichtigen Arterien, und an den Augen zufügen. Elias Warrak, Spezialist für Augenheilkunde am Mount-Lebanon-Universitäts-Krankenhaus, sagte am Mittwoch, vielen Patienten sei ein Auge entfernt worden, zahlreichen auch zwei. Nie zuvor in den 25 Jahren seines Wirkens habe er so viele Augen entfernen müssen, es sei der schlimmste Tag seines Lebens gewesen.
Während viele politische Kommentatoren in Deutschland die »Raffinesse« des Mossad bejubeln, erleben die Libanesen wieder einmal ganz real, was es bedeutet, wenn ihr Leben nicht viel gilt, wenn sie als Kollateralschäden hingenommen werden. Wie die kleine Fatima in der südlibanesischen Stadt Saraain, die den piependen Pager zu ihrem Vater bringen wollte, als dieser in ihrer Hand explodierte und sie tötete. Fatima wurde 9 Jahre alt.
Beirut ist nicht allzu groß, die Dahiye kein, wie es in der deutschen Berichterstattung oftmals klingt, Hizbullah-Ghetto, das vom Rest der Stadt abgeschnitten ist, sondern ein ganz normaler Vorort, in dem Menschen ihre Kinder zur Schule schicken, im Supermarkt einkaufen, zum Arzt gehen, Rezepte in der Apotheke einlösen. Und genau das taten die Menschen auch, als ihnen die Geräte ins Gesicht oder in die Hüfte explodierten. Hände, Finger, Augen und Genitalien wegsprengten, Dutzende, die neben ihnen standen, bestenfalls in Panik versetzten, schlimmstenfalls selbst verletzten. Die Menschen verstanden schnell: Das hier kann jeden treffen.
Was ist mit dem eigenen Smartphone, dem Laptop, der Batterie im Motorroller, der Solaranlage auf dem Dach, dem Radio im nächsten Uber?
Vor allem, nachdem am Mittwoch die zweite Runde folgt: Hunderte Walkie-Talkies zerbersten am späten Nachmittag, kurze heftige Explosionen detonieren im Süden Beiruts, in Städten wie Saida und Sur sowie in der nordöstlichen Bekaa-Ebene. Auf Beerdigungen von tags zuvor Getöteten bricht Panik aus, nachdem es mehrere Male kurz hintereinander knallt. Videos zeigen, wie Hizbullah-Mitglieder rasch begreifen, dass es diesmal ihre Funkgeräte sind, die sich als tödliche Waffe gegen sie richten.
Doch Menschen berichten auch von anderen explodierenden Geräten, CB-Radios, Handys, sogar Solaranlagen. Durchs Internet rasen Videos von in Flammen stehenden Autos, dickem Qualm, der aus Wohnungen dringt, auch zerstörten Motorrollern; was genau all das im jeweiligen Fall verursacht hat, ist weiter unklar. Schon von Weitem sieht man auch am Mittwoch wieder den Rauch, der die dicht besiedelte Dahiye umwölkt.
Aber auch anderswo macht sich jetzt Panik breit, mehr noch als am Tag zuvor, schließlich scheint jetzt kein Gerät mehr sicher. Entsetzen in den Gesichtern der Kollegen und Freunde: Was ist mit dem eigenen Smartphone, dem Laptop, der Batterie im Motorroller, der Solaranlage auf dem Dach, dem Radio im nächsten Uber? Man ertappt sich bei Überlegungen, woher die eigenen technischen Geräte stammen, woher die Batterien, in welchen Handyshops man zuletzt was gekauft hat.
Schnell wird am Mittwoch klar: Es handelt sich um weniger Geräte als am Vortag, dafür aber um größere, die entsprechend größere Mengen Sprengstoff beinhalteten und damit noch größeren Schaden verursachten: 25 Tote und rund 600 Verletzte meldete das libanesische Gesundheitsministerium bis Freitagmorgen. Insgesamt also starben bei den Attacken an zwei Tagen 37 Menschen, darunter vier Kinder.
Während Nasrallahs Rede flogen F16-Kampfjets tief über Beirut, durchbrachen die Schallmauer und versetzten die Bürger erneut in Angst und Schrecken
Ebenso rasant wie die Bilder und Videos von Verletzten brennen sich Gerüchte und Theorien durchs Internet. Nur, dass im Allgemeinen Israel und im Speziellen der für spektakuläre Operationen berühmte Auslandsgeheimdienst Mossad hinter den Attacken im Libanon steckt, daran zweifelt eigentlich niemand. Die Frage ist dennoch: Wie konnte das gelingen? Und was kommt jetzt?
Nach neuesten Erkenntnissen der New York Times stammt das genutzte Pager-Modell von einer israelischen Strohfirma, die der Mossad in Ungarn unterhielt, als scheinbares Tochterunternehmen der taiwanischen Firma Gold Apollo. Die sogenannte B.A.C. Consulting übernahm wohl auch einige gewöhnliche Aufträge, wurde aber von israelischen Geheimdienstoffizieren mit dem Ziel betrieben, die Bestellungen der Hizbullah mit dem Sprengsatz PENT zu versehen. Im Februar hatte Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah verkündet, von nun an verstärkt auf Pager setzen zu wollen. Er appellierte an seine Kämpfer, das Smartphone im wahrsten Sinne des Wortes zu begraben: »Legt es in eine eiserne Kiste und verschließt sie.«
Monatelang hatte er beobachtet, wie es Israel gelang, mithilfe von extrem fortschrittlicher Technologie hochrangige Hizbullah-Funktionäre fast auf den Meter genau zu orten und auszuschalten. Der Kritik, die Hizbullah sei von israelischen Spionen und Agenten durchsetzt, begegnete er mit einer Mahnung, die man in Israel genau verstand: »Ihr fragt mich, wo der Agent ist. Ich sage euch, dass das Telefon in euren Händen, in den Händen eurer Frau und in den Händen eurer Kinder der Agent ist.« Die Hizbullah wollte High-Tech mit Schlichtheit bekämpfen, stellte also verstärkt auf Pager um, die, anders als Smartphones, nicht zu orten sind, und die israelische Strohfirma in Ungarn schraubte ihre Produktion nach oben. Die New York Times schreibt von einem modernen Trojanischen Pferd, das Israel geschaffen habe.
Nasrallah nannte das in seiner Ansprache am Donnerstag einen »terroristischen Akt«, ein »Massaker«. Dass von den insgesamt rund 5.000 Geräten, mit denen Israel habe töten wollen, Hunderte sicher verstaut oder ausgeschaltet gewesen seien, habe vielen das Leben gerettet. Während seiner Rede flogen F16-Kampfjets tief über Beirut, durchbrachen die Schallmauer und versetzten die Bürger erneut in Angst und Schrecken.
Krieg auf Knopfdruck schafft mehr Raum für Brutalität, er erweckt den Anschein, »sauber« zu sein und ist doch umso willkürlicher
Bei aller Weitsicht und technischen Brillanz, die in Deutschland jetzt zum Teil gefeiert wird, sollte man sich auch vor Augen führen, was das für die ohnehin anonymisierte Kriegsführung der Zukunft bedeutet. Es reißt Handeln und die Folgen dieses Handelns weiter auseinander, entrückt Täter von Opfern. Krieg auf Knopfdruck schafft mehr Raum für Brutalität, er erweckt den Anschein, »sauber« zu sein und ist doch umso willkürlicher. Für die Opfer macht es die Bedrohung allgegenwärtig: Selbst, wenn das Gerät nicht im eigenen Wohnzimmer liegt, könnte es ja in dem meines Nachbarn, im Auto oder auf dem Roller neben mir sein. So etwas zersetzt eine Gesellschaft, auch eine, die viel gewohnt ist.
Der Großteil der am Dienstag und Mittwoch Getroffenen sind auf irgendeine Weise mit der Hizbullah verbunden. Und trotzdem macht es das nicht so einfach, wie manche in Deutschland es gerne hätten. Die Hizbullah ist nicht nur Miliz, sondern auch Partei, mit Ministern und Abgeordneten. Sie übernimmt im Libanon Aufgaben des Staates, hat eine eigene Infrastruktur geschaffen, zu der Schulen, medizinische Einrichtungen und anderweitige Arbeitsplätze gehören. Auch Menschen, die mit der Hizbullah politisch nicht viel am Hut haben, lassen sich von ihr ein Gehalt zahlen, wenn es sonst schlicht niemand macht.
Innerhalb dieser Infrastruktur verteilte die Hizbullah die Pager ebenso an medizinisches Personal, etwa Ärzte und Rettungssanitäter. Welche Wege die Pager letztlich nahmen, konnte Israel nicht kontrollieren. Ein Video vom Dienstag zeigt einen alten Mann, der in seinem Auto getroffen wurde, blutüberströmt, mit weggesprengten Fingern. Ein anderes eine junge Frau mit zerfetztem Gesicht. Auch, wer zwischen militärischem und politischem Flügel der Gruppe nicht mehr unterscheidet, muss zur Kenntnis nehmen, dass dieser Angriff nicht Menschen an der Front, an der israelisch-libanesischen Grenze, getroffen hat, sondern in ihrem Alltag, in dem um sie herum Tausende andere ebenfalls ihrem Alltag nachgingen.
Hunderte strömten an beiden Tagen zu den überlasteten Krankenhäusern, um Blut zu spenden. Nicht, weil sie notwendigerweise mit der Hizbullah sympathisieren, sondern weil sie sich als Libanesen attackiert fühlen, vom israelischen Nachbarn terrorisiert und weil man sich, wie so oft in der Vergangenheit, in der Not gegenseitig hilft. Das hat man in Abwesenheit eines funktionierenden Staates perfektioniert. Doch selbst der handelte am Dienstag vergleichsweise schnell und setzte für den Kriegsfall entworfene Notfallpläne um. Trotzdem waren die Krankenhäuser bald mit der Ankunft von immer mehr Schwerverletzten überfordert. Auch der Gesundheitssektor im Libanon befindet sich seit fünf Jahren in der Krise, viele Ärzte, gerade Spezialisten auf ihren Gebieten, haben das Land verlassen. Mehrere extrem schwer verletzte Patienten wurden zur Behandlung nach Iran ausgeflogen.
Denkbar ist, dass am ursprünglichen Plan in gewisser Weise trotzdem festgehalten wird – indem die Attacken auch jetzt als Vorbereitung auf einen großangelegten Angriff dienen
Seit Mittwochabend führt die libanesische Armee in Beirut und anderen Landesteilen gezielte Sprengungen von kabellosen Geräten durch und mahnt, nichts, was verdächtig erscheint, anzurühren. Welche Geräte noch betroffen sein könnten, ist das Thema der Stunde. Viele Libanesen glauben jetzt, man sehe gerade nur die Spitze des Eisbergs.
Ursprünglich hatte Israel den Plan wohl für den Kriegsfall entworfen. Im Vorfeld zu Angriffen aus der Luft oder einem Einmarsch sollte die Kommunikation der Hizbullah ge-, wenn nicht zerstört werden. Doch Mitglieder der Miliz waren in den vergangenen Tagen skeptisch geworden, und Israel befürchtete, die Mission könnte enttarnt werden – und zündete die Pager. Denkbar ist, dass am ursprünglichen Plan in gewisser Weise trotzdem festgehalten wird – indem die Attacken auch jetzt als Vorbereitung auf einen großangelegten Angriff dienen.
Das würde auch zur Aussage von Verteidigungsminister Yoav Gallant passen, Israel sei in eine »neue Phase des Krieges« eingetreten, die es erfordere, die Anstrengungen vom Gazastreifen in den Norden zu verlagern. Dazu das neu hervorgehobene Kriegsziel der Rückkehr von Zehntausenden, die aus ihren Häusern an der libanesisch-israelischen Grenze vertrieben wurden. Nach der Rede von Nasrallah flog Israel am Donnerstagabend die schwersten Angriffe auf den Südlibanon seit Beginn des Krieges.
Vorstellbar ist aber auch, dass Aktionen wie diese gar als Ersatz für einen umfassenden konventionellen Krieg dienen könnten und sich damit eher in die Logik der gezielten Drohnen-Tötungen einreihen, die Israel seit elf Monaten im Libanon praktiziert. Die Hizbullah ist unterdessen schwer getroffen. Dutzende ihrer Mitglieder sollen erblindet, für immer kampfunfähig sein. Selbst Nasrallah hat in seiner Rede am Donnerstag zugegeben, welch harter Schlag das für die Gruppe war. Doch hat er auch bekräftigt, dass die Israelis aus dem Norden nur dann in ihre Häuser zurückkehren werden, wenn der Krieg in Gaza endet – und sie sich ansonsten auf einen Kampf einstellen, der Monate und Jahre dauern kann.