Ein präziser Beobachter des Nahen Ostens, der die richtigen Fragen stellte und auf viele davon eine Antwort fand. Ein Sportsfreund, auf den man sich verlassen konnte. Wir trauern um Christoph Sydow, unseren Freund und Kollegen.
Es gibt Menschen, um die man sich nie Sorgen macht. Sie wirken meistens ausgeglichen, entspannt und mit sich selbst im Reinen. Drama oder Wutanfälle sind ihnen ebenso fremd wie Stürme der Begeisterung. Man schätzt sie wert, zählt auf sie und geht davon aus, dass sie immer so bleiben werden, wie sie sind.
Christoph Sydow wurde 1985 im Berliner Stadtteil Lichtenberg geboren. Seine Familie war wahrscheinlich das, was man als DDR-Bildungsbürgertum bezeichnen würde: Der Vater Torsten studierter Indologe und Journalist, die Mutter Karin Pädagogin. Die Familie, in der Christoph mit seinem jüngeren Bruder Jonas aufwuchs, war weltläufig trotz Reisebeschränkungen, belesen, interessiert an anderen Sprachen und Kulturen. Christoph besuchte das Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium, wo solche Werte über die Wendezeit hinaus tradiert wurden und viele Schüler einen erfolgreichen Start im neuen System hinlegen konnten.
Schon in der sechsten oder siebten Klasse glaubten einige seiner Mitschüler zu wissen, welchen Beruf Christoph einmal ergreifen würde. »Er hatte jede Woche den Spiegel unter dem Arm. Und im Gegensatz zu anderen, las er das Heft von der ersten bis zur letzten Seite«, erinnert sich wie auch andere Schulfreunde der Reportage-Fotograf Philipp Spalek, der unter anderem mehrere Jahre in Ägypten tätig war und regelmäßig in zenith veröffentlicht. Ein wandelndes Lexikon sei Christoph gewesen. Im Mathematikunterricht wurde Stadt-Land-Fluss gespielt oder US-Bundesstaaten aufgelistet. Ein »Elefantengedächtnis« hatte er und war daher ein beliebter Mannschaftskamerad beim Kneipen-Quiz, das er und seine Freunde leidenschaftlich gerne spielten. Selbst auf Fragen wie »Welche Werbung stand auf jener Tonne, in die Jürgen Klinsmann 1997 vor Wut während einer Bundesliga-Partie trat?« wusste er die richtige Antwort – und zwang damit sogar den Quiz-Veranstalter zu einer Korrektur.
Neben Geschichte und internationaler Politik zählten Sport und Sportergebnisse zu seinen Fachgebieten. Auf den ersten Blick befremdlich für manche Zeitgenossen diesseits des Kanals mochte sein theoretisches Interesse an Cricket sein. Aber es war wohl das ideale Thema, um Kolonialgeschichte, Weltkultur, Strategie und Sport miteinander zu verbinden.
Christoph war Mitgründer einer eigenen Fußballmannschaft im Stadtteil Friedrichshain. Warum er als Berliner dem SV Werder Bremen anhing, wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben. Aktiv spielte er Hockey, die Intellektuelle unter den Ballsportarten. Christoph hielt den Kasten sauber und platzierte, anstatt nach vorn zu stürmen, Pässe aus dem Hintergrund. Beim Hockey lernte er auch Juliane kennen. Sie heirateten einige Jahre später in einer rauschenden Silvesternacht, bekamen erst eine gemeinsame Tochter und dann einen Sohn.
Christoph interessierte sich nicht nur für die Akteure der großen Politik, sondern auch für die sozialen Dimensionen
Vor dem 11. September 2001 waren die meisten deutschen Islamwissenschaftler wohl eher zufällig bei ihrem Fach gelandet: Weil sie den Numerus clausus verpasst hatten, eine exotische Sprache wie Arabisch lernen wollten, sich mit ihrer eigenen Migrationsgeschichte befassen wollten oder einfach unglücklich verliebt waren. Christoph wusste hingegen offenbar schon zu Beginn der Oberstufenzeit, dass er die Kultur und Geschichte des Vorderen Orients studieren wollte. Er gehörte einer Generation von Nahost-Studenten an, für die das Fach gewissermaßen schon seine Unschuld eingebüßt hatte.
Terrorismus, globale Sicherheit, Islamfeindlichkeit, der Nahostkonflikt und die blutige Zweite Intifada nach dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses – das alles schwang mit, wenn Christoph unter anderem mit seinem Schulfreund Robert Chatterjee, heute Stellvertretender Chefredakteur von zenith, nach Berlin Dahlem fuhr, um Vorlesungen zur Geschichte des Abbasidenreichs oder zur Einführung in die Philosophie des Sufismus anzuhören.
Die Zustände im Nahen Osten gönnten sich keine Verschnaufpausen. Christoph begeisterte sich für den Libanon – das vielsprachige, lebensfrohe und multireligiöse Land ist bis heute die Einstiegsdroge aller Orientalisten. Für den März 2005 hatten er und Robert von langer Hand einen mehrwöchigen Studienaufenthalt im Libanon geplant.
Sie gerieten dabei mitten in die Wirren eines Ereignisses, das die Geschichte der Region veränderte. An einem freundlichen Februartag des Jahres 2005 riss ein rund 2,5 Tonnen schwerer Sprengsatz Libanons Premier Rafiq al-Hariri gemeinsam mit 22 anderen Menschen in den Tod. Der Verdacht fiel auf die Hizbullah und das Assad-Regime in Damaskus; nach Protesten und großem internationalem Druck verließ die syrische Besatzungsmacht schließlich das Land.
Ähnlich wie die Macher von zenith, die das Magazin 1999 gegründet hatten, sah Christoph die Berichterstattung über den Nahen Osten und Nordafrika in den deutschen Leitmedien damals eher kritisch. Zu wenig Schattierungen, zu wenig fachkundig und differenziert. Vor allem wollte er sein erworbenes Wissen zur Anwendung bringen. 2005 gründeten Christoph, Robert und ihr Studienfreund Christoph Dinkelaker den Blog Alsharq (Arabisch für »Der Osten«).
Um das Jahr 2008, als zenith das erste Büro in Berlin eröffnen konnte, stießen die drei »Sharqisten« dazu. Robert absolvierte ein Volontariat und wurde später Mitglied der Chefredaktion. Christoph wirkte ab 2009 – großenteils ehrenamtlich – als Redakteur und deckte ein breites Spektrum politischer Themen ab. Er verfasste in oft kurzer Zeit präzise Analysen. Er war kein geborener Reporter, sondern Innendienstler im besten Sinn. Ein Analyst, der sich erfolgreich darin übte, woran die meisten Menschen scheitern: Zusammenhänge und letztendlich manchmal auch einen Sinn aus jenen Nachrichten zu lesen, die der Nahe Osten täglich produziert.
Christoph, so erinnern sich seine damaligen Mitstreiter, interessierte sich nicht nur für die Akteure der großen Politik, sondern auch für die sozialen Dimensionen der Ereignisse in Nahost. »Als die syrischen Besatzer nach dem Mord an Hariri zum Abzug gedrängt wurden, fragte er: Was bedeutet das eigentlich für die tausenden syrischen Gastarbeiter im Libanon?« erinnert sich Robert. Christoph stellte oft die richtigen Fragen. Sein Interesse an den sozialen und sozioökonomischen Hintergründen und der wachsenden Bedeutung der Sozialen Medien machten ihn nicht nur zu einer verlässlichen Größe im zenith-Team, sondern rüstete ihn auch bestens für die nächste weltpolitische Zäsur.
2011, als in Tunesien, Ägypten und anderen Staaten der arabischen Welt Massenproteste in den Arabischen Frühling mündeten, rüsteten die großen deutschen Medien personell auf. Man brauchte mehr Kolleginnen und Kollegen mit Nahost-Fachwissen. Florian Harms, damals Stellvertetender Chefredakteur von Spiegel Online und selbst studierter Islamwissenschaftler, holte Christoph als Volontär nach Hamburg. Ab 2013 war Christoph dort als Auslandsredakteur tätig. Er blieb zenith aber weiter verbunden und betreute unter anderem die Seite »Netzgeflüster« zu digitalen Themen und sozialen Medien in der arabisch-muslimischen Welt.
Aus dem interdisziplinären Freundeskreis um die Sharqisten entstand die Agentur Alsharq-Reisen, die seitdem sehr erfolgreich politische Studien- und Erlebnisreisen in den Nahen Osten veranstaltet. Christoph begleitete selbst einige Reisen und führte unter anderem durch das politische Ägypten. Der von den Sharqisten gegründete Blog wurde von einer neuen Generation von Studierenden übernommen und heißt heute Dis:orient.
Er blieb cool, aber nicht gleichgültig bei Kritik im Journalismus
Wer täglich über Islam-Themen, Syrien oder den Nahostkonflikt publiziert, gerät unweigerlich ins Kreuzfeuer irgendeiner Kritik. Die Region ist in jeder Hinsicht umkämpftes Territorium, auch was die Narrative anbelangt. Es wäre falsch zu sagen, dass diese oft polemisch geführten Auseinandersetzungen Christoph unberührt gelassen hätten. Er blieb cool, war aber alles andere als kritikunfähig. Er ging sportlich und uneitel damit um. Sein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und sein Bedürfnis, immer den großen Kontext zu betrachten, standen über den inneren Befindlichkeiten, die besonders die deutsche Israel- oder Nahost-Debatte prägen.
Ende Januar 2020 sprachen Christoph, Robert und ich gemeinsam bei einer Veranstaltung des zenith-Club darüber, was das Jahr für uns als Medien und für das Gebiet unserer Berichterstattung wohl noch bereithält. Eine militärische Eskalation zwischen den USA und Iran bereitete ihm weniger Sorge; eher die ebenso dramatischen wie vermeidbaren Folgen des Klimawandels für die Region. Auch hier schaute Christoph über Schlagzeilen und Tagesaktualität hinaus. Es war das letzte Mal, dass wir uns begegneten.
Am Pfingstmontag, den 1. Juni 2020, schied Christoph freiwillig aus dem Leben. Er wurde 35 Jahre alt.
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