Zeitigen die Proteste im Irak ein Comeback der Linken oder die Geburt einer neuen Jugendbewegung? Ein Veteran der Kommunistischen Partei und eine Ikone der Protestwelle erzählen Irak-Expertin Inna Rudolf in Bagdad, warum sie auf die Straße gehen.
Alt und Jung zieht es seit Anfang Oktober auf Iraks Straßen und die Plätze in den Innenstädten. Für einen ist die jüngste Welle von Demonstrationen Teil eines jahrzehntelangen Kampfes gegen Ungerechtigkeit. Andere sehen sich als Vertreter einer neuen Generation und wollen sich nicht vereinnahmen lassen – insbesondere nicht von den politischen Parteien im Land.
Insbesondere viele junge Frauen haben sich den Protesten angeschlossen und nehmen dort eine führende Rolle ein. Rua'a Khalaf ist eine von ihnen – und ist dank der rasanten Verbreitung von Bildern und Videos in den sozialen Medien zu einer der Protestikonen avanciert. Doch schon bevor sie nun landesweit bekannt wurde, stand Rua'a Khalaf für eine neue Form der Zivilgesellschaft: Die 31-Jährige Wirtschaftsstudentin und Buchhalterin engagiert sich seit Jahren im »Frauengewerkschaftsforum«, einer neu gegründeten Organisation, die sich als Gegengewicht zur männlich dominierten Gewerkschaftslandschaft im Irak sieht und sich für die Rechte von Frauen am Arbeitsplatz einsetzt, insbesondere der unter 35-Jährigen. Obwohl Rua'a Khalaf Sympathien mit den Zielen der Kommunistischen Partei zum Ausdruck bringt, legt sie Wert darauf, außerhalb der traditionellen Parteimaschinerie auf Veränderungen zu drängen.
Jassim al-Hilfi hingegen ist langjähriges Politbüro-Mitglied der Irakischen Kommunistischen Partei und hat schon viele Protestmärsche in den Beinen. Nach den letzten Wahlen im Mai 2018 trat seine Partei der Sa'airun-Allianz bei – die damit auch entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung spielte. Al-Hilfi selbst spielte eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung des politischen Bündnisses, dem auch der Istiqama-Block des schiitischen Predigers Muqtada Al-Sadr angehört. Zugleich unterstützt er öffentlich die Forderungen der Demonstranten.
Rua'a Khalaf: »Eine Mahnung an alle künftigen Regierungen«
Mein Name ist Rua'a Khalaf. Ich lebe in Bagdad und komme aus einem kommunistischen Elternhaus. Ich habe also etwas mitbekommen, was jeder mit solch einem familiären Hintergrund erbt – einen freien und revolutionären Geist. Ich wurde erzogen, mich gegen Unterdrückung aufzulehnen und für soziale Gerechtigkeit einzutreten.
Ich glaube nicht, dass bei den Protesten irgendjemand die Fäden zieht oder die Demonstrationen von irgendeiner Kraft gesteuert werden. Aber man kann auch nicht sagen, dass der Volksaufstand aus dem Nichts kam. Er fand hauptsächlich über Social-Media-Kanäle Verbreitung, wobei eine gewisse Koordination mit Organisatoren früherer Protesten erfolgte. Dass sich nun aber so viele Menschen beteiligen, ist das Ergebnis eines aufgestauten Frustes über das Versagen der derzeitigen und früherer Regierungen – ähnlich wie bei früheren Protesten. Und natürlich der Reaktion des Staates, der auf Repression setzt. Als Demonstranten etwa einen Fuß in Gegenden setzten, die als Regierungsbezirk demarkiert sind, schlugen die Sicherheitskräfte den Protest sofort gewaltsam nieder. Der erbärmliche Zustand unserer Rechte als irakische Bürger ist der wahre Auslöser dieser Protestwelle.
Iraks Jugend fordert ihr Land zurück – aus den Händen der Diebe, die sich selbst Politiker nennen, obwohl ihnen diese Rolle eigentlich nur zugefallen ist, ohne dass sie sich großartig dafür verdient gemacht hätten. Wir fordern einen anständigen Lebensstandard für alle, zumal der Irak ja ein reiches Land ist. Und da ist noch die Sache mit dem offiziellen Untersuchungsbericht zur Tötung hunderter Demonstranten, den die Regierung vor einigen Wochen herausgegeben hat: Denn der ist gänzlich zugunsten der Regierung voreingenommen, und lässt die Rechte der ermordeten Demonstranten links liegen. Die Regierung ist für diese Verbrechen verantwortlich.
Sobald sich das Parlament und der Präsident auf die notwendigen Schritte zur Bildung einer Notstandsregierung nach Auflösung des Parlaments geeinigt haben, brauchen wir vorgezogene Wahlen. Der rechtliche Rahmen dafür muss durch ein neues Wahlgesetz ergänzt werden. Eine potenzielle neue Regierung muss seinen Verpflichtungen gegen den Bürgern nachkommen und auf ihre sozialen Forderungen eingehen. Vor allem aber ist diese Revolution eine Mahnung an alle künftigen Regierungen: Das Volk entscheidet, wer es regiert, und die Regierung muss dem Volk dienen.
Jassim al-Hilfi: »Für ein System auf dem Fundament von Bürgerrechten«
Ich persönlich unterstütze die Proteste. Sie spiegeln alles wider, wofür wir uns einsetzen. Als die Proteste ausbrachen, zogen wir mit auf den Tahrir-Platz. Wir haben auch mit einigen der Aktivisten vor Ort zusammengearbeitet, vor allem logistisch ausgeholfen, etwa mit Gasmasken gegen das Tränengas, das die Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten einsetzen. Und wir halfen bei der Verpflegung der Demonstranten mit. Wir versuchen sie so gut wie möglich zu unterstützen. Wir haben uns immer als integraler Bestandteil der Protestbewegung verstanden. Allerdings wollen wir die Proteste nicht politisieren oder uns als Partei darüber zu profilieren. Stattdessen engagieren wir uns als Bürger, Vertreter der Zivilgesellschaft und als Mitglieder von Jugendorganisationen.
Seit Beginn der Proteste haben die Forderungen der Demonstranten eine größere Dimension angenommen. Zunächst ging es ja um eine bessere Versorgung staatlicher Dienstleistungen und eine angemessenen Lebensgrundlage. Inzwischen werden die Rufe nach grundlegenden Strukturreformen von Staat und Gesellschaft laut, insbesondere in Form von Verfassungsänderungen. Es geht um soziale Gerechtigkeit. Und um die Transformation eines Systems, das auf sektaristisch und ethnisch basierten Quoten basiert. An dessen Stelle soll ein System treten, das auf dem Fundament von Bürgerrechten aufbaut. Wir versuchen, diese Agenda durch unsere Medienpräsenz zu unterstützen, sei es im Fernsehen oder in der Zeitung. Wir wollen Einschüchterungskampagnen aufdecken, denn die Sicherheitsdienste und andere Akteure streuen Gerüchte, die den Willen der Menschen brechen und die Protestbewegung untergraben sollen.
Dann sind da noch diejenigen, die verhindern wollen, dass sich die jungen Menschen organisieren. Sie behaupten, dass die Beteiligung politischer Parteien rundweg abgelehnt werden sollte – das folgt einem Kalkül: Denn wenn die Proteste eines Tages abflauen sollten und die Wahlen anstehen, steht die Protestbewegung ohne Struktur da. Genau das würde es den üblichen Verdächtigen ermöglichen, ins Parlament zurückzukehren. Diese opportunistischen Kräfte sind keine große Hilfe. Sie hindern die Jugendlichen lediglich daran, sich ausreichend zu organisieren. Und die jungen Menschen auf der Straße haben inzwischen durchschaut, dass genau diese Gruppen ja selbst de facto am Hebel der Macht sitzen.
Wir haben uns immer auf die Seite der Massen gegen die rohe Gewalt der Behörden gestellt. Der Untersuchungsbericht der Regierung zur Ermordung von Demonstranten ist in Wirklichkeit nichts weiter als ein Verwaltungsrapport – eine politische oder juristische Aufarbeitung fand nicht statt. Wie kann eine Regierung eine Untersuchungskommission einsetzen und sie mit der Untersuchung der Ermordung von Demonstranten durch den eigenen repressiven Apparat beauftragen? Wir brauchen eine unabhängige Untersuchungskommission unter der Leitung von erfahrenen, mutigen Ermittlern und Richtern. Premierminister Adil Abdul Mahdi sollte in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte Verantwortung übernehmen, dass die Sicherheit irakischer Bürger nicht nur nicht gewährleistet, sondern sogar verletzt wurde.
Das Sa'airun-Bündnis, dem auch die Irakische Kommunistische Partei angehört, beteiligte sich an der Bildung der Regierung. Doch diesen Prozess bestimmen wir nicht alleine, schließlich stellen die Abgeordneten der Sa'airun-Allianz nur 17% im Parlament. Die Allianz verfolgte die Haltung, der Regierung ein Jahr Zeit zu geben, um ihre Regierungsfähigkeit zu beweisen: Wenn die Regierung ihr Programm umsetzen würde, so unsere Haltung, würden wir sie unterstützen – und andernfalls eben nicht. Wir hatten nie die Absicht, Premierminister Adel Abdel Mahdi bedingungslos grünes Licht zu geben, und als er nicht lieferte, forderten wir, dass er zur Rechenschaft gezogen wird. Wir müssen den Mut aufbringen, das Wahlrecht zu ändern. Für ein gerechtes Regierungssystem. Eines, dass keinen einzelnen Parteien verpflichtet ist.