Religiöse Minderheiten hatten es in Afghanistan nie leicht. Ein Besuch bei Sufis in Kabul zeigt, wie sie die Taliban für sich gewinnen könnten.
Eine Woche vor der Machtübernahme der Taliban treffe ich Haji Tamim im Innenhof des Sufi-Ordenshauses in der Kabuler Altstadt. Er ist Mitte fünfzig, trägt eine walnussbraune Shalwar Kamiz und eine schwarze Weste, ein weißes Gebetskäppchen auf dem Kopf, an der linken Hand einen Ring mit einem Türkis – eine Tradition unter vielen gläubigen Muslimen in Zentralasien.
Er betrachtet eine in die Wand eingefasste Steinplatte mit persischer Inschrift. »Diese Lehrer haben das Khanaqah-Zentrum in den vergangenen zweihundert Jahren geleitet«, sagt er und zeigt auf die Namen, die in einer spirituellen Kette (Arabisch: silsila), Generationen von Lehrenden in Glauben und Mystik verbindet.
Seit Gründung unter dem Herrscher Timur Schah vor über 260 Jahren wurde die Leitung des Zentrums von einem männlichen Familienmitglied an das nächste übergeben, von Vater zum Sohn. Eine Tradition, die erst 1993 endete, als der Bürgerkrieg die afghanische Hauptstadt in Schutt und Asche zu legen drohte und die Familie endgültig auswanderte – erst nach Pakistan, dann in die USA und Deutschland.
Damals übergab das letzte Familienmitglied den Schlüssel zum Khanaqah-Zentrum an den damaligen Hausmeister Haji Tamim und die neue Leitung unter Imam Haji Saiqal. Keiner der beiden gehörte der Ursprungsfamilie an, aber beide kannten das Zentrum, seitdem sie als Kinder mit ihren Vätern und Onkeln zu den wöchentlichen Treffen gekommen waren.
»Ich war ein ungehorsamer Junge«, witzelt Haji Tamim. »Jedes Mal, wenn sie die Khanaqah schließen wollten, bin ich gekommen und hab die Vorhängeschlösser aufgebrochen. Ich habe die Khanaqah beschützt und mich immer für sie eingesetzt.«
Fürsprecher konnte das Zentrum in den letzten Jahrzehnten besonders gebrauchen. Während Sufismus als mystische Lesart des Islam in vergangenen Jahrhunderten ein fester Bestandteil des religiösen Unterrichts und des islamischen Selbstverständnisses in Afghanistan war, wurde sufistische Lektüre zunehmend aus den Lehrplänen der Medressen gestrichen und mit stringentem Auswendiglernen von Passagen aus dem Koran ersetzt. Einhergehend damit wurden auch Sufi-Gemeinschaften zunehmend marginalisiert und waren besonders in Kriegszeiten Repressalien ausgesetzt.
Als wir die Treppe in den ersten Stock des Zentrums nehmen, veranschaulicht mir Haji Tamim die wechselhafte Geschichte des Zentrums anhand einer Sammlung der besonderen Art. Im Versammlungssaal hängt ein dunkelblauer Eisenschrank. Gesichert mit einem Vorhängeschloss, liegen dort mehrere Reliquien, Erinnerungsstücke von Lehrern und Leitern des Zentrums. Während Reliquien im Christentum oft sterbliche Überreste von Heiligen bezeichnen, handelt es sich hier um Überbleibsel aus dem Besitz von verehrten Individuen.
Haji Tamim holt ein paar aus dem Schrank: »Diese Kappe gehörte dem Gründer des Zentrums und diese hier unserem Lehrer, bevor man ihn festnahm und ins Pul-e-Charkhi-Gefängnis warf. Das war während der Zeit von Hafizullah Amin unter den Kommunisten.« Pul-e-Charkhi steht symbolisch für Tausende, die in den ersten Monaten nach dem Putsch 1978 verschwanden und getötet wurden.
Sufi-Gemeinschaften litten in den ersten Jahren der Herrschaft der kommunistischen »Demokratischen Volkspartei Afghanistans« (PDPA) 1978/1979 unter der systematischen Verfolgung religiöser Lehrer. Mindestens 96 Familienmitglieder der bekannten politischen Sufi-Familie der Mujaddedi, die auch dem Königshaus nahestand, wurden damals getötet. Auch die Mitglieder des Khanaqah-Zentrums sahen ihren Lehrer, der aus dem Zentrum geschleift wurde, nie wieder.
Die Khanaqah litt allerdings in der folgenden Dekade nicht nur unter Verfolgung ihrer Mitglieder, sondern auch unter der Bombardierung städtischer Infrastruktur, als der Krieg sich vom Land in die Stadt verlagerte. So musste das Dach nach mehrfachem Raketenbeschuss in den 1980ern und frühen 1990er Jahre wieder neu aufgebaut werden.
Haji Tamim beklagt sich über die nur vorgeblich religiös motivierten Mudschaheddin dieser Zeit: »Das waren keine Gotteskrieger, das waren Heuchler!«, schimpft er. »Die Mudschaheddin kamen, plünderten das Zentrum und nahmen mit, was sie konnten«, erinnert er sich. »Die rissen sogar die Teppiche vom Boden!« Weil die Khanaqah meist zwischen den sich ständig verändernden Frontlinien des Krieges lag, mussten die Gemeinschaftstreffen zeitweise in eine Moschee in einem anderen Stadtteil verlegt werden.
In den 1980er Jahren suchten jedoch nicht nur Gewalt und Verfolgung das Sufi-Zentrum heim. Angetrieben durch den anti-sowjetischen Dschihad veränderten sich auch Vorstellungen von religiöser Autorität. Macht hatte nun, wer Geld und Waffen oder offizielle Titel besaß. Das ideologische Umfeld verlangte ein äußerlich konformes islamisches Verhalten als entscheidendes Kriterium legitimer Führung muslimischer Gemeinschaften.
Als die Familie Pahlawan vor der Gewalt des Bürgerkrieges floh, entsprach das äußere Auftreten des Mullah-Imams und islamischen Rechtsgelehrten Haji Saiqal diesen Anforderungen an religiöse Leitungsfiguren: Er war ein drahtiger Mann mittleren Alters mit schon weißem Bart und sorgsam geschlungenem Turban, der selbst eine Moschee im Plattenbauviertel Microrayon führte.
Ein paar Tage nach unserem Treffen kehre ich zurück, um die Gemeinschaft beim allwöchentlichen zikr im gleichen Versammlungssaal zu besuchen, in dem ich auch zuvor schon mit Haji Tamim zusammengesessen hatte. Zikr bedeutet wortwörtlich Gedenken. In der sufistischen Praxis sind damit meditative Übungen gemeint, bei denen koranische Verse entweder gedanklich oder durch Aussprache wiederholt werden. Sie dienen als Technik zur Vergegenwärtigung der Anwesenheit Gottes.
Es ist Freitagmorgen, und während ich mich der Khanaqah nähere, höre ich schon von draußen die rhythmisierten Stimmen der rund fünfzig Versammelten. In der nächsten Stunde wird die Runde auf achtzig Männer anwachsen. Es sind leren Alters, die die vorangegangenen Kriegszeiten wohl noch miterlebt haben. Einige Jugendliche und Kinder sind ebenfalls dabei, manche nehmen selbst teil, andere filmen die Teilnehmenden mit Handykameras.
Die Mitglieder der Gemeinschaft begrüßen sich freudig mit Umarmungen. Ich frage mich, wie sich solch eine lebhafte Veranstaltung verheimlichen lässt – oder mussten solche Zusammentreffen unter den Taliban komplett abgesagt werden?
Während der ersten Herrschaft der Taliban ab Mitte der 1990er Jahre gab es keine allgemeingültigen Richtlinien zum Verhältnis zum Sufismus. Während einige Taliban selbst Anhänger bestimmter Sufi-Lehrer waren, und privat den zikr praktizierten, untersagten andere Taliban-Beamte bestimmte Formen des zikr und verfolgten die Praxis als »unislamisch«.
Sufi-Orden unterscheiden sich in der Gestaltung und Ausführung des Rituals: Bei einigen Gruppen wird der zikr im Stillen, in Gedanken rezitiert, bei anderen vokalisiert – wie etwa hier im Khanaqah-Zentrum. Orden wie beispielsweise die Chishtiyyah in Indien praktizieren den zikr mit musikalischer Begleitung. Da Musik und Gesang von den Taliban untersagt worden waren, erschien der zikr yahr, also der vokalisierte zikr, nach Einschätzung einiger zu nah an der musikalischen Gefahrenzone des Unzulässigen.
Bei Tee und Kuchen verrät mir der Sohn von Haji Saiqal, wie es der Gemeinschaft während des ersten Taliban-Regimes ergangen war: »Mein Vater besaß diese besondere Fähigkeit, mit Menschen unterschiedlichster sozialer Hintergründe zu kommunizieren.« Wenn Beamte des Justizministeriums oder des »Ministeriums für die Förderung der Tugend und Verhütung des Lasters« die Khanaqah schließen wollten, fand er unter seinen Medressen-Schülern jemanden, der den Taliban nahestand, um über die Einwände zu verhandeln.
Ob die Strategie von damals in den kommenden Monaten der neuen Taliban-Regierung aufgehen wird? »Die Khanaqah ist hier, also werden auch wir bleiben. Wir gehen hier nicht weg«, sagt Haji Tamim, als wir Mitte August 2021 vom Khanaqah- Zentrum zum Friedhof spazieren. Nachdem Imam Haji Saiqal im vergangenen Jahr nach einem Krebsleiden verstarb, wurde der frühere Hausmeister an die Spitze des Zentrums gewählt.
Die Welt hat sich verändert, seit die Taliban das letzte Mal vor zwanzig Jahren das Sagen hatten. Eine Generation ist herangewachsen, die sich selbstverständlich im Internet bewegt und international vernetzt ist. Es sind Menschen, deren Wünsche und Überzeugungen oft konträr zu jenen der Taliban stehen.
Ob und wie sich die Taliban gewandelt haben? Haji Tamim sieht der Ungewissheit etwas besorgt, aber auch zuversichtlich entgegen: »Wir werden mit ihnen reden und einen Weg finden – so wie wir es immer getan haben.«
Annika Schmeding ist Junior Fellow an der Society of Fellows der Harvard-Universität. Sie hat ihre Promotion an der Boston University zu Überlebensstrategien von Sufi-Gemeinschaften in Afghanistan abgeschlossen. Seit 2011 forscht sie in Afghanistan.