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Kolumne: Der Arabist

Die Eine oder Keine

Analyse
von Wim Raven
Kolumne: Der Arabist
»Die Geschichte von Bayad und Riyad« spielt in Mesopotamien, das Manuskript stammt aber aus Andalusien im 13. Jahrhundert. Vatikan, Bibliotheca Apostolisch

In der Mitte des 6. Jahrhunderts änderte sich etwas in der arabischen Poesie: Auf einmal treten dort selbstbewusste Frauen auf, die schwache Männer zappeln lassen. 

In der vorislamischen arabischen Poesie aus der Mitte des 6. Jahrhunderts nach Christus wird in längeren Gedichten eingangs oft kurz an eine Frau erinnert. Der Dichter denkt zurück an seine herrliche Zeit mit einer Layla, Salma oder Hind und bewirkt somit bei seinen Zuhörern eine wehmütige und empfindsame Stimmung. Die dauert aber nur einige Zeilen. Seine Kameraden sagen ihm, er solle sich ermannen.

 

Es gibt ja noch mehr Frauen und jetzt steht anderes an: reisen, jagen, kämpfen, dem eigenen Stamm Ruhm und anderen Stämmen Schande bringen; ein Stammesoberhaupt oder einen König loben – oder nicht zuletzt sich selbst.

 

Von diesen Anliegen handelt dann der Rest des Gedichts. Eine Frau kann darin noch auf zwei Arten vorkommen: erstens als Lustobjekt, wenn der Dichter sich mit seiner Potenz brüstet; zweitens als meckernde »Hausfrau«, die den Mann kritisiert, weil er seinen Besitz an Wein oder Spiel vergeudet oder es mit Großzügigkeit und Gastfreundschaft übertreibt.

 

Eine Frau war in der alten Welt nicht viel wert. Sie konnte entführt, vermietet, ausgeliehen und vererbt werden. Und sexuell belästigt werden natürlich auch – oder wie soll man es sonst nennen, wenn der berühmte Dichter Imru al-Qais in seinem Mu’allaqa-Gedicht damit prahlt, dass er in das Zelt einer jungen Mutter eindrang, die gerade ihrem Säugling die eine Brust gab, um sich ungebeten auf die andere zu stürzen? Und in Überlieferungen lesen wir, dass Damen abends im Dunkeln in Grüppchen für den Stuhlgang das Haus verließen, weil es bei Tageslicht und alleine nicht sicher war.

 

Hundert Jahre später, ab etwa 640, werden noch immer lange Gedichte im alten Stil komponiert, aber es entstehen auch eigene Liebesgedichte (ghazal). Darin tritt die Frau nun oft ganz anders auf: als gefühlskaltes Wesen, das einen hoffnungslos verliebten Mann zappeln lässt und ihm Gunstbeweise verspricht, zu denen es nie kommt.

 

Sie versucht ihn mit Pfeilen aus ihren Augen zu »töten«; sie tut, als sei sie sehr verliebt in ihn, und wirft ihm vor, dass er andere Frauen ansieht. Der Mann leidet und seufzt und klagt. Er versucht sich zu rechtfertigen und bettelt um eine Gunst, wie klein auch immer. In der noch etwas späteren Poesie ist er sogar krank und ausgemergelt vor Liebe; der Arzt – also die Geliebte – will ihm nicht helfen und der Liebestod steht bevor.

 

Was war passiert, wie kam es zu diesem ganz anderen Ton in der Dichtung? Wie wurden Frauen so triumphierend und Männer so quengelig? Das kam durch den Islam, wird manch einer sagen. Das ist aber zu unsorgfältig ausgedrückt, denn was war der Islam schon zu dieser Zeit? Der hatte sich noch lange nicht auskristallisiert; den Koran als Buch gab es noch nicht, und so etwas wie die Scharia war auch noch nicht in Sichtweite. Aber die Rechtsregeln waren offensichtlich schon im Umlauf und blieben nicht ohne Wirkung.

 

In der Tat haben sie die Position der freien arabischen Frau verbessert. Sie konnte nicht mehr gegen ihren Willen verheiratet werden. Es wurden Regelungen getroffen in Bezug auf Brautgeld, Verstoßung und ihren Lebensunterhalt in diesem Fall. Sie konnte erben, wenn auch weniger als ein Mann. Auch als Zeugin vor Gericht war sie etwas wert. Das alles stärkte ihre Position.

 

Auch das Männerleben war nicht länger wie gehabt. Anno 650 waren die Araber schon zwanzig Jahre dabei, die halbe Welt zu erobern. Das hatte zu drastischem sozialem Wandel geführt. Die Stämme kämpften nicht länger gegeneinander, sondern zusammen gegen andere. Viele Araber landeten in entlegenen Gebieten, von denen ihre Väter und Großväter noch nie gehört hatten. In den Armeen dienten sie Seite an Seite mit Kameraden aus Stämmen, die früher vielleicht ihre Feinde gewesen waren.

 

Vieh zu stehlen war nicht länger angesagt. Schimpfen auf den Stamm nebenan war jetzt unerwünscht, genauso wie Lobhudelei über die Tugenden des eigenen Stammes. Auch mit dem Rauben, Vergewaltigen oder anderweitiger schlechter Behandlung von Frauen war es im Prinzip vorbei – jedenfalls in Arabien: In den Armeen, die die Außenwelt eroberten, konnte Macho-Verhalten natürlich noch in vollen Zügen gelebt werden.

 

Sowohl für Männer als auch für Frauen galt, dass sie Individuen wurden, nicht länger namenlose Teile eines Stammes waren. Das ermöglichte auch persönliche Liebesbeziehungen. Die vorislamische Empfehlung an einen Mann, der an eine Geliebte zurückdachte: »Vergiss sie, es gibt noch so viele andere Frauen«, war nicht länger relevant: Er wollte die Eine.

 

Die Position der Frau verbesserte sich also nicht nur durch die koranischen Regeln, sondern auch dadurch, dass die Position des Mannes schwächer wurde. Das führte bei den Männern zu einem Gefühl der Erschütterung – zu dem Gefühl, kein Mann mehr zu sein. Wer in weiter Ferne als Soldat aktiv war, verspürte das nicht, aber diejenigen, die in Arabien zurückgeblieben waren oder nach einem Feldzug dorthin zurückkehrten, fanden ihre vertraute Welt nicht wieder.

 

Die Arabistin Renate Jacobi hat Gedichte von Abu Dhu’aib und seinem Umfeld studiert, einem Dichter aus dem zentralarabischen Stamm Hudhail, der um 640 wirkte. Darin werden die neuen Verhältnisse noch viel deutlicher; besonders in dem anonymen Gedicht »O Zelt von Dahma’, das ich meide«.

 

Der Bruch mit der alten Zeit ist in dem Gedicht deutlich spürbar, jede Prahlerei wird gemieden. Die Dichterpersona kann und will die Geliebte nicht vergessen. Anders als frühere Dichter hat er kein Interesse an andere Frauen: »Wenn mein Stamm an einem Ort lagert, so geschieht es nie, dass meine Blicke sich zu anderen Frauen wenden.« Er ist nur auf die Eine fixiert: »Ein Land, in dem du nicht bist, erscheint mir öde und verdorrt ...«

 

Immer wieder sehnt er sich nach ihr: »Jeden Abend kehrt meine Sehnsucht, wie eine fern weidende Herde, heim.« Aber er fühlt sich ihr gegenüber sehr unsicher: »Kann ein Liebender auf dich vertrauen, hat seine Liebe bei dir eine Aussicht? « Der Kontrast zu früher könnte größer nicht sein. Er zeigt Respekt, dringt nicht frech in ihr Zelt ein, im Gegenteil, der erste Vers lautet: »O Zelt der Dahma’, das ich meide« – nämlich um den guten Ruf der Dame zu schützen.

 

Den Verleumdern bietet er keinen Halt: »Ich schmeichle den Verleumdern und halte mich zum Schein von dir fern ...« Mit anderen Worten: Er tut so, als sei er gar nicht in sie verliebt – ebenfalls zu ihrem Schutz. Die letzte Zeile ist die unglaublichste von allen: »Und wenn mein Feind dich liebt, so liebe ich ihn, ob er nun zu deinem Stamm gehört oder nicht.« Die Feindschaft zwischen den Stämmen ist aufgehoben!

 

Was änderte sich nun wirklich in der arabischen Gesellschaft? Natürlich war es nicht so, dass fortan mehr Frauen in führenden Positionen zu finden waren. Die körperliche Überlegenheit des Mannes blieb weiterhin bestimmend. Die Unsicherheit verschwand, als die neue Gesellschaft sich einmal eingependelt hatte. Der Einblick in diese frühe Periode der Umgestaltung bleibt aber einzigartig.

 

Es gibt nur ganz wenige Geschichtsquellen, die ohne religiöse Färbung zeigen, was damals in den Menschen vorging. Die Motivik dieser arabischen Liebespoesie hat sich übrigens verselbständigt und Jahrhunderte überlebt: im Arabischen bis ins 20. Jahrhundert (sogar bei Umm Kulthum), aber auch im Persischen und Türkischen; in Europa bei den Troubadours und in dem Liedschatz Frankreichs und Italiens bis tief ins 18. Jahrhundert. Die »höfische Liebe«, wenigstens in der europäischen Variante, stammt nicht aus der griechisch- römischen Antike, sondern aus dem arabischen 7. Jahrhundert.


Der Arabist Dr. Wim Raven schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch-islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com.

Von: 
Wim Raven

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