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Frankfurter Buchmesse und Autorin Adania Shibli

Fiktion an die Front

Kommentar
Frankfurter Buchmesse und Autorin Adania Shibli
Samir Mansour

Auf der Frankfurter Buchmesse wird es keine Preisverleihung für die arabisch-israelische Autorin Adania Shibli geben. Arabist Ruben Schenzle beschreibt, warum es falsch ist, den politischen Konflikt auf dem Rücken der Literatur auszutragen.

»Ich hoffe übrigens, dass ich niemanden in Verlegenheit gebracht habe, als ich die Situation mit dem Soldaten oder am Checkpoint erwähnte oder wenn ich ausspreche, dass wir hier unter Besatzung leben.«

 

Diese Worte legt Adania Shibli ihrer Ich-Erzählerin in den Mund. Ihr Roman, den die Jury von litprom e.V. – dem internationale Literaturförderverein der Frankfurter Buchmesse – dieses Jahr mit dem »LiBeraturpreis« küren möchte, trägt den unscheinbaren Titel »Eine Nebensache«. Die für den 20. Oktober geplante Verleihung ist nun jedoch alles andere als nebensächlich geworden.

 

Nach dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel meldeten sich in der Welt (Mara Delius) sowie der taz (Carsten Otte) Stimmen zu Wort, die eine Aussetzung des Preises forderten. Der Vorwurf, der Roman von Adania Shibli leiste »antiisraelischen und antisemitischen Narrativen« Vorschub, beruht allerdings nicht auf einer Lektüre des Werks, sondern auf den übernommenen Urteilen von Ulrich Noller und Maxim Biller.

 

Der WDR-Journalist Noller hatte die Litprom-Bestenlisten-Jury nach der Nominierung von Shiblis Roman 2022 gar aus Protest verlassen. Am Freitag verkündete nun Jürgen Boos, Direktor der Buchmesse und Vorstand von litprom in Personalunion, man suche »nach einem geeigneten Rahmen der Veranstaltung zu einem Zeitpunkt nach der Buchmesse.« Um im selben Atemzug zu betonen, »zusätzliche Bühnenmomente für israelische Stimmen zu schaffen«.

 

Adania Shibli ist 1974 im Norden Israels zur Welt gekommen. Sie lebt heute zwischen Jerusalem und Berlin. »Eine Nebensache« ist 2017 auf Arabisch erschienen, die englische Übersetzung war 2020 und 2021 für hochdotierte britische und amerikanische Buchpreise nominiert. Der als »Auszeichnung für Autorinnen aus dem Globalen Süden« ausgelobte »LiBeraturpreis« ist seit Jahren eine wichtige Institution, um dem deutschen Publikum Schriftstellerinnen aus nichteuropäischen Sprachen näher zu bringen. Dass er jetzt mit Otte, Noller, Boos von einer Männerentente torpediert wird, ist dabei nur hintergründig von Belang. Denn den eigentlichen Schaden trägt die Literatur davon.

 

Welche Bedeutung hat Literatur heute?

 

»Es ist ein Glück, dass Literatur keine politischen Analysen liefern muss, aber Einzelschicksale zeigen kann«, war in einer Rezension zur deutschen Übersetzung nach deren Erscheinen im April 2022 in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Die Aussage wirkt im jetzigen Kontext wie aus der Zeit gefallen. Und doch liegt genau darin die Kraft, die Shibli in ihr Werk legt.

 

»Eine Nebensache« ist keine laute Anklageschrift, obwohl es die militärische Inbesitznahme des einstigen Mandatsgebiets Palästina zum Thema hat: 1949 verübt eine israelische Grenzsicherungseinheit ein Massaker an einer Beduinenfamilie, 55 Jahre später macht sich eine Palästinenserin aus Ramallah auf die Suche nach den Spuren dieses Verbrechens und erleidet ein vergleichbares Schicksal.

 

In eben dieser persönlichen Suche lässt sich die Bedeutung und der literarische Wert des Romans ermessen. Nämlich die Geschichte dem Vergessen zu entreißen, indem sie erzählt wird. Im Erzählen Worte zu finden für Unausgesprochenes. In der Sprache Verständnis einzufordern. Den Schmerz der Anderen zu begreifen. Menschliche Widersprüche inbegriffen. Die arabische Literatur ermöglicht so gerade den Leserinnen und Lesern hierzulande wahre Grenzüberschreitungen. Und dafür wurde Shibli letztlich zurecht ausgezeichnet.

 

»Gleichsam präzise und behutsam« geht Shibli, wie die Litprom-Jury betonte, dabei vor. Selbst der mörderische Überfall auf die arabischen Nomaden wird geradezu anteilslos wiedergegeben. »Sein Blick traf auf ihre Blicke, und ihre Augen waren so weit aufgerissen wie die ihrer aufgeschreckten Kamele, die aufsprangen und einige Schritte davontrabten, während der Hund aufheulte.« Die Worte versetzen uns in einer unaufgeregten Knappheit in das Geschehen. »Es folgte das Geräusch von heftigem Gewehrfeuer.« Die bedächtig gewählten Worte eröffnen hier einen Resonanzraum, der dem alltäglichen Medien- und Politikbetrieb fremd geworden ist.

 

Es ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass Shiblis Buch und die Romanhandlung nichts mit dem gegenwärtigen Krieg in Israel und Gaza zu tun haben. Wer ihr sprachliches Kunstwerk vor diesem Hintergrund umdeutet, verfolgt vermeintlich staatstragende Zwecke. Eine Schriftstellerin zu verteufeln, weil sie einer palästinensischen Sicht auf die Geschichte eine Stimme verleiht, spült Wasser auf die Mühlen derjenigen, die sich schon jetzt gegenseitig das Existenzrecht absprechen. Der Schaden für die Bedeutung der Literatur, in diesem Fall die arabische, ist in jedem Fall fatal.

 

Fremdes Leid erfahren

 

Dabei wäre der »LiBeraturpreis« 2023 eine gute Gelegenheit gewesen, die eigentlich wichtigen Fragen zu stellen: Warum hat es fünf Jahre gedauert, ehe »Eine Nebensache« auf Deutsch veröffentlicht wurde? Wieso tun sich deutsche Verlage offenbar so schwer damit, ihrem Publikum arabisch-israelisch-palästinensische Perspektiven zuzumuten? Weshalb scheuen wir uns so sehr, Holocaust, Schoah und Nakba historisch in Beziehung zu setzen? Diese Fragen verweisen weniger auf den Konflikt in Nahost, als dass sie deutsche Befindlichkeiten anrühren.

 

Es bleibt zu hoffen, dass Shibli eines Tages auch in ihrem Geburtsland die Anerkennung zuteilwird und Preise verliehen bekommt, die ihr hierzulande vorerst verwehrt bleiben. Gerade in Zeiten wie diesen bedarf es, um überhaupt wieder eine Vorstellung von Annäherung und Empathie zu gewinnen, mehr denn je zuallererst der Fiktion, die der Literatur innewohnt.


Ruben Schenzle ist Dozent für arabische Literatur an der Freien Universität und Übersetzer.



Frankfurter Buchmesse und Autorin Adania Shibli

Eine Nebensache
Adania Shibli
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Berenberg Verlag, 2022
120 Seiten, 22 Euro

Von: 
Ruben Schenzle

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