Unter den vielen Endzeitgestalten, die der Islam kennt, sticht eine durch ihr merkwürdiges Aussehen hervor: Rote Beine und blaue Augen soll Dhu al-Suwaiqatain haben – und aus Äthiopien kommen. Aber was steckt hinter der Kreatur?
Kurz vor dem Jüngsten Tag, also demnächst, werden nach sowohl christlichen wie auch islamischen Überlieferungen furchterregende Geschöpfe erscheinen, die der Menschheit das Leben schier unerträglich machen und Weh über die Erde verbreiten. Bei den Christen ist die Hauptfigur der Antichrist, bei den Muslimen Daǧǧal, ebenfalls eine Art Antichrist.
Aber Muslime kennen noch andere Endzeitgestalten: den Qahtani, den Sufyani und Dhu al-Suwaiqatain. Überdies brechen zwei gewalttätige Völker los: Gog und Magog (Arabisch: Yaǧuǧ und Maǧuǧ) sowie ein Tier aus der Erde, und es ereignen sich Naturkatastrophen.
Nach beiden Religionen wird dieser Schreckensperiode von dem wiederkehrenden, triumphierenden Jesus ein Ende gesetzt, und im Islam dazu noch vom Mahdi. Es sind alte Prophezeiungen, die in Perioden der Ruhe und Wohlstand niemanden interessieren, aber in harten Zeiten immer wieder Menschen beängstigen.
Die wohl am wenigsten bekannte arabische Endzeitgestalt ist Dhu al-Suwaiqatain, »der Dünnbeinige«, der die Kaaba zerstören wird (darüber habe ich schon in zenith 6/2013 geschrieben). Hier folgen zwei Hadithe zum Thema, überliefert von Bukhari (810–870) beziehungsweise Ahmad Ibn Hanbal (780–855):
Von Abdallah Ibn Umar: Ich habe den Propheten sagen hören: »Die Kaaba wird von Dhu al Suwaiqatain aus Äthiopien zerstört, der sie ihres Zierrats beraubt und ihr die Hülle abzieht. Es ist, als ob ich ihn vor mir sehe: ein glatzköpfiges, krummbeiniges Männchen; er schlägt mit seiner Schaufel und seiner Spitzhacke darauf.« In einem Hadith des Hudhaifa Ibn al-Yaman heißt es: »Es ist, als ob ich einen Äthiopier vor mir sehe, mit roten Beinen und blauen Augen, mit einer platten Nase und einem dicken Bauch. Er hat seine Füße parallel auf die Kaaba gesetzt; er und einige Kumpane von ihm reißen sie Stein nach Stein ab und reichen einander die Steine weiter, die sie letztendlich ins Meer werfen.«
Ein komischer Mensch ist das: Rote Beine und blaue Augen sind in Äthiopien rar, und dicke Bäuche ebenfalls. Aber »äthiopisch« steht im Hadith meist stellvertretend für »christlich «. Die Gefahr für die Kaaba kommt aus christlicher Ecke. Einer berühmten Erzählung zufolge versuchte Abraham, in vorislamischer Zeit der äthiopische Herrscher des Jemen, mit seinem Kriegselefanten Mekka zu erobern. Das sei durch göttliches Eingreifen misslungen, aber am Ende der Zeiten lasse Gott dann zu, dass Äthiopier das tun, was sie anscheinend schon immer tun wollten: die Kaaba abreißen.
Und was hat es mit den Beinen auf sich? Dhu al-Suwaiqatain bedeutet wörtlich »der mit kleinen Unterschenkeln/Beinen«. Einige Araber, denen ich das Wort vorgelegt habe, deuteten es spontan wie ich selbst: »kurze Beinchen«. Der Kommentator al-Nawawi (1234–77) ist aber der Auffassung, dass dünne Beine gemeint sind. Er fügt hinzu: »Von den Schwarzen ist bekannt, dass sie dünne Beine haben.« Dem kann man beipflichten, insoweit es die nilotischen Einwohner Nordostafrikas betrifft, die tatsächlich oft von schlanker und ranker Gestalt sind. Und die alte arabische Poesie beweist, dass er recht hat.
Einige Klarheit über diese merkwürdige Gestalt gab mir nämlich die Lektüre von Manfred Ullmann. Der hat Hunderte alte arabische Verse gesammelt, in denen ein Ding, Tier oder Mensch mit einem Äthiopier oder einem anderen schwarzen Menschen verglichen wird. In etwa zwanzig Gedichtfragmenten wird ein Strauß mit einem Äthiopier oder einem Inder verglichen. Die gemeinsame Eigenschaft ist meistens das Schwarz der Haut oder der Flügel und Deckfedern, aber es können auch die ranken Beine sein.
Ullmann zitiert zum Beispiel ein Fragment des vorislamischen Dichters al-Afwah al-Audi, der vielleicht um 570 starb. In seiner Übersetzung lautet es:
Ein (Straußenhahn) mit rotgefärbten Beinen (...) Er gleicht einem schwarzen Abessinier mit dünnen Schenkeln, dem schwarze, unverständlich plappernde (Kinder) folgen, die Ringe in den Ohren haben.
Nach der Lektüre dieses Verses wird die Überlieferung von Hudhaifa Ibn al-Yaman verständlicher: Der Erzähler wollte wohl einen Äthiopier beschreiben, aber dann kam ihm der aus der Poesie bekannte Vergleich mit dem Strauß in den Sinn, schwarz und mit roten Beinen: Sowohl Strauße als auch Äthiopier sind ja für ihre dünnen Beine bekannt, mag er sich gedacht haben. Und während der Balz färben sich die Beine mancher Straußenarten tatsächlich rot. Der »dicke Bauch« ähnelt natürlich dem dicken, dunklen Straußenkörper, der mit seinen dünnen Beinen kontrastiert. Im Hadith wird nicht der Strauß mit einem Äthiopier verglichen, wie in der Poesie, sondern umgekehrt.
Auch zu seinen blauen Augen gibt es einiges zu sagen. Das ist einfach eine falsche Übersetzung von mir, die sicherlich auch viele Kollegen machen würden. Azraq bedeutet heutzutage »blau«. Bei Farben in alten Texten empfiehlt es sich aber, in Wolfdietrich Fischers Studie »Farb- und Formbezeichnungen in der Sprache der altarabischen Dichtung« einzutauchen. Ullmann und Fischer haben beide monumentale Beiträge zur Kenntnis des alten Arabisch geleistet, die leider von modernen Arabisten zu wenig konsultiert werden.
Zum Begriff azraq bietet Fischer nicht weniger als acht Seiten. Daraus wird bald ersichtlich, dass die Augen des Kaaba-Zerstörers ganz und gar nicht blau sind. Im alten Arabischen bedeutete azraq so etwas wie »schillernd, glitzernd, changeant«; man denke an die schillernden oder flackernden Augen eines Raubtiers. Und diese furchterregenden Augen hat der Erzähler wohl von der anderen Endzeitfigur, dem Antichristen (Daǧǧal), geborgt, der eben solche hat.
Die Kaaba wird also zerstört, aber es kommt noch schlimmer: Auch den Koran werde es in der Endzeit nicht mehr geben, heißt es in einem Hadith, der von al-Darimi (797-869) überliefert wird:
Von Abdallah Ibn Masud: »Rezitiert den Koran oft, bevor er weggenommen wird.« Es wurde gesagt: »Diese Bücher werden also weggenommen werden! Aber was ist mit dem, was in den Herzen der Menschen (auswendig gelernt) ist?« Er antwortete: »Eines Nachts wird etwas kommen und es wegnehmen und am Morgen werden sie ohne es aufwachen. Sie werden sogar den Satz: ›Es gibt keinen Gott außer Gott‹ vergessen und sie werden anfangen, die Sprüche und Dichtung der Heidenzeit zu rezitieren. Das ist, wenn das Urteil über sie ergeht (Koran 27:82).«
Warum wurden solche Texte erzählt? Um die Gläubigen erschaudern zu lassen und sie zu ermutigen, auf das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein, indem sie ihren Glauben pflegen: zu pilgern und den Koran zu rezitieren, solange es noch geht. Das Urteil steht ja bevor! So man will, kann man auch Trost daraus schöpfen. Wie schlimm die Zeiten auch sein mögen, noch sind die Kaaba und der Koran da.
Der Arabist Dr. Wim Raven schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com