Der Schwerpunkt der neuen zenith-Ausgabe 01/2020 nimmt Sie mit auf eine Reportage-Reise hinter die Schlagzeilen: Lesen Sie unter anderem Geschichten über Forensiker im Irak, Geschichtenerzähler in Palästina und Fischer im Jemen.
Vielen schien es, als gäbe es fortan eine Welt vor und eine nach dem 3. Januar 2020. In der Nacht zuvor war der iranische Generalmajor Qassem Soleimani mit insgesamt neun Begleitern in der Nähe des Internationalen Flughafens Bagdad getötet worden – durch eine amerikanische Drohne.
Zahlreiche Kommentatoren erklärten, dies sei nun die offizielle Kriegserklärung an Iran und der erste direkte Schlag in einem großen, offenen Krieg im Nahen Osten. Auch wenn wir, das Team von zenith, da vielleicht weniger alarmistisch waren – Gewissheit gab es nicht. Es beschlich uns noch eine andere Befürchtung: Wenn es jetzt nur noch im Rache und Vergeltung geht, werden sich die wenigsten für Details interessieren und dafür, welche Auswirkungen solche Ereignisse für den Alltag der Menschen im Nahen Osten zeitigen.
Da war er also wieder, der Orient, wie er uns in den Nachrichten noch immer häufig zu begegnen scheint: Eine diffuse Welt jenseits von Suez, wo – frei nach Rudyard Kipling – angeblich alles anders läuft. Wo Regeln des gesunden Menschenverstands nicht mehr gelten und irgendwelche – wahrscheinlich viel zu viele – Menschen ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert sind, aber trotzdem fest darauf vertrauen.
Eine Region voller heruntergekommener Sehnsuchtsorte, in denen man wenigsten noch Abenteuer erleben kann, die aber in ihrer Vielfalt auch einerlei geworden sind. Im Nahen Osten gibt viele Ereignisse von Nachrichtenwert, die sich manchmal regelrecht übereinander türmen.
Mehr Informationen ergeben allerdings nicht zwingend ein differenzierteres Bild. Aber mit solchen Projektionen werden sich die geneigten zenith-Leserinnen und -Leser nicht zufriedengeben. Und auch, wenn den meisten verständlicherweise gerade nicht der Sinn danach steht, Syrien, den Jemen, Afghanistan oder den Irak zu bereisen: Die Neugier und das Bedürfnis, die Dinge genauer zu betrachten, sind Ihnen deshalb noch lange nicht vergangen.
Daher unser Schwerpunkt mit Reportagen, in denen uns unsere Autorinnen und Autoren vom Mittelmeer bis an den Hindukusch führen. Einige dieser Stücke sind aus einem Stipendienprogramm hervorgegangenen, das zenith und die gemeinnützige Candid Foundation gemeinsam mit den Alumni der Quandt-Stiftung ausgeschrieben haben. Und wir wollen auch weiterhin Journalistinnen und Journalisten in unserem Berichterstattungsgebiet die Möglichkeit geben, ihre Geschichten zu erzählen. Mehr dazu hier: www.zenith.me/en/reporting-grants
Apropos Klischees: Als mutmaßliches Mitglied im zenith-Club und daher Nahost-Experte ehrenhalber ist es Ihnen bestimmt schon aufgefallen. Der Junge auf unserem Titelbild, der 11-jährige Mahmud aus dem oberägyptischen Aswan, den der ägyptische Fotograf Sabry Khaled porträtiert hat, ist kein angehender Hamas- oder Hizbullah-Kämpfer. Auf seinem grünen Stirnband steht »Habibi ya rasul-ullah, frei übersetzt: Mein geliebter Gesandter Gottes«. Solche Stirnbänder können Pilger wie Mahmud in verschiedenen Farben in der Nähe eines ägyptischen Heiligengrabs kaufen, wo ihn unser Fotograf auch getroffen hat. Ein Geheimtipp für alle, denen der Jakobsweg zu ausgetreten ist.
Diese Geschichten erwarten Sie unter anderem im Heft:
Was für ein Frieden
Die schiitischen Afghanen zählen vermutlich zu den großen Verlierern eines Deals mit den Taliban. Der selbst erklärte Islamische Staat wittert auch schon Morgenluft.
Der Himmel über Hodeida
Jemens wichtigster Hafen am Roten Meer ist ein Schlachtfeld. Zu Besuch in einer Stadt, die der Schlüssel sein kann: für Aufbau oder Untergang.
Die einzige Spur
Die meisten Iraker vermissen nach vier Jahrzehnten Krieg und Terror noch immer Angehörige. Hoffnung auf Gewissheit gab es kaum. Ein Team von Forensikern rollt nun alte Fälle wieder auf.
Wann kommen sie zurück
Die Türkei zieht gegen die Kurden zu Felde. Und die sollen Tausende IS-Anhänger bewachen. Europa schaut weg. Das wird nicht gutgehen.
Trajan, Osman, Iwan
Die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt sollte Plovdiv aus dem Schlaf erwecken. Bulgariens zweitgrößte Stadt bezeugt multikulturelles Erbe – und die Sinnkrise des Kontinents in der Gegenwart.