Peter Gran erklärt im Interview, warum er auch nach sechs Jahrzehnten die Orientalismus-Debatte weiterführt – und weshalb die Sprache der Schlüssel zum Verständnis des Nahen Ostens bleibt.
zenith: In Ihrem neuen Buch kritisieren Sie das Konzept des Orientalismus im angloamerikanischen Kontext – aber auch Deutschland kommt nicht gut weg. Warum?
Peter Gran: Für mich gehört Deutschland zu den historischen Zentren des Orientalismus. Natürlich existierte die Idee eines klischeebehafteten Orients in den Köpfen von religiösen und säkularen Intellektuellen verschiedener Länder des Westens. In Deutschland wurde der Orient jedoch ab dem 19. Jahrhundert zu einem systematischen Forschungsfeld. Wissenschaftler betrieben eine Exotisierung des Orients und betonten die Rückständigkeit des Islams. Es war eine Mischung aus Abwertung und Bewunderung. In meinem Buch konzentriere ich mich vor allem auf Hegel ….
…. einen der prägendsten deutschen Denker dieser Zeit, der mit dem Islam allerdings nicht viel anzufangen wusste.
Als der Islam aufkam, interessierte er sich mehr für Europa und die Arier. Und so entstanden zu dieser Zeit zwar die ersten Orient-Institute im deutschsprachigen Raum, der Islam und die Muslime im Westen wurden jedoch zu einer Fußnote des Christen- und Judentums degradiert. Die Phase des 19. Jahrhunderts prägte den Orientalismus in Deutschland. Das könnte etwas damit zu tun haben, dass Deutschland eine enorme kulturelle Entwicklung durchmachte, gleichzeitig aber nicht so stark in koloniale Fragen verstrickt war wie andere Länder.
Wie stand es um die Auseinandersetzung mit diesen Themen, als Sie in den 1960er Jahren studierten?
Als Student am Institut für Geschichtswissenschaften in Chicago wurde ich ständig gefragt, warum ich denn nicht ans Orientalische Institut gegangen sei, wenn mich doch Ägypten so interessiere. Auch mein Interesse am modernen Ägypten konnten die Professoren der Orientwissenschaften nicht nachvollziehen: Es gebe doch viel spannendere und wichtigere Themen, wie den Koran, die Mamluken und Umayyaden. Mich begeisterte aber die neuere Geschichte Ägyptens, des Islams und die enge Verknüpfung mit dem Kapitalismus. Das spielte an den Universitäten natürlich überhaupt keine Rolle. Später habe ich dann mehrere Bücher zu diesen Themen geschrieben.
»Waren meine Vorfahren ein Haufen brutal kolonisierender Massenmörder oder waren sie Pioniere und Reformer?«
Wie erklären Sie sich, dass sich orientalistische Narrative bis heute hartnäckig halten?
Wir werden zu einem gewissen Teil von unserer eigenen westlichen Identität beziehungsweise der Vergangenheit unserer Identität erpresst. Das wird beispielsweise daran deutlich, dass ich als US-Amerikaner vor allem einen englischen Hintergrund habe. Unsere Vorfahren haben viele Menschen in vielen Ländern getötet, versklavt und ihr Land gestohlen. Meine Kinder haben mir einige Fragen in diese Richtung gestellt.
Und was haben Sie geantwortet?
Man muss sich entscheiden: Waren meine Vorfahren ein Haufen brutal kolonisierender Massenmörder, oder waren sie Pioniere, Reformer und dergleichen? Ich empfinde es als sehr schwierig, mit diesem Erbe umzugehen. Wir können ja nichts für unsere Geschichte. Sie ist bereits geschehen, und doch definiert sie unsere Identität in gewisser Weise.
Wie hängt das mit der Orientalismus-Debatte zusammen?
Wir neigen dazu, extrem selbstfokussierte beziehungsweise egoistische Positionen einzunehmen. Unsere eigene Identität und der fehlende kritische Umgang mit ihr führen dann häufig zu einer Abwertung anderer, ähnlich einer Kompensation unserer eigenen Schwächen. Wer wir zu sein glauben ist nicht die Person, die wir wirklich sind. Diese Dissonanz ist allgegenwärtig und kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass der Orientalist in seiner exotischen Orientbeschreibung immer eher sich selbst als den Nahen Osten beschreibt.
Ist das heute immer noch so?
Es hat sich schon einiges geändert. Heutzutage kann ich meinen Studenten sagen, dass unser historisches Erbe etwas ist, das wir unser ganzes Leben lang lernen. Die Bereitschaft, komplexe Zusammenhänge und interne Dynamiken vermeintlich fremder Kulturen zu verstehen, ist enorm gestiegen.
»Napoleon betrat 1798 das Land des biblischen Exodus«
Sie kritisieren, dass viele Historiker in Bezug auf Ägypten Napoleons Ankunft als den entscheidenden Wendepunkt des Landes begreifen.
In der Vorstellung vieler Historiker wurde Ägypten erst durch das Auftreten Napoleons relevant – als ob es vor dem französischen Ägyptenfeldzug keine ägyptische Geschichte oder kein Modernisierungspotenzial gegeben hätte. Man denke nur an das Oberägypten der letzten Jahrhunderte, wo regionale Aufstände die Region langfristig formten. Diese Ignoranz zeigt uns ein weiteres Mal, wie ausgeprägt der Westen die arabische Welt unter dem Vorzeichen eines stagnierenden, orientalischen Despotie-Modells betrachtet. Die Nahostwissenschaften haben historisch die Funktion erfüllt, einen Teil der westlichen Identität zu behüten und bestimmte Narrative aufrechtzuerhalten.
Welche Narrative?
Es ging weniger um Napoleon, als darum, das dem Westen aus der Bibel vertraute Bild Ägyptens beizubehalten: Napoleon betrat 1798 das Land des biblischen Exodus. Nach diesem Verständnis, das nicht immer zwangsläufig religiös geprägt ist, verfiel das Land seit dem Auszug seines Volkes in Stagnation. Napoleons Einmarsch bekommt dadurch eine weitere heroische Komponente, die tief in der westlichen Identität verwurzelt ist. Jemand, der diese Form der subtilen Geschichtsschreibung perfekt beherrschte, war Bernard Lewis ...
... der britisch-amerikanische Orientalist, der 2018 im Alter von 101 Jahren verstarb.
Lewis besaß einen guten Sprachstil und konnte Bücher schreiben, die sich verkaufen ließen. Er erkannte früh, dass die britischen Orientwissenschaften keine Zukunft hatten. Er ging in die USA, wurde zum sogenannten Experten der arabischen Welt und zog dort den kritischen Blick Edward Saids auf sich.
Wie nahm Said seinen Kollegen Lewis wahr?
Said sah in Lewis die Personifikation des Orientalismus. Lewis’ Thesen in Bezug auf Ägypten verliefen häufig in etwa wie folgt: Ägypter hätten schon immer ein Händchen dafür gehabt, Geschichten zu erzählen. Sie besaßen also diese wesentliche Eigenschaft – eine genetisch vererbte pharaonische Tradition sozusagen. Lewis leitete dann davon ausgehend große Teile der modernen ägyptischen Geschichte und Literatur ab. Was auf der Strecke blieb: interne Dynamiken, ägyptische Individualität und Identität. Lewis war äußerst einseitig in seinen Äußerungen. Er argumentierte militäranalytisch, befürwortete den Irak-Krieg 2003 und schuf ein Klima, das dem des Kalten Krieges ähnelte.
»Teilweise machen sie es sich viel zu leicht«
Was entgegnen Sie Menschen, die etwa ein Land wie Ägypten als Beispiel für orientalischen Despotismus heranziehen?
Ich habe viele Gespräche mit solchen Menschen geführt. Teilweise machen sie es sich viel zu leicht. Sie bilden sich ihre Meinung einzig auf Grundlage der westlichen Medien, ohne sich damit zu beschäftigen, was tatsächlich im Land vor sich geht, geschweige denn, das Land zu besuchen. Beim Beispiel Ägypten sollte nicht vergessen werden, dass vor allem die ausländische Ausbeutung Oberägyptens Mitte des 19. Jahrhunderts das Land massiv geprägt hat.
Und wie sieht es mit der Gegenwart aus?
Die derzeitige Situation Ägyptens hat viel damit zu tun, dass das Militär als Unternehmen und fundamentaler Teil der Wirtschaft fungiert und zusammen mit der Polizei und dem Geheimdienst ab 2011 eine Gegenrevolution startete. Das Militär ist schon lange ein entscheidender politischer Akteur in Ägypten. Wir müssten auch über Spitzel, ausländische Söldner und anderen ausländischen Einfluss reden. Auch die internen Dynamiken vor Ort werden allzu häufig ausgeblendet. Eines ist mir wichtig: Ich bin weit davon entfernt, den Apologeten für irgendeine dieser Regierungen zu spielen. Im Ägypten unter Sisi sind Einschüchterung, Überwachung und Folter allgegenwärtig.
Ist in Ägypten denn kein despotisches Regime an der Macht?
Das historisch gewachsene orientalistische Narrativ des arabischen Despoten wird von einem rassistischen Subtext gefärbt. Weder wird es differenziert noch analytisch angewandt. Vielmehr zielt es auf die pauschale Abwertung einer gesamten Bevölkerungsgruppe und eines Kulturraums ab. Das wird doch auch daran deutlich, dass im Unterschied zu der Berichterstattung über den Nahen Osten kein westlicher Nachrichtensprecher Guantanamo oder Abu Ghraib als charakteristische Merkmale der Vereinigten Staaten bezeichnen würde. Im Gegensatz zum Nahen Osten sind das dann immer eher Ausnahmen und nicht die Regel. Uns wurde eingetrichtert, Abu Ghraib sei alles andere als charakteristisch für das amerikanische Militär. Wenn Sie dann weiterforschen und sich etwa mit Söldnertruppen wie Blackwater auseinandersetzen, kommen Sie wahrscheinlich zu einem anderen Ergebnis.
Sie sagen also, da wird mit zweierlei Maß gemessen.
Absolut! Natürlich müssen wir über Despotismus reden, auch innerhalb der arabischen Welt. Dabei jedoch zu essentialisieren, von stagnierenden Kulturen zu sprechen und orientalistische Stereotype wieder und wieder heranzuführen, ist kontraproduktiv.
»Je mehr Texte übersetzt werden, desto schneller können wir kulturelle Barrieren überwinden«
In Ihrem Buch führen Sie an, dass das Fortbestehen autoritärer Regime besser verstanden werden muss.
Es mangelt am grundlegenden historischen, politischen und sozialen Verständnis, aber eben auch am politischen Willen, sich intensiver, ehrlicher und vorurteilsfrei mit verschiedenen Ländern auseinanderzusetzen. Ich habe ja schon viel über Identität gesprochen: Immer wieder sehen wir Dinge, die uns in unserer Wahrnehmung bestätigen, mit denen wir uns identifizieren können. Darauf basiert die Idee des othering – sich selbst oder als Gruppe zu beschreiben und aufzuwerten, indem alle anderen als fremd dargestellt werden.
Das ist ja bereits eine Erkenntnis der Orientalismus-Kritik von Edward Said. Haben Sie auch einen Lösungsvorschlag?
Wir müssen es schaffen, uns unserer Identität kritisch bewusst zu werden und eine ganz andere Vorstellung von uns selbst bekommen. Für mich liegt die Lösung eindeutig im Multikulturalismus. Natürlich ist es noch ein weiter Weg. Wir leben zwar in demokratischen Gesellschaften, doch die weisen viele autoritäre Züge auf. Autoritarismus ist nicht nur eine Eigenschaft diktatorischer, sondern zu einem gewissen Grad auch demokratischer Systeme.
Wie meinen Sie das?
Angesichts unserer westlichen Identität ist es extrem schwierig, sich andere Identitäten vorzustellen. Was wäre aber, wenn wir eine neue Art von amerikanischer Identität haben könnten, eine Identität, die über unsere derzeitige hinausgeht? Dann könnten wir uns beispielsweise marginalisierte Gruppen, wie die Palästinenser, als Menschen vorstellen, als Bürger in einer Gesellschaft zusammen mit den Israelis. Es würden sich völlig neue Handlungshorizonte eröffnen.
Wie stellen Sie sich einen solchen Paradigmenwechsel in der Forschung konkret vor?
Ich betrachte die Einbeziehung regionaler Forschung aus den jeweiligen Ländern in die eigene Forschung als essentiell. Je mehr Texte übersetzt werden und Arabisch immer weniger zum Hindernis wird, desto schneller können wir sprachliche und andere kulturelle Barrieren überwinden. Generell sollte der Schwerpunkt auf Interaktion und Kooperation liegen. Die Wissenschaft muss herausgefordert werden. Wenn sich die Menschen schließlich wirklich mit dem Pluralitätsgedanken auseinandersetzen und der Idee des Multikulturalismus im echten Leben begegnen, wird es sie vom Hocker reißen – sicherlich mehr als die Lektüre von Büchern in Uni-Seminaren.
Peter Gran