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Islam, Abendland, Russland und Tatarstan

Ein bisschen Islam tut dem Osten gut

Essay
von Leo Wigger
Islam, Abendland, Russland und Tatarstan
Die Wolga, an deren Ufern die tatarische Hauptstadt Kasan liegt. Foto: Leo Wigger

In ihrer Angst vor vermeintlicher Umvolkung und Islamisierung schauen Rechte voller Sehnsucht nach Russland. Was für ein geschichtsvergessener Unsinn.

Vor kurzem saß ich in der Stadt Kasan in der Lobby eines sehr russischen Hotels mit Namen Wolga und las einen Artikel über die neue ultranationalistische Intelligenzija in Deutschland. Um es vorwegzunehmen: Einen besonders intelligenten Eindruck erweckte diese Klasse bei der Lektüre nicht. Ein angehender Historiker und vorgeblicher Vertreter dieser neuen Spezies mit dem Aliasnamen Michael schwadronierte darin über Überfremdung und Islamisierung. Er fürchte sich davor, dass europäische Eliten die eingesessene deutsche Bevölkerung austauschen und durch Muslime ersetzen wollten. Eine kulturelle Vernichtung des Deutschen drohe. Er schloss mit der Bemerkung, vielleicht nach Russland auswandern zu müssen. Ganz nach dem Motto, dort sei das gute alte Abendland noch in Ordnung.

 

Ich konnte mir beim Lesen ein lautes Losprusten kaum verkneifen und hätte mir womöglich einen Tadel der bärbeißigen Rezeptionistin eingefangen.

 

Der Glaube, dass in Osteuropa eine romantisch-arkadische Version unseres Kontinents überdauert hat, rein und weitgehend unberührt von einer globalisierten Kommerzkultur, die mit überbordender Gefräßigkeit alles kulturell Eigene und Authentische gleichformt, ist nicht nur in offen rechtsintellektuellen Kreisen verbreitet, sondern findet sich zum Beispiel auch in der sentimentalen Jugoslawien-Verklärung des aktuellen Literaturnobelpreisträgers Peter Handke.

 

Nur liegt der Verklärung des Ostens ein fundamentales Missverständnis zugrunde. Zurück nach Kasan. Die Stadt ist feinstes Postkartenrussland: An den stolzen Ufern der zugegebenermaßen von Menschenhand aufgestauten Wolga gelegen. Der Winter dauert manchmal fünf Monate. Vor den Toren liegen verträumt wirkende Vorstädte voller windschiefer, wettergegerbter Holzhäuschen. Und ein herrlicher Burgberg, der Kasaner Kreml, thront über der klassizistischen Stadt und trägt den UNESCO-Weltkulturerbe-Titel, das Gütesiegel der globalen Hochkultur. Auf dem Kreml, neben der orthodoxen Mariä-Verkündigungskathedrale und dem ehemaligen Gouverneurspalais, ragen aber auch die vier Minarette der Kul-Scharif-Moschee in die Höhe.

 

Der Austausch mit dem vermeintlich Anderen, gerade auch dem Islam, definiert Russland seit seiner Staatwerdung. Und Kasan und die Tataren spielen darin eine zentrale Rolle.

 

Kasan ist die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan innerhalb der Russländischen Föderation. Zugleich ist Tatarstan auch das nördliche Ende der muslimisch geprägten Welt.

 

Die Wolga-Tataren, die in der Republik die Bevölkerungsmehrheit stellen, sind ein muslimisches Turkvolk, eng verwandt mit den Türken. Der tatarische Präsident Röstäm Miñnehanov verfügt zwar über weitgehenden Handlungsspielraum, doch auf die Idee einer Loslösung von Russland kommt kaum jemand. Zu eng sind Russland und Tatarstan verbandelt.

 

Anders als Deutschland war Russland vom Selbstverständnis her nie ein ethnisch homogener Nationalstaat, sondern Monarchie, Imperium, Großmacht. Der Dichter Alexander Puschkin hatte einen äthiopischen Urgroßvater, Josef Stalin kam aus Georgien. Der wundervolle Balletttänzer Rudolf Nurejew entstammte einer muslimisch-tatarischen Familie.

 

Der Austausch mit dem vermeintlich Anderen, gerade auch dem Islam, definiert Russland, diese riesige eurasische Landbrücke, seit seiner Staatwerdung. Und Kasan und die Tataren spielen darin eine zentrale Rolle.

 

In Bolgar mischten sich schon im Frühmittelalter Turkvölker, Slawen und Waräger mit finnischen Pelzhändlern und Gesandten aus Samarkand und Armenien.

 

In der Wolgametropole Bolgar rund 200 Kilometer südlich von Kasan mischten sich schon im Frühmittelalter Turkvölker, Slawen und Waräger (Wikinger) mit finnischen Pelzhändlern und Gesandten aus Samarkand und Armenien. Arabische Geldanleihen machten die Stadt zum Handelszentrum. Zu Hochzeiten war Bolgar eine der größten Städte Europas.

 

Noch heute lassen sich die Reste von Mausoleen und Moscheen in der tatsächlich ziemlich romantischen Landschaft am Übergang zwischen russischer Steppe und schier unendlicher Taiga finden.

 

Auch der russische Urkönig Wladimir von Kiew wäre der Legende nach fast zum Islam konvertiert, wenn er dem Wein nicht so zugeneigt gewesen wäre. So ließ er sich 988 taufen und Russland wurde christlich.

 

Trotz allem Gerede vom »tatarisch-mongolischen Joch«, es war das tatarische Khanat Kasan, das durch Günstlingswirtschaft seinem mittelalterlichen Vasallen Moskau die Niederwerfung ihres großen Kontrahenten Nowgorod ermöglichte, und so die Vormachtstellung Moskaus unter den mittelalterlichen russisch-slawischen Fürstentümern manifestierte. Und es war wiederum die Eroberung Kasans durch Iwan den Schrecklichen im Jahr 1552, die den Startpunkt der russischen Expansion nach Sibirien und Zentralasien und den Aufstieg Russlands in die Riege der Großmächte setzte.

 

Im Gegensatz zur christlichen Rückeroberung Granadas, sechzig Jahre zuvor, vertrieb Iwan der Schreckliche die Muslime nicht. Zwar durften sie nicht mehr innerhalb der Festungsstadt leben und ihre Moscheen wurden niedergebrannt. Doch Tatarstan blieb auch unter den Russen mehrheitlich muslimisch.

 

Schon unter Katharina der Großen öffneten in der Tatarenvorstadt Kasans wieder die ersten sichtbaren Moscheen – mit ausdrücklicher Billigung der Zarin.

 

Und schon unter Katharina der Großen öffneten in der Tatarenvorstadt Kasans wieder die ersten sichtbaren Moscheen – mit ausdrücklicher Billigung der Zarin. Die bis heute erhaltene Mardschani-Moschee von 1770 sieht auf den ersten Blick aus wie ein barockes Stadtpalais, wäre da nicht das Minarett.

 

Mit dem russischen Drang nach Zentralasien und in den Südkaukasus nahm die Rolle des Islams in Russland weiter zu. Man glaubt ja manchmal, das Fragen nach der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie, zur Einhaltung des Ramadan im hohen Norden oder Rufe nach einem feministischen Islam gänzlich neue Themen wären, dabei machten sich im Zarenreich islamische Gelehrte wie Ismail Gasprinski und die Reformbewegung der Dschadidisten (Losung: Turkisierung, Islamisierung, Europäisierung) schon vor über hundert Jahren darüber Gedanken. Ein intellektueller Schatz, der in Westeuropa noch viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

 

Die Tataren spielten übrigens auch bei der osmanischen Belagerung von Wien 1683 eine wichtige Rolle. Der Sieg eines polnischen Heeres unter Johann Sobieski III. gegen die Osmanen in der Schlacht von Kahlenberg gilt bei identitären Rechten als Ausdruck eines Kampfes der Kulturen zwischen Abendland und Morgenland und fand sich zum Beispiel in dem wirren Manifest »2083 – eine europäische Unabhängigkeitserklärung« des Utöya-Terrorists Anders Breivik als Referenzpunkt. Nur: Die muslimischen Lipka-Tataren kämpften damals auf Seiten der polnischen Armee. Der polnische Tatarenoberst Samuel Murza Krzeczowski rettete Sobieski in einer Schlacht sogar das Leben.

 

Auf osmanischer Seite kämpften übrigens neben Siebenbürgern, Moldauern und Walachen vor allem Janitscharen serbischer, bulgarischer und griechischer Abstammung. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Russland mag ein Verlierer der Globalisierung sein, Tatarstan ist ein Gewinner.

 

Bei manchen Feuilletonisten scheint es gerade en vogue, als neue politische Trennlinie einen Gegensatz zwischen globalisierten Eliten, die das Geld fetischisieren, und lokalen Traditionen, die wiederum dem Totem einer authentischen Kultur huldigen, auszumachen. Die gestiegene Beschäftigung mit dieser Dichotomie spiegelt sich nicht zuletzt in der Doppelvergabe des Literaturnobelpreises an Handke und Olga Tokarczuk, die sich beide auf höchst unterschiedliche Art und Weise mit diesem Themenkomplex beschäftigen. Einmal lokal und doch weltzugewandt wie Tokarczuk, und einmal in poetische Traumwelten flüchtend wie Handke.

 

Wobei ich Handke hier kein Unrecht tun will, er ist in seiner sentimentalen Romantik tief verwurzelt in der Ideengeschichte der K.u.K.-Monarchie, wie Russland ein multiethnisches Imperium. Und damit nicht zwangsläufig Gesinnungsgenosse von ahistorisch und rein national argumentierenden Personen wie dem eingangs erwähnten »Michael«. Der Blick aus Tatarstan auf europäische Debatten zeigt eben auch, dass der gerne konstruierte Gegensatz von globalisierter Kommerzkultur und lokal-verankerter authentischer Kultur etwas zu kurz gedacht ist.

 

Nach Moskau gilt die Republik Tatarstan als wirtschaftsstärkstes Subjekt der Russländischen Föderation. Die Republik ist reich und globalisiert. Bodenschätze und eine international aufgestellte Industrie spülen unablässig Rubel in die Kassen der Regierung. Und doch ist Tatarstan kulturell besonders eigenständig. Seit dem Fall der Sowjetunion wurden über 1.000 Moscheen in der ganzen Republik eröffnet. Die tatarischsprachige Musikszene boomt, genauso wie Dichtung und Sprachkurse. Das frisch renovierte Gebäude des Weltkongresses der Tataren kommt wie eine Mischung aus hippem Start-Up-Hub und steril glänzender Luxusklinik daher. Russland mag ein Verlierer der Globalisierung sein, Tatarstan ist ein Gewinner.

 

Der Blick aus Kasan macht es deutlich: Das Kernproblem der selbsternannten neurechten Intelligenzija deutscher Prägung ist also, dass ihnen genau das fehlt, was sie ihren politischen Gegnern mit Vorliebe vorwerfen: ein historisches Bewusstsein.


Die Reise, die die Recherche für diesen Artikel ermöglichte, fand im Rahmen des Fachkräfteaustausches »Beyond the Tatar Tower« der Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. statt.

Von: 
Leo Wigger

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