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Muslimisches Kulturerbe in Deutschland

Raus aus dem stillen Kämmerlein

Feature
»Türkenlouis’ neue Kleider«
Bei den bisherigen Aufführungen des »Türkenlouis« lag der Anteil der Besucher mit Migrationshintergrund bei über 50 Prozent. Auf der Bühne waren es sogar 100 Prozent: Als Hauptdarsteller wurde eine deutsch-türkische Theatergruppe engagiert. Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württembergs

Wie uns die Geschichte der Kammertürken dabei helfen könnte, #MeTwo und Horst Seehofer hinter uns zu lassen.

»Wenn ihm das neue Kleid gefällt, dann bin ich Wilhelm Christian. Wenn nicht, wird aus mir wieder der Türke Abdülkadir«, murmelt der Mannheimer Schneider leise vor sich hin und wartet ungeduldig, bis sein anspruchsvoller Kunde aus dem Ankleidezimmer zurückkommt. Zugegeben, so steht die Szene nicht im Skript des Theaterstücks »Türkenlouis’ neue Kleider«, das im Mai in der Kurpfalzmetropole Premiere feierte.

 

Nach dem Getöse um Mesut Özil fügt sie Hasan Özdemir, aus dessen Feder das neue Stück stammt, ja vielleicht noch nachträglich ein. Darin verknüpft der Lyriker Fiktion und Wirklichkeit rund um Ludwig Wilhelm von Baden-Baden (1655-1707) – schon seinerzeit Türkenlouis genannt – und einem am Hofe des Mannheimer Schlosses lebenden Schneider aus dem osmanischen Bursa.

 

In Zeiten, in denen sich viele Menschen in West- und Zentraleuropa vor der »Islamisierung des Abendlandes« fürchteten, also im Verlauf der »Türkenkriege« des 16.-18. Jahrhunderts gegen das Osmanische Reich – die »besorgten Bürger« von Elbflorenz kommen erst später in diesem Text vor –, schleppten die erfolgreichen Fürsten und Könige allerlei Rüstungen und Dolche als Kriegsbeute zurück mit an die heimischen Höfe. »Alles Trophäen und Ausdruck eines maskulinen militärischen Gehabes, das zeigen sollte, wie toll man ist«, sagt Stephan Theilig. Der Historiker forscht seit Jahren zu muslimischen Lebenswelten in Brandenburg-Preußen.

 

Noch heute zeugt das Inventar der Waffenkammern von Paris bis Hochosterwitz von jenen Tagen. In vielen Schlössern und Burgen sind, so wie in Mannheim, bei genauer Betrachtung Schnauzbärte und Krummsäbel im Stuck zu erkennen. Doch nicht nur in Stein und Stahl gehauene Prunk-und Prahlstücke fanden so ihren Weg zu uns.

 

Hunderte, vielleicht tausende Bewohner des Osmanischen Reiches, »Beutetürken« genannt, wurden in Folge der Kriege ins heutige Deutschland verschleppt. Auch viele Kinder waren darunter. Als spätere Diener oder Mätressen erinnerten sie ihre Herren so auch weiterhin an die glorreichen Schlachten in Mittel- und Osteuropa. Hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Bewunderung, fanden Fürsten wie Ludwig Wilhelm von Baden-Baden auch an der Kleidung und Musik ihrer »Kammertürken« Gefallen.

 

Osmanischer Esprit im Flecken Streusand

 

Die genaue Anzahl dieser meist muslimischen »Türken« – was den ethnischen Hintergrund anbetrifft, verallgemeinerte man schon damals gerne – ist nicht bekannt. Denn sobald aus Abdülksadir in Folge von Zwangstaufen erst einmal Wilhelm Christian geworden war, lässt sich die Spur der frühen muslimisch-deutschen Geschichte nur noch schwer verfolgen: Sie fallen nicht mehr auf. Zu gut »integriert«, würden einige Scharfmacher auf Twitter heute posten.

 

Trotzdem hat Stephan Theilig 340 Biografien osmanischer Kriegsgefangener aus jener Zeit dank akribischer Recherche zusammengetragen. Gesammelt hat er sie in seinem neuen Werk, das er im Herbst auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen wird. Die Schicksale der Beutetürken verlaufen dabei ganz unterschiedlich. Wie der fiktive Schneider in Özdemirs »Türkenlouis«-Stück, stiegen einige von ihnen als Kammertürken gesellschaftlich auf.

 

»Auf die Kammertürken bin ich durch Christian Friedrich Aly gestoßen«, sagt Cem Alaçam. Der Volontär bei den »Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württembergs« (SSBW) und seine Vorgesetzte Karin Ehlers waren maßgeblich an den Vorbereitungen für »Türkenlouis’ neue Kleider« beteiligt.

 

1686 nach der Schlacht von Ofen (Budapest) gefangen genommen und 1692 in Grieben bei Buch zwangsgetauft, avancierte Christian Friedrich Aly, Vorfahre des Historikers Götz Aly, zum gefragten Kammertürken am Hofe von Friedrich III. Im »entvölkerten Flecken Streusand«, wie Theilig das damalige Brandenburg betitelt, versprühte Aly sowas wie osmanischen Esprit – und galt Alaçam als eine reale Vorlage für den Kammertürken am Mannheimer Schloss.

 

Bislang galt die Geschichte der Kammertürken höchstens als »exotisches Aperçu«

 

Das »Türkenlouis«-Stück dient dabei als Teil eines neuen pädagogischen Konzeptes der SSBW. Denn die Vermittlung süddeutscher Hochkultur soll inklusiver werden – angepasst an die Demografie der Region: Laut der Anfang August veröffentlichten Studie des Statistischen Bundesamtes hat fast jeder vierte Deutsche einen Migrationshintergrund. In »Bade-Würteberch« liegt der Anteil demnach gar bei bis zu 50 Prozent. Eine gewaltige Zielgruppe also. Haupteinwanderungsland: Türkei.

 

Die Steuergelder der migrantisch-geprägten Bevölkerung tragen gleichermaßen mit denen der Biodeutschen zum Erhalt des lokalen Kulturerbes bei. Nur mit dem gemeinsamen Zugang, sei es bisher schwer gewesen. Die Kammertürken bieten da Abhilfe. Bisher galten sie höchstens als »exotisches Aperçu«, wie Theilig meint: Anschauen, Unterhalten, Weitergehen. Ihre komplexe Geschichte werde kaum beachtet.

 

Auch nicht von den zahlreichen Bundestagsabgeordneten, die Theilig mit Verweis auf seine Forschung anschreibt, wenn sie »plötzlich irgendwelche interessanten Thesen über die Beziehung des Islams zu Deutschland aufstellen, ohne auch nur ansatzweise ein historisches Bewusstsein zu besitzen«, wie er sagt.

 

Der deutsche Halbmond

 

Während seines Studiums in Heidelberg, berichtet Cem Alaçam, habe das »Aufbrechen nationaler Kunstgeschichte« ebenfalls keine Rolle gespielt. Anlässlich des Gedenkens an das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 rückte die Geschichte des Islams in Deutschland fernab der Gastarbeiterzeit aber stärker in den öffentlichen Fokus.

 

Teile der Kolonialismus-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin erinnerten 2017 etwa an den Bau der ersten Moschee 1915 im Wünsdorfer »Halbmondlager«. Dort waren zeitweise 30.000 britische und französische Kriegsgefangene muslimischen Glaubens interniert und wurden so zum Forschungsobjekt deutscher Ethnologen und Linguisten.

 

Auch die von Historiker Volker Weiß als »deutscher Dschihad« bezeichneten Anwerbungsversuche osmanischer Soldaten unter Wilhelms dem II. sind zumindest Interessierten bekannt.

 

Zu Besuch im sächsischen Morgenland

 

Die Beute-und Kammertürken sind außer einer Handvoll Wissenschaftlern hingegen nur den Wenigsten ein Begriff. Eine Ausnahme bildet die Tscherkessin Fatima, Mätresse August des Starken (1670-1733) und spätere Maria Aurora Spiegel. Ein reger Briefwechsel dokumentiert bis heute ihre Beziehung zum sächsischen Landesvater (bis er sie abservierte).

 

Stephan Theilig bescheinigt in seiner Dissertation von 2013 ausgerechnet der Ikone aus dem Geburtsland der Pegida eine ausgereifte »Turcophilie«: In einem Akt kultureller Aneignung zelebrierte August ähnlich wie Ludwig Wilhelm von Baden-Baden und die Friedriche und Wilhelme (oder war es Friedrich-Wilhelm?) von Brandenburg-Preußen osmanische Kostümfeste. Teile seiner Armee kleidete August der Starke in eigens entworfene Uniformen im Stil osmanischer Janitscharen.

 

Dabei hätten die Ostdeutschen doch selbst darauf kommen können: Mit geringem Rechercheaufwand zur den Hintergründen der DDR-Kultserie »Preußens Glanz und Sachsens Gloria« aus den 1980er Jahren wäre ihnen aufgefallen, dass dort Augusts Mätresse gar nicht vorkommt. Vielleicht ist es mal wieder Zeit für einen Besuch im Dresdner Zwinger. Aber auch vom heimischen Sofa aus kann man dank der Belletristik der letzten Jahre gleich mehrere hundert Seiten über Fatima lesen.

 

Keine »Wohlfühl-Kulturvermittlung«

 

Für Alaçam gibt es aber noch einen weiteren Grund, warum der Bekanntheitsgrad der Kammertürken gering ist: Die Diskussionskultur um Doppelpass und Asylpolitik mache ihre Geschichte »politisch brisant«, wie Alaçam sagt. Auch deswegen hätte man sich in Mannheim lange nicht getraut, dem Thema in Schlossführungen mehr Gewicht zu verleihen. Das bewusst gewählte Genre der Komik für das »Türkenlouis«- Theaterstück verhelfe dem Thema da zu mehr Leichtigkeit.

 

Dennoch: »Wir wollen keine Wohlfühl-Kulturvermittlung betreiben, sondern uns in aktuelle Themen einmischen«, betont der Kunsthistoriker. Anknüpfungspunkte gibt es dafür ja nicht erst seit Mesut Özil und #MeTwo, einer Debatte die neben aller berechtigten Kritik am ehemaligen deutschen Nationalkicker mehr als überfällig ist.

 

Wie überfällig, zeigt sich auch an Dissertation von Stephan Theilig, die sich in Retroperspektive wie durch die Kugel einer Wahrsagerin liest. Bereits 2013 schrieb er: »[E]s ist unmöglich, auf der einen Seite Muslime als Teil der deutschen Identität anzuerkennen, andererseits ihre gelebte Religion auszuklammern.« Die Islam-Debatte und der Heimat(schutz)minister bilden dabei eine lange, eheähnliche Symbiose: Zu alt und bequem, um sich was Neues einfallen zu lassen, zu stur, um einfach mal einen Schlussstrich zu ziehen.

 

Leider halten beide die deutsche Gesellschaft davon ab, sich trotz aller Zahlen und Fakten als eine heterogene Einwanderungsgesellschaft zu begreifen. In Mannheim ist man diesem Ziel durch den Blick zurück auf den »Türkenlouis« bereits ein Stück näher gekommen.

Von: 
Anna-Theresa Bachmann

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