Baschar Al-Assads Onkel Rifaat, bekannt als »Schlächter von Hama«, wurde vor wenigen Wochen in Frankreich festgenommen. Er blickt auf eine lange Geschichte unzähliger Gräueltaten zurück, unter anderem in Aleppo.
Um die Mittagszeit des 11. August 1980, am ersten Tag des Zuckerfestes, riegelten Spezialeinheiten der syrischen Armee das Viertel Al-Maschariqa in Aleppo ab, da dort einige Tage zuvor Sicherheitskräfte angegriffen worden waren. Sie zerrten Männer und Kinder aus den Häusern und trieben sie auf dem nahegelegenen Hanano-Friedhof zusammen – wo die Soldaten das Feuer eröffneten.
In Al-Maschariqa starben an diesem Tag mindestens 83 Menschen – wobei einige der Opfer selbst für den Staatsapparat gearbeitet hatten oder Mitglieder der regierenden Baath-Partei gewesen waren. Es war nicht das erste Massaker in Aleppo im Jahr 1980 und sollte auch nicht das Letzte bleiben.
Im Syrien der späten 1970er Jahre regte sich Widerstand gegen die Baath-Regierung von Hafiz Al-Assad. Die steigende Inflation und immer mehr Geflüchtete aus dem Libanon, nachdem Assads Truppen 1976 in das benachbarte Bürgerkriegsland einmarschiert waren, führten zu rapiden Preisanstiegen auf dem Wohnungsmarkt. Zusätzlich trugen teils willkürlich agierende Sicherheitskräfte, ausgeprägte staatliche Korruption und die Vormachtstellung des Assad-Clans zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung bei. Innerhalb der eigenen Partei, des syrischen Militärs und unter Linken, Intellektuellen und in der Demokratiebewegung regte sich Widerstand gegen die autokratische Herrschaft Hafiz Al-Assads. Doch die eigentliche politische Konkurrenz für die Baath-Partei stellte die islamistische Opposition dar.
Das Artillerie-Schulen-Massaker von Aleppo markierte den Beginn eines regelrechten Guerillakriegs gegen die Baath-Partei
Die in Syrien verbotene Muslimbruderschaft dominierte die Opposition und strebte bereits seit Jahren einen Regimewechsel an. Allerdings stritten sich die Muslimbrüder sowohl untereinander als auch mit anderen islamistischen Gruppen über die Frage, wie der Widerstand gegen die Baath-Partei aussehen solle. Während die Führung der syrischen Muslimbruderschaft zu dieser Zeit den Einsatz von Gewalt noch kritisch sah, formte sich Ende der 1960er Jahre eine islamistische Gruppe um Marwan Hadid, die ab Anfang der 1970er Jahre gezielt Anschläge auf prominente Baath-Mitglieder verübte.
Auf diese Weise sollten Vergeltungsschläge des Sicherheitsapparates provoziert werden, um so die Muslimbrüder von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes zu überzeugen. In »Ashes of Hama« beschreibt Raphael Lefèvre, wie die Gruppe um Marwan Hadid auch über dessen Tod Mitte der 1970er Jahre hinaus agierte und sich zu einer schlagkräftigen Terrorzelle entwickelte. Später nannte sich die Gruppe selbst »Al-Taliaa al-Muqatila lil-Mudschahedin«, die Kämpfende Vorhut der Mudschaheddin.
Am 16. Juni 1979 nahm die Gruppe eine Artillerie-Schule in Aleppo ins Visier. Der diensthabende Offizier, ein Sunnit, steckte mit den Islamisten unter einer Decke. Als die Kadetten, alles junge Alawiten, auf dessen Befehl hin im Speisesaal zusammenkamen, öffnete er die Türen für die mit Maschinengewehren bewaffneten Attentäter. Die schossen in die Menge und töteten offiziellen Angaben zufolge 32 junge Männer, andere Quellen sprechen von bis zu 83 Toten. Das Artillerie-Schulen-Massaker von Aleppo markierte den Beginn eines Guerillakriegs gegen Mitglieder der Baath-Partei, deren Parteigebäude, Polizeibüros, Militäreinheiten und die alawitische Bevölkerung – eine Kriegserklärung an Hafiz Al-Assad.
Allein in Aleppo kamen in den folgenden zwei Jahren mehr als 300 Menschen durch Anschläge ums Leben. Meistens zielten die Angriffe auf Führungspersonal des Militärs und der Baath-Partei. Ende 1979 wurde beispielsweise der Leiter des Nachrichtendienstes in Aleppo getötet. Doch auch einfache alawitische Bürger, die Familien von Regimemitgliedern sowie unbequeme islamische Gelehrte gerieten ins Visier der Attentäter. Immer wieder lieferten sich Islamisten und Sicherheitskräfte in den Straßen der Stadt Gefechte. Die Sicherheitssituation für die Bevölkerung Aleppos verschlechterte sich zusehends.
Die Repression der Opposition wurde zum Kampf gegen den Terror erhoben
In Reaktion auf das Artillerie-Schulen-Massaker von Aleppo verhafteten die Sicherheitsbehörden innerhalb weniger Tage etwa 6.000 Menschen. In einem im Fernsehen übertragenen Gerichtsverfahren wurden 15 Personen, die laut Regime der Muslimbruderschaft nahestanden und von denen die meisten bereits vorher im Gefängnis gesessen hatten, angeklagt, verurteilt und exekutiert. Das Regime machte die Muslimbruderschaft für das Massaker verantwortlich und auch für die Anschläge in den kommenden Monaten identifizierte das Regime die Terroristen stets als Muslimbrüder – ein Narrativ, das den Sicherheitskräften die unterschiedslose Repression der Opposition ermöglichte.
Dass die islamistische Bewegung in Wirklichkeit selbst in Grabenkämpfe um die Frage der Gewaltanwendung verwickelt war, dass das Artillerie-Schulen-Massaker auf das Konto von Al-Taliaa al-Muqatila ging und die Führung der Muslimbruderschaft sich davon zumindest öffentlich distanzierte, und dass die syrischen Muslimbrüder sich zu diesem Zeitpunkt noch größtenteils gegen Gewaltanwendung aussprachen, hinderte das Regime nicht daran, alle Elemente der islamistischen Opposition, sowie große Teile sonstiger Regimegegner im Land, in einen Topf zu werfen. Die Repression der Opposition wurde zum »Kampf gegen den Terror« erhoben, analysiert Lefèvre in seinem Buch.
Einige Monate später, und wohl in Reaktion auf die zunehmende staatliche Repression, folgte die ideologische Wende der syrischen Muslimbruderschaft. Im Oktober 1979 traf sich die Führung in Form des Beratungsorgans (»Madschlis Al-Schura«) in Amman und billigte die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen das Baath-Regime. Wenig später beschloss das Gremium den Aufbau eines militärischen Arms sowie eine Partnerschaft mit Al-Taliaa al-Muqatila.
Im November 1979 verhafteten die Sicherheitsbehörden den Imam der Freitagsmoschee in Aleppo, Scheich Zayn al-Din Khairallah, der den Muslimbrüdern nahestand – und traten so eine erneute Welle der Gewalt los. Die Stadt wurde zum Schlachtfeld: Tägliche Demonstrationen, großflächige Streiks, Angriffe auf Parteizentralen und weitere Attentate auf Offizielle des Regimes folgten. Obwohl bereits 5.000 Soldaten der Eliteeinheit »Saraya al-Difaa« (»Verteidigungskohorte«) sowie tausende Polizei- und Sicherheitskräfte vor Ort waren, schien das syrische Regime zunehmend die Kontrolle zu verlieren.
Mehr als 30.000 schwer bewaffnete Sicherheitskräften umstellten Aleppo
Auf dem 7. Kongress der syrischen Baath-Partei vom 22. Dezember bis zum 7. Januar debattierte die Parteiführung über die weitere Vorgehensweise. Eine besonders harte Linie vertrat dabei Hafiz Al-Assads Bruder Rifaat, Kommandant der Verteidigungskohorte. In »Asad: The Struggle for the Middle East« beschreibt Patrick Seale, dass Rifaat Al-Assad um eine freie Hand im Krieg gegen die Terroristen bat und seine Bereitschaft erklärte, »hundert Schlachten zu schlagen, tausend Festungen zu zerstören und eine Million Märtyrer zu opfern, um Frieden und Liebe sowie die Ehre des Landes und seiner Bürger wiederherzustellen« – die »reaktionäre Gewalt« der Islamisten könne nur mit »revolutionärer Gewalt« bekämpft werden. Nach langen Diskussionen wurde Rifaat Al-Assad offiziell mit der Bekämpfung der Opposition betraut.
In den folgenden Monaten setzten seine Verbände zunehmend schweres Militärgerät ein. Doch die eigentliche Neuerung bestand in der systematischen Bewaffnung von Parteimitgliedern und wohlgesonnenen Organisationen wie beispielsweise Baath-nahen Gewerkschaften. Im ganzen Land hob das Regime Bürgermilizen aus – die Neutralität der Straße war Geschichte: Die Bevölkerung musste sich nun entscheiden, ob sie gegen oder mit dem Regime kämpfen wollte.
Im März 1980 brachen in Aleppo erneut großflächige Demonstrationen und Unruhen aus. Die Islamisten erreichten durch die Einschüchterung von Ladenbesitzern sogar eine zweiwöchige Schließung der Geschäfte im Stadtzentrum. Diesmal entschied das Regime, den Widerstand in Aleppo konsequent und gnadenlos zu zerschlagen. Mitte März brach die Dritte Division der Armee, etwa 10.000 Mann mit hunderten gepanzerten Fahrzeugen, ihre Zelte im Libanon ab und marschierte Richtung Aleppo. Dort schloss sie sich der Verteidigungskohorte und den Spezialeinheiten von Rifaat Al-Assad an – insgesamt umstellten mehr als 30.000 schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Stadt.
Am 1. April 1980 marschierten die Spezialkräfte in Aleppo ein, fünf Tage später folgte die gesamte Truppenstärke der Dritten Division. Mit Schützenpanzern und Panzerfäusten schossen die Truppen auf Wohngebäude und riegelten ganze Viertel ab, Sicherheitskräfte durchkämmten die Häuser und verhafteten Hunderte. Am vierten Tag der Operation stand General Shafiq Fayadh, Kommandant der Dritten Division, Berichten zufolge auf seinem Panzer mitten auf der Straße und verkündete, er sei bereit, »tausend Menschen am Tag zu töten, um die Stadt vom Ungeziefer der Muslimbruderschaft zu befreien«.
Bereits Mitte April waren alle Haftanstalten in und um Aleppo heillos überfüllt – obwohl Spezialeinheiten ein Übergangsgefängnis in der Zitadelle im Zentrum der Altstadt eingerichtet hatten. In den ersten beiden Wochen töteten die Sicherheitskräfte sowie bewaffnete Parteimilizen mehrere hundert Menschen. General Fayadh und seine Truppen sollten für ein ganzes Jahr in der Stadt bleiben – in fast jeder Straße stand ein Panzer.
Das Al-Maschariqa-Massaker war nur eines unter vielen
Trotz dieser neuen Stufe der Brutalität seitens des syrischen Regimes ebbte der Widerstand nicht ab, weder in Aleppo noch im Rest des Landes. Am 26. Juni entkam Hafiz Al-Assad nur knapp dem Tod, als er eine auf ihn geworfene Granate selbst wegtrat und einer seiner Bodyguards sich auf eine zweite warf. Daraufhin befahl sein Bruder Rifaat der Verteidigungskohorte, noch vor Sonnenaufgang ein Blutbad im Tadmur-Gefängnis in Palmyra anzurichten. »Sie öffneten die Gemeinschaftsschlafräume. Sechs oder sieben von uns gingen hinein und töten alle im Raum«, berichtete Isa Ibrahim Fayadh, ein Soldat, der später vom jordanischen Militär verhaftet und verhört wurde, »ich selbst habe ungefähr 15 Menschen mit dem Maschinengewehr niedergeschossen«. Insgesamt starben in dieser Nacht zwischen 500 und 1.000 Insassen – hingerichtet ohne Anklage oder Verurteilung
Am 7. Juli verabschiedete der syrische Volksrat das »Gesetz Nummer 49«, in dessen erstem Artikel es hieß: »[…] jede Person, die zur Organisation der Muslimbruderschaft gehört, wird als kriminell betrachtet und mit dem Tode bestraft«. Alle Mitglieder, die sich nicht innerhalb einer 30-tägigen Frist, die später auf 50 Tage verlängert wurde, meldeten, könnten keine Gnade erwarten. Patrick Seale berichtet, dass sich daraufhin einige hundert Männer stellten –der Großteil der Bewegung sowie die bereits im Exil lebende Führung ließ sich jedoch nicht einschüchtern.
Während der Sommermonate schlugen die Sicherheitskräfte in Aleppo weiter gnadenlos zu – Massaker wie jenes während des Zuckerfestes in Al-Maschariqa blieben kein Einzelfall. Als Vergeltung für Anschläge der Islamisten wurden regelmäßig ganze Viertel abgeriegelt, Menschen aus ihren Häusern gezerrt und an Ort und Stelle niedergeschossen. Obwohl einige Menschenrechtsorganisationen Berichte zu den Massakern in Al-Maschariqa, Suq Al-Ahd oder Bustan Al-Qasr veröffentlichten, sind die Geschehnisse des Sommers 1980 in Aleppo sowie der restlichen Zeit bis zum Abzug der Truppen im Februar 1981 kaum dokumentiert.
Auch über Aleppo hinaus ging das syrische Regime mit brutaler Härte vor. Tausende Mitglieder der Opposition sowie deren Familienmitglieder wurden gefoltert und umgebracht. Der Einfluss des Regimes reichte auch über seine Landesgrenzen hinaus: Im März 1981 drangen drei Männer, vermutlich vom syrischen Geheimdienst, in das Aachener Haus des ehemaligen Vorsitzenden der Muslimbruderschaft, Issam Al-Attar, ein. Al-Attar selbst war nicht vor Ort, doch die Agenten töteten seine Frau vor den Augen ihrer Tochter.
Das Regime siegte, doch »die Intensivierung der Repression war ein Fehler«
Im Februar 1981 beruhigte sich die Situation in Aleppo soweit, dass die Dritte Division wieder abzog – die islamistische Bewegung hatte sich mit Hama ein neues Zentrum in Syrien aufgebaut. Dort schlug die syrische Armee ein Jahr später den Widerstand endgültig nieder – das Massaker von Hama, bei der durch Armeebeschuss der Stadt im Februar 1982 zwischen 10.000 und 40.000 Menschen ihr Leben verloren, erlangte international traurige Berühmtheit und brachte Rifaat Al-Assad den Beinamen »Schlächter von Hama« ein.
Anfang der 1980er Jahre gelang dem Regime von Hafiz Al-Assad der Sieg über die islamistische Opposition. Laut Seale starben allein in Aleppo in dieser Zeit etwa 300 Menschen durch Anschläge oppositioneller Gruppen, über 2.000 wurden von Sicherheitskräften getötet und Tausende landeten in den Gefängnissen und Folterkammern des Regimes. Die staatliche Repression Ende der 1970er Jahre und ganz besonders ab 1980 hatte den Konflikt weiter befeuert. Selbst Abdel Halim Khaddam, der 1984 Vizepräsident unter Assad wurde und am 31. März 2020 im Pariser Exil verstarb, sagte im Jahr 2011 rückblickend: »Das Regime machte einen Fehler, indem es die Repression nach dem Aleppo-Artillerie-Schulen-Vorfall intensivierte. Dadurch radikalisierten sich viele Muslimbrüder und wurden in eine Situation gedrängt, in der sie keine Alternative mehr zum gewaltsamen Kampf sahen«.
Durch die Niederschlagung der islamistischen Opposition in dieser Zeit zeigte das Regime von Hafiz Al-Assad sein wahres Gesicht. Die verhältnismäßig liberale Atmosphäre in Syrien zu Beginn seiner Präsidentschaft war damit Geschichte. Anfang der 1970er Jahre hatte Assad noch Popularität genossen, spätestens ab 1982 wurde er vor allem gefürchtet.
Hafiz‘ Bruder Rifaat spielte eine zentrale Rolle bei der blutigen Niederschlagung der islamistischen Opposition Anfang der 1980er Jahre in Aleppo, Hama und anderen Teilen Syriens. Nichtsdestotrotz, oder vielleicht gerade deswegen, galt er lange als wahrscheinlichster Nachfolger seines älteren Bruders ins syrische Präsidentenamt. Doch Mitte der 1980er Jahre scheiterte ein Putschversuch Rifaats, als Hafiz mit gesundheitliche Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Wenige Jahre später ging Rifaat ins Exil nach Europa und lebte seither in Spanien und Frankreich.
Mitte Juni 2020 wurde er nach dem Urteil eines Pariser Gerichts festgenommen – wegen Geldwäsche, nicht etwa wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.