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Aufstand in Kasachstan

Kasachstans Regime kündigt den Gesellschaftsvertrag

Analyse
von Leo Wigger
Aufstand in Kasachstan
In der Kleinstadt Taldykorgan rissen Protestierende eine Nasarbayev-Statue von ihrem Sockel. KazTag

Lange galt Kasachstan als Hort der Stabilität. Zum Jahresanfang eskaliert dann die Gewalt in dem zentralasiatischen Staat. Was dahinter steckt und was für Präsident Kassym-Jomart Tokayev und den Landesvater im Schatten auf dem Spiel steht.

Zum Jahreswechsel brachen in dem westkasachischen Ölindustriezentrum Zhanaozhen Demonstrationen gegen steigende Flüssiggaspreise aus, die sich in kurzer Zeit von der Provinz Mangystau im gesamten Land ausbreiteten. So gingen beispielsweise auch in der Hauptstadt Nursultan im Norden sowie in Schymkent oder Kizilorda im Süden die Menschen weitgehend friedlich auf die Straße.

 

In der kasachischen Millionenstadt Almaty, der kulturellen Hauptstadt des Landes rund 2000 Kilometer östlich von Zhanaozhen gelegen, eskalierten am 4. Januar die auch hier eigentlich friedlichen Proteste, die sich zunehmend gegen die Regierung sowie die mit dem ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbayev verbundene Herrschaftsordnung richteten und mit der Parole »Schal Ket – Raus mit dem alten Mann« lautstark die Absetzung des omnipräsenten Landesvater forderten, der das Land 1991 in die Unabhängigkeit von der Sowjetunion führte. 

 

Gewaltbereite Demonstranten stürmten und verwüsteten mehrere Regierungsgebäude, darunter den prominenten Sitz der Stadtverwaltung, und besetzen zeitweise gar den internationalen Flughafen. In der Stadt wurden zahlreiche Plünderungen gemeldet. In der Kleinstadt Taldykorgan rissen Protestierende eine Nasarbayev-Statue von ihrem Sockel. Auch Waffendepots könnten gestürmt worden sein.

 

Der Staat reagierte mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Er verordnete eine Senkung des Flüssiggaspreises und rief, erst lokal und dann im ganzen Land, den Ausnahmezustand aus. Videos zeigen schwer bewaffnete kasachische Sicherheitskräfte am Morgen des 6. Januar, die mit Kriegsgerät die Kontrolle über die Innenstadt Almatys zurückgewinnen Am 7. Januar gab der Präsident einen Schießbefehl auf Demonstranten aus. 

 

Nasarbayev selbst räumte seinen Posten als Chef des Sicherheitsrates

 

Zudem wurden das Internet und Messenger-Dienste zeitweise lahmgelegt. Die Regierung von Premierminister Asqar Mamin musste zurücktreten. Ebenso der Geheimdienstchef Karim Massimov, ein wichtiger Strippenzieher der Nasarbayev-Ära, sowie wohl auch dessen einflussreicher Stellvertreter Samat Abish (Update vom 9 Januar: Massimov wurde unterdessen unter dem Vorwurf des Landesverrates festgenommen, Berichte über die Absetzung von Abish haben sich bisher nicht bestätigt).

 

Nasarbayev selbst, der seit seinem Rücktritt und der Machtübergabe als Staatspräsident im Jahr 2019 an seinen von ihm selbst ausgewählten Nachfolger Kassym-Jomart Tokayev, einen erfahrenen Karrierediplomaten, noch viele Fäden in der Hand hält und das eigens geschaffene Amt des »Vaters der Nation« innehat, räumte seinen Posten als Chef des Sicherheitsrates.

 

Um Herr der unübersichtlichen Lage in Almaty zu werden, bat Präsident Tokayev bereits am 5. Januar die Organisation des Vertrages über Kollektive Sicherheit (OVKS) um Hilfe. Das von Russland geführte Militärbündnis entsandte am Folgetag erstmalig Soldaten in ein Mitgliedsland. Neben russischen Soldaten werden auch tadschikische, weißrussische, armenische und nach aktuellem Stand auch kirgisische Truppen in Kasachstan stationiert. Bisher hatte das Bündnis vergleichbare Forderungen, beispielsweise aus Armenien während des zweiten Karabach-Krieges 2020, immer abgelehnt. Ausgerechnet jetzt sitzt der armenische Premier Nikol Paschinyan der OVKS vor.

 

Nach Angaben von kasachischen Regierungsvertretern starben dutzende Demonstranten. Die Sicherheitskräfte nahmen hunderte Menschen fest, über 1000 wurden verletzt. Bis zum Abend des 6. Januar waren nach offiziellen Angaben zwölf Sicherheitskräfte ums Leben gekommen und hunderte verletzt worden. Die tatsächlichen Zahl der Todesopfer könnte weit höher liegen. 

 

»Der Feind muss bewusst vage gehalten werden, denn sonst fällt die Anschuldigung in sich zusammen«

 

Die Proteste hatten sich ursprünglich an der Entscheidung entzündet, die staatliche Subventionierung von Flüssiggas aufzuheben. Aufgrund der bisher günstigen Preise werden viele Autos in Kasachstan mit Gas betrieben: Viele Menschen verdienen sich mit dem Anbieten von Taxidiensten über Apps wie Yandex Geld dazu. Die Preiserhöhung traf Familien also ins Mark, die nach zwei Jahren Covid-Pandemie, grassierender Inflation und angesichts hoher Arbeitslosigkeit wirtschaftlich sowie schon auf dem Zahnfleisch gingen.

 

Zwar änderte die Regierung das Gesetz bereits vor drei Jahren, doch es trat erst am 1. Januar diesen Jahres voll in Kraft, was mancherorts zu einer sprunghaften Verdopplung der Preise auf bis zu 120 Tenge, umgerechnet etwa 20 Cent, pro Liter führte. Doch der Anstieg des Gaspreises war nur der Auslöser, nicht die Ursache der Proteste.

 

Die kasachische Regierung macht »im Ausland trainierte Terroristen« für die Eskalation verantwortlich. In regierungsnahen Telegramkanälen kursieren zudem Nachrichten, dass es sich um arabischsprachige Terroristen gehandelt habe. Botakoz Kassymbekova hält das Szenario für wenig glaubhaft. »Wir kennen dieses Argumentationsmuster aus anderen post-sowjetischen Staaten: Der Feind muss bewusst vage gehalten werden, denn sonst fällt die Anschuldigung in sich zusammen«, erklärt die Historikerin von der Universität Basel im Gespräch mit zenith. »Niemand nimmt der Regierung das ab«. Stattdessen seien die Ursachen hausgemacht. Und tatsächlich brodelt es schon lange unter der Oberfläche.

 

Das autoritär regierte Kasachstan ist im regionalen Vergleich äußerst wohlhabend und galt manchem Beobachter bislang als Hort der Stabilität. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2020 bei rund 9200 US-Dollar, im kulturell eng verwandten Nachbarland Kirgistan waren es zum Vergleich nur rund 1100 US-Dollar. Doch der Wohlstand des an Öl, Gas und Bodenschätzen reichen Landes ist sehr ungleich verteilt. Während internationale Stararchitekten wie Norman Foster die seit 2019 nach Nasarbayev benannte Hauptstadt ganz nach dem Gusto der Elite umbauten und in Almaty schicke Cafés aus dem Boden schossen, profitierten weite Teile der Gesellschaft, insbesondere abseits der großen Städte, kaum vom neuen Reichtum. Die Corona-Krise verschärfte die soziale Spaltung weiter.

 

Schon zu Sowjetzeiten hatten sich im gerade im Westen des Landes immer wieder Arbeiter erhoben und bessere Arbeitsbedingungen gefordert

 

Für viele Kasachinnen und Kasachen kam die Erhöhung des Gaspreises in dieser Gemengelage dann der Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages gleich, glaubt Assel Tutumlu. »Zumal Gerüchten zufolge auch Nasarbayevs Umfeld an den Gasfirmen direkt beteiligt ist, die nun die Preise erhöht haben«, erläutert die kasachische Politologin von der Near East University in Nordzypern im Gespräch mit zenith.

 

Schon zu Sowjetzeiten hatten sich gerade im Westen des Landes, auch jetzt Ausgangspunkt der Proteste, immer wieder Arbeiter erhoben und bessere Arbeitsbedingungen gefordert. Zuletzt brachen 2011 in Zhanaozhen soziale Unruhen unter Ölarbeitern aus, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden. 14 Demonstranten starben damals.

 

Die neuerliche Eskalation unterscheidet sich dagegen im Ausmaß der Gewalt, der konkreten Forderung nach einem Regimewandel und der Ausbreitung in unterschiedliche Landesteile von vorherigen lokalen Protestbewegungen des Landes mit seinen 19 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die mehr als halb so groß ist wie die der EU. Schon die schiere Größe des Landes erstickte bislang die Ausbreitung lokaler Protestbewegungen.

 

Die Protestierenden kamen nun aus ganz unterschiedlichen Teilen und Schichten des Landes. Im Westen waren es wohl vor allem Arbeiter aus dem Bergbau- sowie dem Öl- und Gassektor. Doch auch viele Alte, Arme und die urbane Jugend haben sich den Protesten angeschlossen. Dazu offenkundig aber auch Kriminelle.

 

Augenzeugen zufolge waren die Sicherheitskräfte während des kurzzeitigen Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung auffällig abwesend

 

Ein Problem: Seit der Unabhängigkeit hat die Regierung kaum auf die zugrundeliegenden sozialen Missstände reagiert, sondern immer nur die Auslöser bekämpft: Mit vereinzelten Zugeständnissen wie nun mit der im Eilverfahren staatlich verordneten Absenkung der Gaspreise auf das Vorjahresniveau; und mit Unterdrückung gegen Protestierende und Oppositionelle, wie 2011 in Zhanaozhen. Bekannte Aktivisten wie Asya Tulesova oder Max Bokaev ließ man verhaften.

 

Die sozialen Spannungen seien durch die Bekämpfung der Symptome nie verschwunden. Genau das habe sich nun gerächt, glaubt Bhavna Dave. »Zudem gibt es dank der effizienten Bekämpfung politischer Gegner durch das Nasarbayev-Regime gar keine zentral organisierte Opposition, mit der man nun konkrete Reformen verhandeln könne«, gibt die Kasachstan-Expertin von der Londoner SOAS zu bedenken.

 

Fragen wirft jedoch die rapide Eskalation der Gewalt in Almaty auf. Bhavna Dave hält es für kaum erklärbar, wie es einigen wenigen Protestierenden gelingen konnte, binnen kurzer Zeit den internationalen Flughafen zu übernehmen. »Die kasachischen Sicherheitskräfte sind hochgerüstet, äußerst professionell und auf dem Niveau hochentwickelter Staaten«, sagt die Politologin im Gespräch mit zenith. Doch Augenzeugen zufolge waren die Sicherheitskräfte während des kurzzeitigen Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung auffällig abwesend.

 

Es sei denkbar, dass Teile des Systems gezielt den Kriminellen in die Hände gespielt hätten, etwa um die größtenteils friedlichen Proteste zu delegitimieren. »Die friedliche Revolution wurde von finsteren Mächten gekapert«, glaubt Politologin Tutumlu. »Machtkämpfe innerhalb des Regimes könnten den Gewaltausbruch wenn nicht verursacht, aber zumindest begünstigt haben«, vermutet auch Soziologin Diana Kudaibergenova von der Universität Cambridge im Gespräch mit zenith.

 

»Die Erosion der nach-sowjetischen Ordnung ist 30 Jahre nach der Unabhängigkeit in vollem Gange«

 

Denn das personalisierte Machtsystem Nasarbayevs blieb auch unter Tokayev bisher intakt. Der Karrierediplomat und China-Experte verfügt jedoch kaum über die sicherheitspolitischen Netzwerke und finanziellen Mittel, um sich langfristig eigenständig an der Macht zu halten. Mit dem Geheimdienstchefs Massimov musste nun ein ausgewiesener Insider des Nasarbayev-Systems vorerst seinen Posten räumen. Lokalen Medienberichten zufolge hat der Putin-Vertraute Nasarbayev das Land bereits zusammen mit seiner Tochter Daryga Nasarbayeva verlassen, die einst als aussichtsreiche Nachfolgerin galt (Update vom 9. Januar: Nasarbayevs Pressesprecher Aidos Ukibay wies die Berichte über Twitter scharf zurück und erklärte, dass sich Nasarbayev weiterhin in der Haupstadt Nursultan befinde und im direkten Austausch mit Präsident Tokayev stehe.)

 

So ließe sich durchaus über die Motivation Tokayevs spekulieren, das russische Militär so zügig um Hilfe zu bitten. Möglich, dass der 68-Jährige durch die Präsenz ausländischer Truppen Zeit gewinnt, um seine eigene Position und Ambition zu stärken. Dabei galt Tokayev bisher als loyaler Technokrat, dessen oberstes Ziel sich auf die Sicherung des Systems für die Post-Nasarbayev-Zeit beschränkte.

 

Offen ist derzeit auch, ob die ausländischen Truppen langfristig in Kasachstan bleiben und sich aktiv an der Niederschlagung künftiger Proteste beteiligen werden. Dann könnte sich die aufgestaute Wut schnell gegen Russland wenden.

 

So offen die Szenarien für die politische Zukunft Kasachstans derzeit scheinen, Historikerin Kassymbekova sieht bereits jetzt einen Wendepunkt in der kasachischen Geschichte erreicht: »Die Erosion der nach-sowjetischen Ordnung ist 30 Jahre nach der Unabhängigkeit in vollem Gange.«

Von: 
Leo Wigger

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