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Corona und der Krieg um Libyen

Der gemeinsame Feind der Libyer

Feature
Corona und der Krieg um Libyen
Der Märtyrerplatz in Tripolis im März 2020 Foto: Mirco Keilberth

Während die Kriegsparteien in Libyen den globalen Fokus auf Corona für Landgewinne nutzen, rückt die Bevölkerung zusammen. Lokale Bürgerinitiativen klären über die Gefahren einer Ansteckung auf.

Wie für mittlerweile zwei Drittel aller Menschen weltweit gelten nun auch in Libyen ganztägige Ausgangssperren. In seltener Einigkeit verkündeten die verfeindeten Regierungen im Osten und Westen des Landes fast identische Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Bereits seit letzter Woche haben also nur noch Lebensmittelläden geöffnet, Cafés und Restaurants bleiben bis auf Weiteres geschlossen.

 

Doch während sich über viele Städte seit Beginn der Quarantänemaßnahmen eine fast verstörende Stille gelegt hat, schallt durch die Straßen der südlichen Bezirke von Tripolis das Echo von Granaten-Explosionen und Schüssen. Der Krieg geht trotz Virus weiter – vielleicht geht er sogar gerade wegen der Pandemie in eine entscheidende Phase.

 

Die zahlreichen, seit Gaddafis Sturz aufflammenden Konflikte, haben die verbliebenen staatlichen Strukturen nicht völlig zerstören können. Zu dem Krieg um die libysche Hauptstadt, die anhaltende Blockade der Ölfelder des Landes und die vielen, unbezahlten Löhne kommt nun eine neue Herausforderung; ein mikroskopisch kleiner Feind, den viele Libyer aber als bislang größte Bedrohung sehen.

 

Die überall in Nordafrika verhängten rigiden Maßnahmen gegen die Virusausbreitung bieten den Kriegsparteien in Libyen einen strategischen Vorteil.

 

Bislang liegen erst zehn gemeldete Erkrankungen mit dem Coronavirus in dem Land mit seinen sechs Millionen Einwohnern vor. Doch das liegt auch daran, dass es kaum Möglichkeiten gibt, auf das Virus getestet zu werden. Das sei vielleicht besser so, witzeln einige Libyer, denn mit viel mehr Infizierten könne das Gesundheitssystem des Landes ohnehin nicht umgehen. 75 Millionen libysche Dinar, umgerechnet 47 Millionen Euro, hat die von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Regierung in Tripolis dem Gemeinden in Ost- und Westlibyen bereitgestellt, darüber hinaus 500 Millionen Dinar (940 Millionen Euro) für präventive Corona-Maßnahmen. Die von General Khalifa Haftar geführte Parallel-Regierung in der Cyreneika kontrolliert die verhängte Ausgangsperre scharf und rüstet die Krankenhäuser auf.

 

Maßnahmen, die allerdings nicht in einem Vakuum stattfinden. Denn obwohl Diplomaten angesichts des verhältnismäßig ruhigen Februar gehofft hatten, dass die auf der Libyen-Konferenz beschlossenen 51 Punkte zur Beilegung des Konflikts mithilfe des »Berliner Prozesses« einen Waffenstillstand schaffen würden, hatte sich die militärische Eskalation angedeutet, die jetzt zu beobachten ist: Zu diesen Vorboten gehören die Vielzahl verdächtiger Flug- und Schiffsbewegungen der Partnerländer der libyschen Kriegsparteien in Richtung Misrata, Tripolis und Benghazi.

 

Und so zeigt die Corona-Pandemie, dass die verfeindeten Kräfte weiterhin auf eine ausschließlich militärische Lösung im Kampf um die Schaltstellen der Macht in Afrikas einst reichstem Land setzen. Dabei bieten die überall in Nordafrika verhängten rigiden Maßnahmen gegen die Virusausbreitung einen strategischen Vorteil: Unliebsame Beobachter wie Diplomaten, Vertreter der Zivilgesellschaft oder Journalisten stören nicht. Die Missionen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union im benachbarten Tunesien müssen sich wie der Rest des Landes an die strikte Ausgangssperre halten.

 

Die Mitglieder der UN-Expertenkommission hatten in der Vergangenheit konkrete Beweise gegen die Embargobrecher und über Kriegsverbrechen gesammelt.

 

Die Mitglieder der UN-Expertenkommission hatten in der Vergangenheit konkrete Beweise gegen die Embargobrecher und über Kriegsverbrechen gesammelt, aber auch sie sind nun in ihre Heimatländer zurückgereist. Hinzu kommt, dass die internationale Staatengemeinschaft nach dem überraschenden Rücktritt von UN-Missionschef Ghassan Salamé Anfang März ohnehin nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist.

 

Und so ging die Einheitsregierung von Fayez Serraj am 25. März nach tagelangem Artilleriebeschuss auf die Hauptstadt schließlich zum Gegenangriff über. Ihre westlibyschen Einheiten aus Zintan rückten gegen den Militärflughafen Al-Watyiah westlich von Tripolis vor. Von dem mehrere Quadratkilometer großen Gelände hatte Haftars selbsternannte Libysche Nationalarmee« (LNA) seit Beginn ihrer Offensive am 4. April 2019 viele ihrer Luftangriffe auf die Verteidigungsstellungen von Tripolis geflogen.

 

Dabei schien Osama Zuwail, Kommandeur der regierungstreuen Truppen, mit der Operation »Sturm des Friedens« zunächst ein Coup zu gelingen. 15 Offiziere und mehrere Fahrzeuge seines Gegenspieler Haftar gerieten in die Hände seiner Männer. Erst nachdem die LNA Verstärkung aus den Nachbarorten herbeigeschafft hatte, zogen sich die Angreifer zurück.

 

Mit dem Schmuggel von Benzin und Waren aller Art hatten westlibysche Milizen ihren Kampf in Tripolis finanziert.

 

Nach der Verschleppung der aus den umliegenden Orten stammenden LNA-Offiziere erklärten deren politische und militärische Anführer ihre Loyalität zu Haftars mehrheitlich ostlibyscher Armee. Noch am Abend des Angriffs rollten LNA-Einheiten kampflos in die Städte Regdalin, Al-Azza und Jmel ein und stehen nun unweit des tunesischen Grenzübergangs Ras Jadir und der Küstenstraße – die wichtigste Verbindung von Tripolis nach Tunesien. Jenseits der Grenze wurden bereits eilig Reservetruppen herangeschafft.

 

Al-Watyiah war schon zu Gaddafis Zeiten einer der wichtigen strategischen Militärstützpunkte im Land. Zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze schicken die Menschenschmuggler Flüchtlinge und Migranten nach Europa, mit dem Schmuggel von Benzin und Waren aller Art hatten westlibysche Milizen ihren Kampf in Tripolis finanziert. Kommandeure aus dem von Amazigh bewohnten Ort Zuwara berichten, dass nur noch eine kleine regierungstreue Einheit den Grenzübergang kontrolliert.

 

Sollten Haftars Truppen Ras Jadir einnehmen, befänden sich nur noch die beiden Hafenstädte Zuwara und Zawia unter der Kontrolle der Einheitsregierung. Auch in dem Tripolitaner Bezirk Abu Salim können die LNA mit Unterstützung von sudanesischen Janjaweed-Söldnern und russischen Militärberatern Geländegewinne verzeichnen. Östlich von Tripolis hat hingegen die Einheitsregierung mit Hilfe des türkischen Militärs Fortschritte erzielt. Bei Drohnenangriffen in Sirte starben General Salem Deryag und Ali Sida, zwei der wichtigsten Kommandeure Haftars. Zudem sind die kampfstarken Verbände aus Misrata nun von Ankara mit modernen TOW-Panzerabwehrraketen ausgerüstet worden.

 

Der Führer der größten Hauptstadtmiliz ist nach einem angeblichen Besuch in den VAE abgetaucht.

 

Entscheidender wird für den Kriegsausgang jedoch die Loyalität der westlibyschen Städte- und Stammesallianzen sein – und um das in Tripolis herrschende Milizenkartell ist es merkwürdig still geworden. Haitham Tadschuri, Führer der »Tripolitaner Revolutionären Brigaden«, der größten Hauptstadtmiliz, ist nach seinem angeblichen Besuch in den VAE, einem der wichtigsten Verbündeten Haftars, zunächst abgetaucht. Andere Milizen, darunter die selbsternannte »Zentrale Sicherheitsbehörde« von Abdul-Ghani Al-Kikli, genannt Ghneiwa, stehen im Visier von Innenminister Fathi Bashagha, der sie in die Kommandostruktur seines Ministeriums eingliedern will. Dem aus Misrata stammenden Bashagha werden zudem gute Verbindungen zu westlibyschen Milizen nachgesagt.

 

»Dieser Krieg kann nur mit einem Abkommen zwischen Misrata und Haftar enden«, glaubt ein westlicher Militärexperte. »Die politische Klasse Ostlibyens und Libyens wichtigster Handelsstadt bekämpfen sich zwar, aber sie eint im Grunde das gleiche historische Dilemma: Die von Gaddafi zementierte Konzentration der Macht in Tripolis, wo derzeit nur Premier Serraj und das Milizenkartell das Sagen haben.«

 

Viele Libyer wünschen sich derweil nur noch ein Ende des Kriegs. 150.000 Menschen mussten ihre Häuser in Tripolis wegen der Kämpfe bereits verlassen und der Krieg frisst sich immer weiter in das Zentrum der Hauptstadt. Weil die Haftar ergebenen Stämme die Ölanlagen im Osten Libyens bestreiken, haben viele Beamte seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten – und wegen geschlossener Häfen und Landesgrenzen sind auch die Lager der Großhändler mittlerweile leer. Das von der Serraj-Regierung versprochene Geld sei nicht bei ihm angekommen, klagt Abdul-Raouf Bait Al-Mal, der Bürgermeister des Bezirks Tripolis-Mitte.

 

Eine Krankenversicherung haben nur wenige Libyer, dafür spendet man regelmäßig bei Hochzeiten oder Beerdigungen in die Kasse der Großfamilie oder des Stammes.

 

»Der Stress der letzten Jahre hat auch bei vielen jungen Leuten Bluthochdruck, Diabetes und ein schwaches Immunsystem zur Folge«, glaubt der Aktivist Mohamed Alhmoozi. »Auch ohne Detailwissen ist vielen Libyern die Gefahr der Corona-Pandemie sehr bewusst, sie haben Angst um ihre Eltern und Großeltern.« Mit seiner Bürgerinitiative Tamzawa versucht der 27-Jährige, auf den noch offenen Märkten über die Gefahren einer Ansteckung aufzuklären. Überall im Land sind private Gruppen entstanden, die Spenden sammeln, Gesichtsmasken nähen oder sich als Helfer in Krankenhäusern melden. »Corona bringt nicht die Kriegsparteien, aber die Bürger wieder zusammen. Alle wissen, dass wir letztlich im selben Boot sitzen«, glaubt Alhmoozi.

 

Eine Krankenversicherung haben nur wenige Libyer, dafür spendet man regelmäßig bei Hochzeiten oder Beerdigungen in die Kasse der Großfamilie oder des Stammes. Wegen der Abwesenheit des Staates ist die Familie nun die einzige Form der sozialen Absicherung. Erkrankt jemand der Einzahlenden, werden auch teure Operationen oder Auslandsbehandlungen aus dem Topf bezahlt. Doch wegen der geschlossenen Grenzen wird nun auch das libysche Gesundheitssystem einem Stresstest unterzogen.

 

Ein Tweet der 20-jährigen irisch-libyschen Jane Benamer – die im Zentrum von Tripolis lebt, wo mittlerweile durchgehend Gefechtslärm zu hören ist – fasst die Gefühlslage vieler Libyer am besten zusammen: »Die letzten neun Jahre waren schmerzhaft und voller blutiger Konflikte. Ich habe die Angst kennengelernt. Und dennoch, vor nichts fürchte ich mich mehr als vor dem Corona-Ausbruch in Libyen.«

Von: 
Mirco Keilberth

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