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Die EU und die Türkei

So geht man mit Erdoğan um

Kommentar
Türkische Fahne mit Gebäuden im Hintergrund
Foto: Wikimedia Commons

Die Türkei ist auf dem Weg in die Autokratie, ein Zeichen von Stärke ist das nicht. Die EU täte gut daran, Recep Tayyip Erdoğan nicht länger auf dem Leim zu gehen.

Der Tango zwischen der Türkei und Europa ist so alt wie die Europäische Union selber. Menschenrechte standen oft im Weg, aber auch jenseits davon waren die Vorbehalte groß: Kulturelle Unterschiede, die Wirtschaftsstrukturen, alles Gründe, die gegen einen EU-Beitritt sprachen. Loslassen wollte man aber nie. Alle möglichen Länder treten der EU bei, Bulgarien, Rumänien, aber ein kleines muslimisches Land wie Bosnien-Herzegowina etwa bleibt außen vor.

 

Doch die Gründe für die Verweigerung eines türkischen EU-Beitritts sind profaner: 75 Millionen Türken auf 783.562 Quadratkilometern – das wäre ein geografischer und demografischer Brocken, der im Gegensatz zu den ganzen Zwergstaaten enormes politisches Gewicht hätte. Außerdem ist es fragwürdig, ob man Länder wie Syrien, Iran und Irak an einer europäischen Grenze haben möchte. Also lässt man die Türken zappeln mit der Aussicht auf eine »privilegierte Partnerschaft« und der vagen Hoffnung, doch eines Tages beitreten zu dürfen, bis auch der letzte Anatolier die Hinhaltetaktik bemerkt. Man müsste dem türkischen Staatspräsidenten das Kompliment dafür aussprechen, dass er es schafft, diese Posse zu beenden. Immerhin steht beispielsweise der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok kurz davor, Erdoğan den Stuhl vor die Tür zu stellen.

 

Dass Oberlehrerrhetorik aus Europa geradezu Dünger für Erdoğans Agenda ist, beweist nicht zuletzt das Verfassungsreferendum Mitte April. Die türkische Resignation ist der Grund, warum jedwede Agitation gegen Erdoğan die Enttäuschten in seine Arme treibt. Denn Erdoğan handelt im Gegensatz zur EU nach der Devise »nicht kleckern, klotzen« und dafür ist ihm die türkische Bevölkerung zu großen Teilen sehr dankbar. Die Türkei hatte zu dem Zeitpunkt seines Machtantritts politisch wilde Jahrzehnte voller Militärputsche, Willkür, Korruption und nicht zuletzt brachliegender Wirtschaft hinter sich – unter Erdoğan erlebte die Türkei zeitweise traumhaftes Wirtschaftswachstum.

 

Erdoğans Eiertanz offenbart seine schwache Position – und sollte die EU entspannter zurücklehnen lassen

 

Nun ist Erdoğan weder sonderlich visionär noch volkswirtschaftliches Wunderkind – selbst der akademische Abschluss ist nicht wasserfest – sondern er verwendet einen simplen Zaubertrick: Privatisierung und staatliche Verpflichtung auf Jahrzehnte durch Bombastikprojekte, wie die dritte Bosporusbrücke, den dritten Flughafen und Krankenhäuser ohne Ende – unrentable Prestigeprojekte, die eine bestimmte Klientel zu Milliardären machte, und das auf Kosten der türkischen Bevölkerung.

 

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von Verhaftungen von Oppositionellen, Journalisten, Juristen, Polizisten und Soldaten berichtet wird. Insbesondere seit dem ominösen Putschversuch im Sommer 2016 agiert der Staatspräsident außenpolitisch immer unsouveräner. Erste Konsequenz auf den leicht schwefeligen Geruch nach Bürgerkrieg verspürt der türkische Tourismus, der immerhin 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufbringt. Ob da das allmähliche Tauwetter der russisch-türkischen Beziehungen die Einbußen wieder auffangen kann?

 

Immerhin lässt es sich nicht leugnen, dass die EU in der Vergangenheit über den potentiellen EU-Beitritt den vielleicht noch moderaten Erdoğan nach ihrer Pfeife tanzen ließ, aber ausgerechnet jetzt mit ihm als Despoten Verträge abschließt – aus Angst, er könne seine Schleusen für Flüchtlinge gen Europa öffnen. Ein Druckmittel, das angesichts der Abwehr auf der Balkanroute und der Bedeutung für Erdoğan immer mehr an Kraft verliert. Um es platt zu sagen, der verunglückte Eiertanz des türkischen Staatspräsidenten, den Flüchtlingen eine verminderte Form der Staatszugehörigkeit zu ermöglichen, um sie als Stimmvieh zu gewinnen, offenbart seine schwache Position und sollte die EU entspannter zurücklehnen lassen.

 

Angesichts der aggressiven Einschüchterung sind 51,45 Prozent Zustimmung beim Referendum eine magere Ausbeute

 

Angesichts der verfassungsverletzenden Werbung des Präsidenten für die Verfassungsänderung, seiner Diffamierung von Nein-Wählern als Terroristen, der Bombardierung von kurdischen Oppositionshochburgen, der Einschüchterung und Bespitzelung der Türken im Ausland und nicht zuletzt der möglichen Wahlmanipulation, die noch Raum steht – dafür sind 51,45 Prozent Zustimmung wahrlich eine magere Ausbeute.

 

Europa sollte sich darüber im Klaren sein, dass der zukünftige Austausch mit dem türkischen Staatspräsidenten auf einem dünnen Drahtseil balanciert: Auf der einen Seite Abbruch der Gespräche gegenüber einem demokratisch legitimierten Despoten, der die Opposition mit allen Mitteln, möglicherweise dann auch mittels der Todesstrafe, zum Schweigen bringt. Auf der anderen Seite setzt die EU ihre ohnehin schon gestörte Glaubwürdigkeit beim türkischen Volk aufs Spiel, wenn sie mit ihrer Arroganz vermittelt, der türkische Präsident kämpfe um den Erhalt der türkischen Souveränität.

 

Verfügungen gegen jene türkischen Politiker, die im Vorfeld die Werbetrommel für Erdoğan rühren wollten, unterstützen den Eindruck der Doppelmoral gegenüber der Türkei. Drangsal innerhalb der türkischen Gemeinschaft in Deutschland gegen Oppositionelle, Einflüsterungen aus Ankara über den Religionsverband DITIB, Bespitzelung, Druck und Drohungen – all diese Methoden scheinen in der Debatte nicht berücksichtigt zu werden, dabei wäre es doch wichtig, den Bedrohten schützend zur Seite zu stehen, um so ein Zeichen gegen den Pöbel zu setzen. Anstatt die Deutschtürken für ihre Abstimmung zurück in die Türkei zu wünschen, lasst es Geldstrafen und Sozialdienste hageln für diejenigen, die Erdoğans Indoktrination gewaltsam ausbreiten wollen.

Von: 
Johannes Struck

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