Die Golfstaaten wollen mitbestimmen, wer in Libyen, Algerien und im Sudan das Sagen hat. Ihr Dogma der autoritären Stabilität ist aber kein Ausdruck von Führungsstärke, sondern von Angst.
Algeriens Präsident Abdulaziz Bouteflika wich dem Druck der Straße nach 20 Jahren im Amt, der selbst ernannte Feldmarschall und Warlord Khalifa Haftar entschied sich, den politischen Prozess in Libyen militärisch zu begraben, und Sudans Präsident Omar Al-Baschir wurde vom Militär gezwungen, nach 30 Jahren abzudanken. Während Libyen in die zweite Runde seines postrevolutionären Bürgerkriegs geht, erscheint es, als hätte das Volk in Algerien und im Sudan es geschafft, seine Forderungen nach politischem Wandel zu erfüllen.
Doch obwohl die Entwicklungen in Algiers und Khartum Grund zur Hoffnung geben, verdeutlicht der Aufstieg Haftars in Libyen, wie voreilig die anfängliche Begeisterung über den Fall des Gaddafi-Regimes war. In allen drei Fällen laufen die Erfolge der Protestler Gefahr, von Männern in Uniform unterminiert zu werden – Generäle, deren Ansprüche nach direkter oder indirekter Militärherrschaft den Weg von einer Diktatur zur nächsten ebnen könnten.
Als die Bilder der Revolutionen 2010 und 2011 um die Welt gingen, lösten die Rufe nach mehr sozialer Gerechtigkeit und politischer Freiheit eine Welle liberaler Begeisterung im Westen aus. Der naive Realismus der Anfangstage des Arabischen Frühlings wich Ernüchterung und einem gewissen Zynismus, angesichts der Tatsache, dass einige Länder im Bürgerkrieg versanken, während andere, so wie Ägypten, nach nur einem Jahr ziviler Regierung unter der Muslimbruderschaft in eine Militärdiktatur schlitterten.
Der Islamismus ist sowohl für die VAE als auch für die konservativen Populisten und Islamophoben im Westen ein Schreckgespenst.
Der Militärputsch in Kairo im Sommer 2013 war in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt der liberalen Idee des Arabischen Frühlings. In einer breitangelegten Offensive versuchten die Konterrevolutionäre unter dem Banner der »autoritären Stabilität« die Uhr in die Zeit vor 2010 zurückzudrehen. Mit Ausnahme von Tunesien fuhren sich alle Revolutionen entweder in einem zermürbenden Bürgerkrieg fest oder mussten mitansehen, wie die Überlebenden der Ancien Régimes sich zurück an die Macht manövrierten.
Der Architekt der Konterrevolution sitzt in Abu Dhabi: Kronprinz Muhammad bin Zayed Al Nahyan, auch unter dem Kürzel MBZ bekannt. Als der De-Facto-Alleinherrscher über die Vereinten Arabischen Emirate (VAE), der sich über Jahre durch die Ränge des Militärs nach oben arbeitete, ist MBZ selbst für den steilen Aufstieg des »Kleinen Spartas« am Golf verantwortlich. Getrieben von Paranoia über Regimeerhalt, schaute MBZ mit Argwohn auf die sich emanzipierende Zivilgesellschaft in der arabischen Welt. Den Arabischen Frühling sah er als eine fundamentale Bedrohung der nationalen Sicherheiz. Jeglicher Erfolg einer pluralistischen, zivilen Gewalt wird in Abu Dhabi als eine Niederlage des emiratischen Regierungsmodels des Polizeistaates wahrgenommen.
Abu Dhabis strategisches Narrativ von »autoritärer Stabilität« beruht auf der Angst, dass soziopolitischer Pluralismus zu Chaos und Anarchie führt. Dieses Narrativ fügt sich einfach in die bereits existierenden konservativen und populistischen Ängste im Westen ein – Ängste vor einem neuen gesellschaftlichen und politischen Status quo, der dem politischen Islam zum Aufstieg verhelfen könnte. Der Islamismus ist dabei sowohl für die VAE als auch für die konservativen Populisten und Islamophoben im Westen, die von den Emiraten bereits seit 2014 umworben werden, ein Schreckgespenst.
Das Beispiel, das die VAE hier gerne präsentieren, ist Ägypten, wo die Repression der Zivilgesellschaft durch das Sisi-Regime seit 2013 mit dem Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt wird und mit dem Argument, dass man nach den Jahren der postrevolutionären Unsicherheit wieder »Recht und Ordnung« schaffen will. Dabei verheimlicht Abu Dhabi aber, dass man mehr als nur eine helfende Hand bei dem Umsturz der demokratisch gewählten Regierung Morsi durch das Militär gespielt hatte.
In Algerien haben die anhaltenden Massenproteste und der Rücktritt Bouteflikas eine begrenzte Gelegenheit geschaffen, um die politischen Eliten auf friedlichem Weg zu demilitarisieren.
Dasselbe Narrativ wurde von den VAE auch in Libyen seit 2014 propagiert, um den Aufstieg Haftars ideologisch zu untermauern. Haftar war im Laufe der Revolution aus den USA nach Libyen zurückgekehrt, um das Chaos der Folgejahre auszunutzen und unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung das neu gewählte Parlament zu zerschlagen. Das Terrorismus-Label ist seitdem ein fester Bestandteil des Narratives und hilft, die Vernichtung anderer Oppositionsgruppen zu rechtfertigen, die Haftars Projekt Militärdiktatur im Weg stehen.
Abu Dhabi und Kairo halfen mit Finanzspritzen, Kriegsmaterial und militärischer Unterstützung aus, um Haftars losem Netzwerk von Milizionären den Anschein einer Armee zu geben und auf dem Schlachtfeld einen Vorteil zu verschaffen – nicht zuletzt konnte Haftar sich im Kampf gegen Gegner am Boden immer auf die geballte Luftunterstützung der Ägypter und Emiratis verlassen.
In Algerien, einem Land, das oft als Militär mit einem Staat belächelt wird, haben die anhaltenden Massenproteste und der Rücktritt Bouteflikas eine begrenzte Gelegenheit geschaffen, um die politischen Eliten auf friedlichem Weg zu demilitarisieren. Aber einige sehen in Generalstabschef Ahmad Gaid Salah ein potenzielles Hindernis auf diesem Weg – ein »starker Mann«, der die wirtschaftlichen und politischen Interessen des Militärs zu schützen versucht und einem neuen politischen Status quo misstrauisch gegenübersteht.
In den Emiraten hat er damit große Unterstützung gefunden. In den zahlreichen Treffen mit Kronprinz MBZ in Abu Dhabi in den letzten Monaten hat Salah ein freundschaftliches Verhältnis mit der politischen Führung in den VAE aufgebaut: Beide sehen ein starkes Militär im Hintergrund als Garanten für Stabilität und beide sehen im Islamismus eine strategische Bedrohung.
Abu Dhabis Krieg der Narrative hat im Libyen-Kontext bereits erste Früchte getragen.
Im Sudan hat das Militär derweilen nach Monaten blutigen Protests Präsident Baschir des Amtes enthoben und verspricht, nach einer zweijährigen Übergangszeit die Regierungsgeschäfte an eine zivile Regierung abtreten zu wollen. Während die sudanesischen Aktivisten noch die Verhaftung Baschirs feiern, hofft das Militär sein Überleben als Staat im Staate langfristig zu sichern.
Nachdem der ehemalige Verteidigungsminister General Ahmad Ibn Auf nach 24 Stunden sein Amt räumen musste, erscheint der neue Übergangspräsident, General Abdulfattah Burhan, als der perfekte »starke Mann« in Uniform für Abu Dhabi: Er hat sich im Jemenkrieg als loyaler Partner der Emirate erwiesen und ist einer der wenigen sudanesischen Militärs ohne Verbindungen zur alten islamistischen Garde im Land. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die VAE zusammen mit Saudi-Arabien kurzerhand finanzielle Rettungspakete für Khartum in Höhe von drei Milliarden US-Dollar zusicherten.
Grundsätzlich liegt das Problem des emiratischen Narratives von »autoritärer Stabilität« in der Ambition, die Errungenschaften des Arabischen Frühlings umkehren zu wollen. Und zwar indem man den revolutionären Ansprüchen von soziopolitischem Pluralismus, sozialer Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft ein Modell des autoritären Polizei- und Militärstaats entgegensetzt, das die liberalen Ideale der Revolutionäre ablehnt. Die Gefahr dieses Narratives besteht vor allem im Kontext eines wachsenden Populismus in Europa und den USA, der die Region gerne schablonenartig vereinfacht darstellt.
Die VAE haben weitreichende Desinformationsnetzwerke aufgebaut, die versuchen, über Journalisten, Think Tanker und politische Entscheidungsträger ein simplifiziertes Weltbild über den Nahen Osten zu verbreiten, das den Islamophoben und Orientalisten am rechten Rand in die Hände spielt. Abu Dhabis Krieg der Narrative hat im Libyen-Kontext bereits erste Früchte getragen, als Frankreich sich ganz offensichtlich auf die Seite der VAE schlug, um mit Haftar ein Militär ohne Staat aufzubauen – ganz im Widerspruch zur UN-Initiative. Paris hat das Narrativ der »autoritären Stabilität« als das vermeintlich einzige Gegenmittel zum Schreckensgespenst Terrorismus geschluckt.
Dr. Andreas Krieg ist Assistenzprofessor für Internationale Sicherheit am Londoner King’s College. Von 2013 bis 2017 war er für den Generalstab des Staates Katar beratend tätig.