Ohne den pakistanischen Geheimdienst gäbe es die Taliban in ihrer heutigen Form nicht – und vielleicht auch nicht die Strategie des globalen Dschihad.
Wer verstehen will, wie es den Taliban gelingen konnte, zwei Jahrzehnte gegen eine von den USA angeführte Militärallianz zu bestehen und am Ende siegreich in Kabul einzumarschieren, muss nach Islamabad schauen – beziehungsweise nach Rawalpindi, wo die Streitkräfte Pakistans bis heute ihr Hauptquartier haben. Wenn Premier Imran Khan jetzt den Taliban zu ihrem Sieg gratuliert, dann ist das auch als Kopfnicken an die eigene Militärführung zu verstehen – als Resultat einer Zusammenarbeit, die in die 1980er und 1990er Jahre zurückreicht.
Im Bestreben, jeglichen Einfluss anderer Mächte und vor allem des Erzfeinds Indien in Afghanistan zu unterbinden, unterstützte der Militärgeheimdienst ISI direkt die Taliban – und schuf so ein Klima, in dem die Idee vom globalen Dschihad Al-Qaidas bis zu ihrer Umsetzung reifen konnte.
Asiem El Difraoui, Mitgründer der Candid Foundation, zeigt in diesem Auszug aus seinem Buch, das im November 2021 erscheint, wie Osama bin Laden und Al-Qaida unter den Augen der Taliban in den Jahren vor dem 11. September 2001 die ideologischen, aber auch operationellen Grundlagen schufen, ohne die Phänomene wie der sogenannten Islamischen Staats schwer vorstellbar sind. Es ist eine Geschichte, die in Pakistan beginnt.
Rawalpindi (Pakistan), Herbst 2003. Der Mann mit den graumelierten Haaren mir gegenüber trägt einen maßgeschneiderten Zweireiher. Ich blicke auf perfekt geschnittene Rasenflächen, in makellosem Weiß livrierte Kellner bedienen uns. Mitten in Rawalpindi, der ehemaligen Hauptstadt Pakistans, wo sich immer noch das Hauptquartier der pakistanischen Armee befindet, komme ich mir vor wie in einem britischen Offiziersklub.
»Natürlich haben wir mitgeholfen, die Taliban zu erschaffen, sie militärisch auszubilden und auszurüsten«, erklärt mein Gesprächspartner nicht ohne Stolz. Ziel sei es gewesen, den Bürgerkrieg in Afghanistan zu beenden; außerdem habe man verhindern müssen, dass das Nachbarland unter die Kontrolle der mit Pakistans Erzfeind Indien, mit Russland oder dem Iran verbündeten Kräften gerät, denn dann wäre Pakistan von Rivalen und Feinden umkreist gewesen.
Mein Gegenüber ist nicht irgendein Offizier, sondern einer der ranghöchsten Männer in Pakistans gefürchtetem Militärgeheimdienst, dem fast allmächtigen Inter-Services Intelligence (ISI). Er will nicht, dass ich seinen Namen veröffentliche. Sein ehemaliger Chef, Hamid Gul, den ich anschließend im Garten seiner Villa treffe, hat dieses Problem nicht. Er leitete während des Kriegs gegen die Sowjets den pakistanischen Militärgeheimdienst.
Für ihn ist Osama bin Laden – auch heute noch, zwei Jahre nach dem 11. September 2001 – ein Kriegsheld. Hamid Gul erzählt mit einiger Begeisterung, wie die jungen Männer, vor allem Paschtunen aus Pakistan und Flüchtlinge aus Afghanistan, die extremistischen Religionsschulen seines Landes besuchten (talib bedeutet »Schüler«), um anschließend von der pakistanischen Armee militärisch ausgebildet zu werden.
Und er berichtet stolz, dass Pakistans Militärgeheimdienst nicht nur für die Bewaffnung und logistische Unterstützung der Taliban-Verbände sorgte, sondern dass einige dieser Einheiten auch unter dem Befehl seiner Offiziere standen, etwa 1994 bei der Eroberung Kandahars, der späteren De-facto-Hauptstadt des »Islamischen Emirats Afghanistan«. Nach langen Kämpfen gegen andere islamistische Milizen wurden die Taliban 1996 die stärkste Gruppierung in Afghanistan, besetzten Kabul und übernahmen die Macht.
Mohammed Omar (1960–2013), bekannt als Mullah Omar, wurde »Staatsoberhaupt«. Der Einäugige, der bereits gegen die Sowjets gekämpft hatte, führte ein archaisches und brutales Regime mit öffentlichen Hinrichtungen in Fußballstadien und Massakern unter der Zivilbevölkerung.
Im März 2001 löste sein Befehl, die Buddha-Statuen von Bamiyan zu sprengen, internationale Empörung aus. Unter Mullah Omar gewährten die Taliban Dschihadisten aus aller Welt Unterschlupf, darunter Osama bin Laden, der von hier aus seinen »globalen Dschihad« beginnen konnte. Und der Westen schaute weiter tatenlos zu.
Am 18. Mai 1996 landete Osama bin Laden mit 13 Kindern, drei Frauen und seinem Gefolge aus Leibwächtern und Kämpfern in einer gecharterten Maschine auf dem Flughafen von Dschalalabad. Das Regime im Sudan hatte ihn mehrfach aufgefordert, das Land zu verlassen. Nach dem Anschlag 1995 auf den ägyptischen Präsidenten Mubarak in Äthiopien, der schnell Ayman al-Zawahiri zugeschrieben wurde, war der Sudan auch von Seiten der USA wegen der Unterstützung des internationalen Terrorismus unter Druck geraten.
Bin Laden entschied sich schließlich selbst für die Ausreise nach Afghanistan. Er kehrte in ein Land zurück, in dem er nicht nur hervorragende Kontakte besaß, sondern auch während seiner Abwesenheit eigene Trainingslager unterhalten hatte. Hier konnte er den Aufbau seiner Terrormaschine perfektionieren. Der Countdown zu den größten Anschlägen aller Zeiten, denen des 11. September 2001, lief.
Osama bin Laden vollzog einen entscheidenden Strategiewechsel: Zusammen mit seinem Partner Ayman al-Zawahiri kam er zu dem Ergebnis, ihre damaligen Hauptziele, der Sturz der Monarchie der Sauds und der Diktatur Husni Mubaraks in Ägypten, seien nicht durch direkte Angriffe zu erreichen; da diese »nahen Feinde« von mächtigen »weiten Feinden« – den USA und ihren Bündnispartnern – geschützt würden, müssten letztere selbst angegriffen werden, und das überall auf der Welt.
Diese strategische Neuausrichtung markiert die Geburt des globalen Dschihad. Bin Laden und seine Anhänger nahmen spektakuläre Selbstmordattentate ins Arsenal ihres Terrors auf. Al-Qaida professionalisierte sich. Es wurde in verschiedene Komitees – für Militär- und »religiöse« Angelegenheiten, Rekrutierung, Finanzen und Geheimdienstarbeit sowie Propaganda und Information – aufgeteilt.
Wie interne Dokumente zeigen, war Al-Qaida eine extrem hierarchisierte und bürokratische Organisation. Es war genauestens festgelegt, welche Qualifikation und welches Alter die Direktoren der unterschiedlichen Komitees haben sollten. Es gab regelrechte Arbeitsverträge, die zwischen ledigen und verheirateten Männern unterschieden; Urlaub und die Rückerstattung der Kosten für Flugtickets unterlagen einem Regelwerk. Sogar Fitnesskriterien für eine Al-Qaida- Mitgliedschaft waren festgelegt.
Parallel zur Professionalisierung der Organisationsstruktur Al-Qaidas startete Bin Laden eine Medienoffensive, um die neue Angriffsstrategie bekannt zu machen. Durch Khaled al Fawwaz, seinen »PR-Manager« in London, sowie den Dschihadstrategen Abu Musab al-Suri organisierte er knapp ein Dutzend Interviews mit führenden US-Fernsehsendern, pakistanischen Leitmedien und wichtigen panarabischen Zeitungen.
Einer der ersten Journalisten, mit denen Bin Laden damals sprach, war Abdel Bari Atwan, Chefredakteur der in London erscheinenden unabhängigen palästinensischen Tageszeitung al-Quds alarabi (»Das arabische Jerusalem«). Da er als neutral und integer galt und so dem Oberhaupt Al-Qaidas Glaubwürdigkeit verleihen konnte, erhielt er eine Einladung zum Interview.
Atwan erzählte mir von dem ständig wachsenden Hass Bin Ladens auf Amerika: »Als ich ihn 1996 traf, drohte er mit Anschlägen gegen die USA und deren Staatsbürger. Er hatte allerdings noch nicht die Strategie des globalen Dschihad entwickelt, sondern war auf die in Saudi-Arabien stationierten US-Truppen fokussiert.«
Das habe sich jedoch wenig später geändert, als Al-Qaida mit der Organisation »Ägyptischer Islamischer Dschihad« von Ayman al-Zawahiri fusionierte: »Er geriet immer mehr unter den Einfluss von al-Zawahiri und dessen Idee vom globalen Dschihad, und er bekannte sich dazu, die Amerikaner überall auf der Welt bekämpfen zu wollen.«
Im Februar 1998 veröffentlichten Bin Laden und Al-Zawahiri gemeinsam die Erklärung der Internationalen Islamischen Front für den Heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzritter. Sie besiegelte die Fusion zwischen Al-Qaida, der Organisation »Ägyptischer Islamischer Dschihad« und weiteren kleineren Gruppierungen.
In dem Manifest wurde die Pflicht eines jeden Muslims formuliert, Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten, und damit die Neuausrichtung des Dschihad fixiert. Mit dem Dokument und seinen Interviews hatte Bin Laden seiner Ansicht nach die laut islamischem Recht für den Dschihad notwendige Kriegserklärung an die »westlichen Regierungen und ihre Völker« überbracht. Er beschwerte sich jedoch mehrmals in Interviews, er sei von den westlichen Staaten nicht ernst genommen worden.
Dr. Asiem El Difraoui ist Politikwissenschaftler. Als Mitgründer der Candid Foundation ist er seit 2015 einer der Herausgeber von zenith. Der hier abgedruckte Ausschnitt stammt aus seinem neuen Buch »Die Hydra des Dschihadismus« (Suhrkamp, 350 Seiten, 18 Euro), das am 20. November 2021 erscheint.