In der Ukrainekrise übernimmt die Türkei eine Vermittlerrolle und drängt auf eine Neuausrichtung der westlichen Türkeipolitik – Deutschland könnte dabei die Führung übernehmen.
Das trilaterale Treffen am Rande des »Antalya Diplomacy Forum« war ein kleiner Erfolg für die türkische Diplomatie, auch wenn kein Waffenstillstand zustande kam. Immerhin ist es dem türkischen Chefdiplomaten Mevlüt Çavuşoğlu gelungen, die Außenminister der Ukraine und Russlands an einen Tisch zu bringen. Trotz Differenzen zeigten sich Sergej Lavrov und Dmytro Kuleba gesprächsbereit. Die Lektion für Washington, Brüssel, Paris und Berlin lautet: Die Türkei gehört in die europäischen Friedensbemühungen eingebunden.
Die Türkei ist ein idealer Vermittler zwischen Russland und der Ukraine: Erstens hat Ankara eine klare Haltung eingenommen: Man übt deutlich Kritik an Russlands Angriffskrieg, hat die russische Annexion der Krim nicht anerkannt und lieferte an die Ukraine hochmoderne und von russischen Militärs gefürchtete Bayraktar-TB2-Drohnen. In der UN-Vollversammlung hat Ankara die Russland-Resolution unterstützt und die türkischen Meerengen für die Durchfahrt russischer Kriegsschiffe ins Schwarze Meer gesperrt.
Zweitens unterhält Präsident Recep Tayyip Erdoğan gute persönliche Beziehungen zu Wladimir Putin – in diplomatischen Verhandlungen kein unbedeutender Faktor. Drittens hält Ankara an diplomatischen Beziehungen zu Moskau fest, hat sich bei der Abstimmung zur Suspendierung Russlands vom Europarat enthalten, blieb dem Sanktionsprogramm der Europäischen Union fern und hat den türkischen Luftraum für russische Flugzeuge nicht gesperrt.
Die Türkei hat Russland herausgefordert
Die Militäreskalation und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine haben die geopolitische Irrelevanz der Europäischen Union, Deutschlands und Frankreichs offenbart. Während in Brüssel, Paris und Berlin über die »Rückkehr der Geopolitik« räsoniert und für die Aneignung der »Sprache der Macht« plädiert wurde, hat Ankara Fakten geschaffen.
Ungeachtet der Wirtschafts- und Energieabhängigkeit von Russland – Türkei ist auf russisches Erdgas und Tourismuseinnahmen angewiesen – hat die türkische Flotte Russland im Schwarzen Meer Paroli geboten. In Syrien und Libyen haben die türkischen Streitkräfte Russlands Militärmacht eingedämmt und den Einfluss Moskaus ausbalanciert.
Entgegen Prognosen vieler Beobachter in den Think Tanks in Europa ist die Türkei keineswegs in die politische Abhängigkeit Kremls geraten. Sie hat an vielen Fronten Russland herausgefordert – zuletzt im Kaukasus. Dort musste Moskau nach dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan 2020 hinnehmen, dass es den Frieden gemeinsam mit Ankara überwacht. Mit dem Zangesur-Korridor, der die Türkei mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet, entsteht eine alternative Route für das Erdgas aus dem Kaspischen Meer nach Europa, die nicht durch Russland führt. Europa kann sich stückweit aus der russischen Energieabhängigkeit befreien, indem man die Türkei dabei unterstützt, sich als Energiekorridor zu etablieren.
Mit dem russischen Angriffskrieg gibt es die Friedensdividende nicht mehr. Europäische Staaten werden mehr in Rüstung investieren und eine Abschreckung gegen Russland aufbauen müssen. Das wiederum erfordert eine militärisch starke und politisch vereinte NATO, um deren politische Kohärenz es allerdings nicht zum Besten bestellt ist.
Eine Belastungsprobe stellen die bilateralen Spannungen zwischen Ankara und Washington dar. Die Militärkooperation der USA mit der YPG, dem syrischen Ableger der PKK, während diese gegen die Türkei einen bewaffneten Kampf führte, haben einen tiefen Riss in den Beziehungen bewirkt. Zum Zerwürfnis kam es, als die US-Regierung Erdoğans Auslieferungsersuch für den geistlichen Anführer der in der Türkei mittlerweile als terroristische Organisation eingestuften Gülen-Bewegung nicht nachkam. Die türkische Regierung sieht in Fethüllah Gülen den Strippenzieher hinter dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016.
Für weiteren Zündstoff sorgte Erdoğans Beschuldigung, die USA seien mitverantwortlich für den Putschversuch. Die Obama-Regierung weigerte sich, an die Türkei moderne Patriot-Raketen-Abwehrsysteme zu verkaufen, später wurde die Türkei auch aus dem gemeinsamen Kampfjet-Programm ausgeschlossen. Im Dezember 2020 schließlich verhängte die Trump-Regierung Sanktionen gegen die Türkei wegen Ankaras Rüstungsdeal mit Russland.
Höchste Zeit für eine Neuausrichtung der westlichen Türkei-Politik
Eine stärkere Westanbindung der Türkei ist auch deswegen geboten, weil ein Abdriften Ankaras fatale Folgen für die Schlagkraft der NATO hätte. Die Türkei hat sich als Regionalmacht etabliert und ist dabei, aus der diplomatischen Isolation, in die sie ab 2015 geraten war, herauszutreten. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten fand sie wieder zur Kooperation zurück, mit Ägypten wird verhandelt und mit Israel will sie wieder enger zusammenarbeiten. Der israelische Staatspräsident Isaac Herzog hat bei seinem Türkeibesuch am 9. März den Kooperationswillen bekräftigt.
Es ist also höchste Zeit für eine Neuausrichtung der Türkeipolitik in Washington, Brüssel, Paris und Berlin. Deutschland kann eine wichtige Rolle spielen, die Türkei wieder stärker in das westliche Allianzsystem einzubinden. Beide Länder sind militärisch, (sicherheits-)politisch und wirtschaftlich eng miteinander verflochten, die Türkei ist via Zollunion wirtschaftlicher Teil der EU und offiziell auch Beitrittskandidat. Das bilaterale Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Türkei belief sich 2021 auf rund 37,4 Milliarden Euro. Die Türkei ist ein wichtiger Absatzmarkt für deutsche Industrieprodukte, ein lukratives Investitionsfeld und Produktionsstandort für deutsche Marken wie Mercedes Benz und Siemens.
Ankara will die deutsch-türkischen Beziehungen voranbringen und blickt optimistisch auf die künftige Türkeipolitik der Bundesregierung. Kanzler Olaf Scholz genießt in der Türkei hohes Ansehen, nicht zuletzt aufgrund seines Verhältnisses zur deutschtürkischen Community. Dies wird ihm bei seinem Türkeibesuch am 14. März zugutekommen. Er ist wie kein anderer Regierungschef in Europa dazu geeignet, Meinungsverschiedenheiten des Westens mit Ankara zu überwinden und Interessendivergenzen zu überbrücken. Die türkische Regierung will in die europäischen Konsultationen einbezogen werden und erwartet, dass den sicherheitspolitischen Interessen der Türkei Rechnung getragen wird.
Dazu müsste Bundeskanzler Scholz den bisherigen Kurs gegenüber Ankara aufgeben und Wirtschaftsthemen von politischen Fragen entkoppeln. Ein Fortschritt bei der Modernisierung der Zollunion bei gleichzeitiger normativer Abgrenzung gegenüber Ankara und Kritik an den Demokratiedefiziten und dem Zustand der Rechtstaatlichkeit wäre in beiderseitigem Interesse.
So könnte die Bundesregierung einerseits der in der Bevölkerung und den Medien verbreiteten türkeikritischen Stimmung Rechnung tragen, gleichzeitig die Türkei an die Europäische Union heranführen. Die Brücken zu Ankara würden nicht eingerissen, was angesichts des politisch-militärischen Gewichts sowie der geoökonomischen und -politischen Rolle der Türkei unangemessen wäre.
Ankara wiederum steht in der Bringschuld, will es seine Beziehungen zu Berlin und Brüssel voranbringen. Dafür müsste es Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und individuelle Rechte und Freiheiten auf einen mit europäischen Standards kompatiblen Zustand bringen. Nur so kann den Türkei-Skeptikern, die gegen jede Annäherungspolitik Berlins gegenüber Ankara Einspruch erheben, der Wind aus den Segeln genommen werden.
Dr. Yasar Aydin ist Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule in Hamburg und Senior Researcher am Foreign Policy Institute. Neben Fachbeiträgen zu Türkei und Migration schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Türkei. Analyse politischer Systeme«.