Nach Jahren der diplomatischen Isolation erlebt Damaskus einen Ansturm hochrangiger Besucher mit einem politischen Auftrag. Der Sturz des Assad-Regimes hat ein Vakuum hinterlassen, das jene anzieht, die dabei sein wollen, wenn es unter neuen Vorzeichen um Macht und Einfluss geht.
Es scheint, die Türkei hat derzeit die besten Aussichten, bei den Weichenstellungen für Syriens Zukunft ein entscheidendes Wort mitzureden. Diese Dominanz belegt auch der rege politische Reiseverkehr zwischen Ankara und Damaskus. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der erste ranghohe ausländische Besucher der syrischen Übergangsregierung İbrahim Kalın war, der Chef des türkischen Geheimdienstes. Ihm folgte wenig später Außenminister Hakan Fidan. Es dürfte nurmehr eine Frage der Zeit sein, bis die neuen Herrscher Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich den Hof machen.
In der vergangenen Woche reiste, Asaad Al-Shaybani, der Außenminister der syrischen Übergangsregierung, zum Gegenbesuch in die Türkei – begleitet vom Verteidigungsminister und Geheimdienstchef. »Die Türkei hat das syrische Volk in den letzten Jahren nie im Stich gelassen«, verkündete Shaybani in makellosem Türkisch. Die Sprache hatte der Politiker während des Studiums an einer Istanbuler Universität gelernt.
Das biografische Detail steht beispielhaft für die soliden Kommunikationsstränge, die Ankara in den Jahren des Bürgerkriegs mit den syrischen Oppositionellen geknüpft hat, unter ihnen die nun regierenden islamistischen Rebellen von Hayat Tahrir Al-Sham. Diese Netzwerke bilden jetzt eine Grundlage für Ankaras Bemühungen, den türkischen Einfluss zu zementieren.
Ankaras Drang nach Macht und Vorherrschaft im südlichen Nachbarland ruft vielerorts Unmut hervor, so auch in Israel. Seit dem Gaza-Krieg herrscht offene Feindschaft zwischen Erdoğans Türkei und Benjamin Netanyahus Israel. Wegen ihres neuen Einflusses in Syrien könne die Türkei zu einer größeren Gefahr für Israel werden als Iran, warnten kürzlich israelische Sicherheitsexperten. Die Anwesenheit türkischer Truppen im an Israel angrenzenden Syrien erhöhe die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation zwischen dem jüdischen Staat und der Türkei, so lautet eine der Schlussfolgerungen der nach ihrem Vorsitzenden benannten Nagel-Kommission.
Die Rückkehr des post-revolutionären Syriens in die internationale Gemeinschaft ist keine Einbahnstraße, die ohne Umschweife nach Ankara führt
Die Rückkehr des post-revolutionären Syriens in die internationale Gemeinschaft ist keine Einbahnstraße, die ohne Umschweife nach Ankara führt. Seinen ersten offiziellen Auslandsbesuch unternahm der syrische Außenminister Ende Dezember nach Saudi-Arabien. Es folgten Stationen in Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Jordanien.
Im benachbarten Irak unterlag Saudi-Arabien nach dem Sturz Saddam Husseins im Ringen um Einfluss. Diese Schmach will Riad in Syrien nicht noch einmal erleben. Teheran ist bis auf weiteres aus dem Rennen um eine Vorreiterrolle in Syrien ausgeschieden. Der neue regionale Gegenspieler der Saudis (und ihrer Verbündeten) ist die Türkei.
Die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und der Türkei hat historische Wurzeln und erreichte während des Arabischen Frühlings einen Höhepunkt, als Erdoğans Türkei wegen der Unterstützung für die Muslimbrüder die konservativen Golfmonarchien gegen Ankara aufbrachte. Im Lichte der syrischen Umbrüche erleben wir jetzt eine Neuauflage dieses türkisch-arabischen Antagonismus.
Für die neue syrische Führung besteht die Herausforderung, eine Balance zu finden zwischen den türkischen Avancen und denen der Golfmonarchien. Dabei geht es auch um Hilfe für den Wiederaufbau, den die Syrer ohne massive finanzielle Unterstützung aus dem Ausland nicht beginnen können. Die Europäer spielen in dieser Phase in Syrien eine zweitrangige, abwartende Rolle. Das liegt auch daran, dass sie ihre Kooperationsangebote an politische Auflagen knüpfen.
Eher abwartend ist auch die Haltung der griechischen Regierung. Wenige Tage nach dem Machtwechsel in Damaskus umriss Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis die Grundlagen der Athener Politik: »Wir haben eine Stimme und eine Rolle in Bezug auf das, was heute in Syrien passiert. Erstens, weil wir nah dran sind. Zweitens, weil wir die natürlichen Schutzherren der griechisch-sprachigen und arabophonen Orthodoxen sind. Wir können mit allen sprechen.«
Könnte Ankara nach dem Vorbild der türkisch-libyschen Vereinbarung von 2019 über die Abgrenzung der maritimen Hoheitszonen einen ähnlichen Vertrag mit Damaskus schließen?
In Kommentaren der Athener Presse stehen derweil die Sorgen um die für die griechischen Interessen negativen Auswirkungen eines Machtzuwachs Ankaras im Vordergrund. Dabei geht es vor allem um die Befürchtung, die türkische Regierung könne die Gunst der Stunde nutzen und nach dem Vorbild der türkisch-libyschen Vereinbarung von 2019 über die Abgrenzung der maritimen Hoheitszonen einen ähnlichen Vertrag mit der Übergangsregierung in Damaskus schließen – ohne dabei das Seevölkerrecht zu befolgen.
Die griechische Regierung hat sich an diesen teilweise aufgeregten Diskussionen nicht beteiligt. Vorrang hatte für Athen zunächst die Fürsorge für die orthodoxen Gemeinden in Syrien. Zur Einordnung und zum Verständnis des Selbstverständnisses der Griechen, hier ein Zitat aus der führenden Athener Tageszeitung Kathimerini unter dem Titel: »Griechenland und die Christen Syriens«:
»Griechenland bleibt eine Kulturnation. Die Orthodoxie ist ein strukturelles Element der nationalen Identität. Aus diesem Grund betrachten viele Christen des Nahen Ostens unser Land als Zufluchtsort der Hoffnung, des Glaubens und der Freiheit.«
Die einst zahlreiche christliche Gemeinschaft der Orthodoxen Syriens, die auf eine glorreiche Vergangenheit zurückblickt, ist in den letzten Jahren deutlich geschrumpft. Von aktuell 300.000 Gläubigen ist in griechischen Medien die Rede.
Parallel zur Kirchen-Diplomatie spielt Griechenland im regionalen Machtgefüge des östlichen Mittelmeers und des Nahen Ostens eine zunehmend aktive Rolle
Mitte Dezember besuchte Ministerpräsident Mitsotakis die libanesische Hauptstadt Beirut, wo er mit Patriarch Johannes X. zusammentraf. Der griechisch-orthodoxe »Patriarch von Antiochien und dem gesamten Morgenland«, so der offizielle Titel des religiösen Würdenträgers, der eine der ältesten christlichen Gemeinden der Welt repräsentiert, reiste von seinem Amtssitz in Damaskus an. Athener Medien vermelden, auch das Ökumenische Patriarchat in Istanbul sei in die Bemühungen zum Schutz der Minderheit einbezogen.
Parallel zur Kirchen-Diplomatie spielt Griechenland im regionalen Machtgefüge des östlichen Mittelmeers und des Nahen Ostens eine zunehmend aktive Rolle. Jenseits der von Brüssel koordinierten europäischen Initiativen hat die griechische Regierung in den zurückliegenden Jahren multi- und bilaterale Kooperationen mit wichtigen Akteuren in der Region vorangetrieben. Dazu zählen die trilateralen Kooperationen mit Israel und Zypern sowie das Pendant mit Zypern und Ägypten. Jüngeren Datums ist die »strategische Partnerschaft« mit Saudi-Arabien, die wirtschaftliche, energiepolitische und auch militärische Projekte umfasst.
Anfang des Jahres standen die Entwicklungen in Syrien sowohl bei den Beratungen der Regierungschefs Ägyptens, Zyperns und Griechenlands in Kairo sowie bei dem griechisch-saudischen Gipfel im saudischen Al-Ula im Vordergrund. »Griechenland und Saudi-Arabien teilen dieselbe Vision in Bezug auf die Sicherheit und den Frieden in der Region«, betonte Mitsotakis dort. Die regionalen Allianzen, die Griechenlands außenpolitischen Interessen dienen, eint die Sorge über den wachsenden Einfluss der Türkei und der Wunsch, diesen einzudämmen.
Wie sich die Entwicklungen in Syrien auf den weiteren Verlauf der griechisch-türkischen Beziehungen auswirken – und hier liegt traditionell das Hauptaugenmerk der Athener Außenpolitik – ist zur Stunde offen. Das historisch belastete Verhältnis erlebt derzeit eine Phase der Entspannung. Ankaras Fokus auf Syrien könnte dazu beitragen, die Stabilität an Europas Südostflanke vorerst zu erhalten.
Dr. Ronald Meinardus ist Senior Research Fellow bei der »Hellenischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik« (ELIAMEP).