Am 20. März gab Kasachstans bisher einziger Präsident seinen Rücktritt bekannt. Kasachstan-Expertin Bhavna Davé beschreibt im Interview, wie Nursultan Nasarbayev mit dem Rückzug den Machterhalt sichern und ein Usbekistan-Szenario vermeiden will.
zenith: Frau Dr. Davé, Sie verfolgen die politischen Entwicklungen in Kasachstan seit Jahrzehnten. Inwieweit hat Sie der Rücktritt Nasarbayevs überrascht?
Bhavna Davé: Die Diskussionen über die Zeit nach Nasarbayev schwelen schon eine ganze Weile. Es gab zahlreiche Spekulationen darüber, wann und wie er zurücktreten würde. Interessanterweise wurden diese Diskussionen auch immer wieder aus dem Umfeld des Präsidenten befeuert, um die öffentliche Reaktion auf unterschiedliche Szenarien auszutesten. Auch altersbedingt stellte sich die Frage nach der Nachfolge Nasarbayevs zuletzt immer dringlicher. Trotzdem waren wir alle ziemlich überrascht, als die Ankündigung publik wurde. Die Reaktionen in Kasachstan waren insgesamt voller Hoffnung und sogar Bewunderung dafür, dass Nasarbayev sich zu diesem Schritt entschlossen hat. Aber es sind auch viele Sorgen mit dem Rücktritt verbunden.
Welche Sorgen meinen Sie?
Es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit Nasarbayev wirklich die Macht abgibt. Ja, er ist als Präsident zurückgetreten, aber er ist immer noch der Chef des nationalen Sicherheitsrates, Chef des offiziellen Beratergremiums für den Nachfolger des Präsidenten und er trägt weiterhin den verfassungsmäßigen Titel des Elbassy, des sogenannten Führers der Nation...
... Zudem bleibt er ja auch an der Spitze der bisher auf ihn zugeschnittenen Regierungspartei Nur Otan...
Richtig. Seit einer Verfassungsänderung und einigen anschließenden Reformen in den Jahren 2010/11 wurden Nasarbayev zahlreiche Rechte zugesichert. Unter anderem genießen Nasarbayev und seine Angehörigen Schutz vor Strafverfolgung. Er kann also auch in Zukunft nicht wegen Amtsmissbrauch oder Korruption belangt werden. Kurz gesagt: Zwar ist Nasarbayev nicht mehr Präsident, dafür steht er jetzt auf einem höheren Sockel. Er hält seinen Status, kann aber nicht mehr für alles verantwortlich gemacht werden. Trotzdem kann er erst einmal weiter kontrollieren, wer Präsident wird, wer Ministerpräsident wird, und wer sonst Zugang zu wichtigen Positionen bekommt.
Was mag Nasarbayev denn dazu bewogen haben, diesen Schritt zu gehen?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Insbesondere die jüngsten Entwicklungen in Usbekistan mögen da reingespielt haben. Dort distanziert sich der neue Präsident Shavkat Mirziyoyev immer offener vom Erbe seines Vorgängers Islam Karimov.
»Nachfolger Tokayev werden exzellente Beziehungen nach Peking nachgesagt, er hat aber auch in Moskau studiert und pflegt enge Kontakte nach Russland«
In Zentralasien kam es in den letzten Jahren nicht nur in Uskekistan zu einem Wechsel an der Spitze. Aus der alten Garde der ersten post-sowjetischen Landesväter hielt sich neben Nasarbayev in Kasachstan nur noch Emomali Rahmon in Tadschikistan an der Macht.
In Usbekistan wurde zuletzt gar Karimovs Tochter Gulnara verhaftet. Sie stand aufgrund ihrer politischen Ambitionen und zahlreicher Korruptionsskandale zwar schon unter der Regierungszeit ihres Vaters unter Hausarrest. Dennoch ist mit ihrer Verhaftung eine neue Stufe der Abgrenzung zur Karimov-Ära erreicht. Nasarbayev mag also die Sorge um seine Familie getrieben haben, jetzt seine Nachfolge zu regeln. Seine älteste Tochter Darigha Nasarbayeva ist Abgeordnete des Senats und wird oft als zukünftige Präsidentin gehandelt. Gleichzeitig steht ihr Name aber auch im Zusammenhang mit zahlreichen Skandalen, insbesondere in Bezug auf Offshore-Geschäfte und Immobilien. Auch in den »Panama Papers« fiel der Name Nasarbayeva mehrmals. Ich denke, Nasarbayev wollte mit einem geordneten Rückzug das längerfristige Wohlergehen seiner Familie sichern. Zudem spielt sicher die Angst um sein politisches Vermächtnis eine Rolle. Er will sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern sichern.
Was ist über den designierten Nachfolger und Interimspräsidenten Kassym-Jomart Tokayev bekannt?
Tokayev stammt aus dem engsten Machtzirkel Nasarbayevs. Bisher war er Sprecher des kasachischen Senats und wäre daher laut Verfassung beispielsweise im Falle des Todes des Präsidenten automatisch Nachfolger gewesen. Anders als Nasarbayev spricht der Karrierediplomat Tokayev mehrere Fremdsprachen, auch Englisch und Chinesisch.
Kasachstan ist ja von zwei mächtigen Nachbarn – Russland und China – umgeben, insbesondere die Rolle Pekings gewinnt immer mehr an Bedeutung.
Unmittelbar vor seiner Entscheidung stand Nazarbayev mit Wladimir Putin in Kontakt. Ob es vergleichbare Konsultationen auch mit Xi Jinping gab, ist mir allerdings nicht bekannt. Fest steht: Tokayev werden exzellente Beziehungen nach Peking nachgesagt, er hat aber auch in Moskau studiert und pflegt enge Kontakte nach Russland. Deswegen ist der frühere kasachische Außenminister auf beiden Seiten gut vernetzt. Innenpolitisch gilt er dagegen als ausgesprochen loyal. Eigene Ambitionen werden ihm nicht nachgesagt. Sein politisches Netzwerk in Kasachstan gilt als nicht besonders stark. Für Nasabayev ist er daher eine strategische Wahl – jemand, der in seinen Augen einen reibungslosen Übergang ermöglicht.
»Viele sahen das als Speichelleckerei der neuen Machthaber«
Nun war aber auch der bereits genannte usbekische Präsident Mirziyoyev ursprünglich ein handverlesener Nachfolger eines greisen Staatsgründers. Wie stehen die Chancen, dass sich Tokayev in Zukunft von Nasarbayev distanzieren könnte?
Genau können wir das natürlich nicht wissen. Bisher gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Dass die Präsidententochter Darigha Nasarbayeva zur Sprecherin des Senats ernannt und damit nun die Stellvertreterin Tokayevs ist, zeigt meiner Meinung nach eher, wie strategisch klug die Machtübergabe geplant wurde. Tokayev hat als eine seiner ersten Amtshandlungen übrigens die Umbenennung der Hauptstadt Astana in Nursultan angeregt (Anm. der Red.: Inzwischen haben beide Kammern des kasachischen Parlaments dem Vorschlag einstimmig zugestimmt). Im ganzen Land werden nun Straßen nach Nasarbayev benannt. Das Ausmaß an Lobpreisungen auf den scheidenden Präsidenten ist bemerkenswert. Ich glaube, das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich diese Offiziellen davon Karrierevorteile versprechen.
Wie kam das in der Öffentlichkeit an?
In Astana und anderen Städten reagierte die Öffentlichkeit eher schockiert. Viele sahen das als Speichelleckerei der neuen Machthaber und wiesen darauf hin, dass die schnelle Umbenennung der Stadt ohne vorherige Konsultation der Öffentlichkeit verfassungswidrig sei. Sollte der öffentliche Druck nicht nachlassen, kann es durchaus sein, dass Nasarbayev die neue Regierung dazu auffordern wird, die Namensänderung und andere Exzesse des Persönlichkeitskultes wieder zurückzunehmen. Mindestens genauso wahrscheinlich ist aber, dass das ausbleibt.
Wird Tokayev bei den für 2020 angesetzten Präsidentschaftswahlen das Zepter also direkt an Darigha Nasarbayeva übergeben?
Das lässt sich im Moment noch nicht absehen. Selbst wenn Darigha eines Tages der Sprung ins Präsidentenamt gelingen sollte, werden die Karten spätestens nach dem Tod Nursultan Nasarbayevs neu gemischt. Dann könnte Kasachstan ein echter Machtkampf bevorstehen.
Dr. Bhavna Davé lehrt an der »School of Oriental and African Studies« (SOAS) der Universität London zu den Themen Sicherheit und Geopolitik in Zentralasien. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Migrationsbewegungen aus Zentralasien sowie dem wachsenden chinesischen Einfluss in der Region. Sie ist Autorin des Buches »Kazakhstan: Ethnicity, Language and Power« (Routledge).