Die äthiopische Journalistin Tsedale Lemma über offene Rechnungen zwischen Sudan und Äthiopien – und warum die Hoffnung auf Frieden am Horn von Afrika in Sansibar liegt.
zenith: Welche Auswirkungen hat der anhaltende Konflikt im Sudan auf Äthiopien?
Tsedale Lemma: Die Menschen wollen der Gewalt im Sudan entkommen. Westäthiopien, entlang der Grenzen der Amhara-Region, ist dabei für viele Flüchtlinge eine Anlaufstelle. Wir haben aber kaum die Kapazitäten, uns um alle zu kümmern: Äthiopien muss bereits 4,5 Millionen Binnenvertriebene versorgen.
Wie steht es um die Beziehungen zwischen Khartum und Addis Abeba?
Vor über zwei Jahren verschärften sich die Spannungen wegen einer 30 Jahre alten Grenzvereinbarung. Denn eigentlich durften äthiopische Bauern ihre Felder in den fruchtbaren Gebieten in Al-Fashqa bestellen – auf das Sudan und Äthiopien formell Anspruch erheben. Die sudanesische Armee unter Abdulfattah Al-Burhan übernahm dann 2021 die Kontrolle über das Gebiet und vertrieb die Bauern. Äthiopien könnte die instabile Lage im Nachbarland nutzen, um die territorialen Verhältnisse wieder zu ändern. Allerdings glaube ich auch, dass beide Länder im Moment derart mit Konflikten im Innern beschäftigt sind, dass niemand ein Interesse an einer weiteren Front hat.
Beide Länder sind zudem Nilanrainer.
Der »Grand Ethiopian Renaissance Dam« birgt seit Jahren Konfliktpotenzial in der Region. Bislang hat sich Sudan hier als Zünglein an der Waage zwischen den Streithähnen Ägypten und Äthiopien positioniert. Möglich, dass sich Kairo nun durch Unterstützung einer Kriegspartei im Sudan auch Rückendeckung in den Verhandlungen mit Addis Abeba verspricht.
Inwiefern mischt Eritrea in den Konflikten in der Region mit?
Eritreas Einmischung bereitet in geopolitischer Hinsicht jede Menge Probleme am Horn von Afrika. Das Regime von Isaias Afewerki entsendet etwa Soldaten über die Grenze, um verbündete Fraktionen der ostsudanesischen Rebellengruppen zu unterstützen. Historisch gesehen ist Eritrea erfahren darin, sich in fragile Situationen so einzumischen, um daraus Profit zu schlagen: Sei es im Jemen, Somalia, Dschibuti und auch in Äthiopien.
»Rechenschaft ernst nehmen, um einen Präzedenzfall mit Blick auf die weiterhin schwelenden Konflikte zu schaffen«
Trotz des Friedenschlusses im vergangenen Herbst sollen sich immer noch eritreische Truppen in der Konflikt-Region Tigray im Norden Äthiopiens aufhalten.
Ja, eritreische Soldaten besetzen weiterhin Gebiete, vor allem im Nordosten Tigrays. Die Minderheiten der Irob und der Kunama sind besonders gefährdet, zumal in diese Gegenden keine humanitären Hilfen gelangen. Die eritreischen Truppen behindern laut der Lokalverwaltung auch die Teams der Afrikanischen Union (AU), die die Umsetzung des Friedensabkommens überwachen sollen.
US-Außenminister Anthony Blinken hat bei seinem letzten Besuch in Äthiopien im März Rechenschaft in Bezug auf Kriegsverbrechen im Tigray-Konflikt gefordert. Ist das realistisch?
Nein, da habe ich große Bedenken. Vor allem, weil die äthiopische Regierung darauf besteht, dass entsprechende Verfahren auf lokaler Gesetzgebung fußen – und eben nicht auf dem internationalen Völkerrecht. Ich denke, es lägen genug Beweise für eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor – ich persönlich denke auch, dass man hier von einem Genozid sprechen kann. Allerdings erlaubt Äthiopien immer noch keine unabhängigen Untersuchungen seitens der Vereinten Nationen. Der Grad der Beteiligung an solchen Verbrechen ist aber die Voraussetzung für Rechenschaft.
Wird Aufarbeitung für den Umgang mit zukünftigen Konflikten helfen?
Auf jeden Fall. Äthiopien steckt ja in einem Dutzend von Konflikten, die immer wieder aufbrechen und in militarisierte Gewalt umschlagen: in Tigray oder etwa auch Oromia. Die äthiopische Regierung sollte das Thema Rechenschaft also ernst nehmen, um einen Präzedenzfall mit Blick auf die weiterhin schwelenden Konflikte zu schaffen.
Noch 2019 wurde Premierminister Abiy Ahmed für den Friedensschluss mit Erzfeind Eritrea mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Und dennoch verantwortete er einen der verheerendsten Krieg unserer Geschichte und verweigert sich einer aufrichtigen Aufarbeitung. Der Nobelpreis macht ihn nicht zum Friedensstifter. Die Weichen für die Eskalation wurden schon zu Beginn seiner Amtszeit im April 2018 gestellt: Attentate auf hochrangige Lokalpolitiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens etwa in Oromia und Amhara wurden strafrechtlich nicht verfolgt. Das hat die Dynamiken im Land verändert.
»Die Gelegenheit nutzen, einen Staat zu schaffen, der so divers ist wie das Land selbst«
Der bewaffnete Konflikt zwischen Zentralregierung und Oromo-Befreiungsfront (OLA) dauert ja schon seit 1973 an.
Der Krieg in Tigray hat den Oromo-Konflikt in den letzten beiden Jahren überschattet. Auf der anderen Seite hat er das Interesse der internationalen Gemeinschaft aber wiederbelebt: So unvollkommen der Frieden in Tigray ist, so zeigt er doch, dass selbst in auf den ersten Blick ausweglosen Konflikten Frieden zumindest möglich erscheint.
Wer treibt diese Bemühungen zur Lösung des Oromo-Konflikts voran?
Die Regierungen von Norwegen und Kenia sowie der ostafrikanische Staatenbund »Intergovernmental Authority on Development« (IGAD). Die erste Verhandlungsrunde startete im Mai auf Sansibar. Auch die Einbindung externer Akteure wie der EU ist grundsätzlich erwünscht. Allerdings können sich die Kriegsparteien nicht darauf einigen, welche Rolle Brüssel oder die Vereinigten Staaten im Friedensprozess spielen sollen. Klar ist: Die Wirtschaft liegt am Boden und die äthiopische Regierung kann nicht noch einen weiteren Krieg schultern.
Wie wirkt sich die Lage in Äthiopien auf Sicherheit und Stabilität in der Gesamtregion Horn von Afrika aus?
In den drei Jahrzehnten vor Abiy Ahmeds Amtsantritt war Äthiopien ein stabilisierender Faktor in einer unruhigen Region – und verhinderte beispielsweise ein weiteres Ausgreifen der somalischen Terrorgruppe Al-Schabab. Seit sich der Premier mit Eritreas Diktator Afewerki zusammengetan hat, sind wir vom Stabilitätsanker zum fragilsten Staat am Horn von Afrika herabgesunken. Ahmed schafft es nicht, seine Verbündeten einzuhegen: Die eritreischen Truppen weigern sich, aus Teilen Tigrays abzuziehen. Und die Lokalmilizen, die an der Seite der äthiopischen Armee gekämpft haben, lassen sich nicht so einfach wieder entwaffnen und erheben zudem eigene Territorialansprüche in Tigray. Der eine Konflikt befeuert also gleich den nächsten: Nach Tigray kommt Amhara.
Wie lässt sich diese Dynamik durchbrechen?
Wenn Abiy Ahmed so weitermacht, ist er nicht mehr als der Warlord von Addis Abeba – wechselnde Allianzen mit lokalen Milizen und die Aufrüstung bestimmter Bevölkerungsteile werden die Souveränität des Zentralstaats nicht wiederherstellen. Der Ball liegt allerdings auch bei den Regierungen der Bundesstaaten. Sie sind ebenso in der Pflicht, die konstitutionelle Ordnung zu respektieren. Vor allem aber muss der Staat den Komplexitäten Äthiopiens gegenübertreten. Der Umgang mit Diversität hat Äthiopien in den letzten 50 Jahren zu einem sinkenden Schiff gemacht. Jetzt sollten wir endlich die Gelegenheit nutzen, einen Staat schaffen, der so divers ist wie das Land selbst.
Tsedale Lemma