Lesezeit: 12 Minuten
Interview zu IS, Al-Qaida und den Taliban in Afghanistan

»Der nationale Dschihad hat Vorrang vor dem globalen«

Interview
von Leo Wigger
So regieren die Taliban
Eine Gruppe Taliban in der Gegend um das westafghanische Herat Foto: Marcel Mettelsiefen

Im April wurde Afghanistan erneut von Anschlägen erschüttert. Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi über das Verhältnis zwischen den Taliban, Al-Qaida und dem IS, die Rolle Pakistans und Irans und wieso der lokale IS-Ableger in der Krise steckt.

zenith: Was steckt hinter der Serie von Anschlägen des IS-Ablegers »Islamischer Staat – Khorasan« (IS-K) seit Anfang April?

Antonio Giustozzi: Die IS-Anhänger wollen den Eindruck erwecken, dass sie auf einem Rachefeldzug sind, weil ihr »Kalif« Abu Ibrahim Al-Hashimi Al-Quraishi vor einigen Wochen in Syrien getötet wurde. Die Taliban hatten damit zwar nichts zu tun, aber der IS-K will zeigen, dass es ihn nach einer mehrmonatigen Pause seit dem letzten größeren Angriff im November immer noch gibt. Auch wenn die Taliban nur wenige Informationen über die Anschlagsserie bekannt gegeben haben, ist die allgemeine Richtung ziemlich klar: Der IS-K hat es in erster Linie auf »weiche Ziel« abgesehen, meist Zivilisten der schiitischen Hazara.

 

Aber warum gerade jetzt?

Es ist Frühling in Afghanistan, nach dem langen Winter traditionell Hochsaison für Anschläge. Aber im Grunde genommen spielte das Wetter keine Rolle – die Angriffe erfolgten ja im Stadtgebiet. Der IS wollte das Momentum nutzen, das gerade durch vermehrte Aktivitäten anderer Oppositionsgruppen entstand. Man schlug deshalb zwar nicht in Abstimmung, aber parallel zu anderen Gruppen zu, um die Taliban noch effektiver zu schwächen und den Eindruck zu erwecken, dass die Taliban mit der Situation nicht zurechtkommen.

 

»Dem IS-K fehlen die Kapazitäten, um etwa gezielte Tötungen von Taliban-Führern oder Angriffe auf Ministerien durchzuführen«

 

Sind die Angriffe ein Zeichen der Stärke oder der Schwäche des IS?

So hart es auch klingen mag, die Ziele, die der IS-K jetzt ausgewählt hat, sind eher leicht zu treffen. Jeder kann eine Moschee oder eine Schule angreifen. Aber dem IS-K fehlen die Kapazitäten, um etwa gezielte Tötungen von Taliban-Führern oder Angriffe auf Ministerien durchzuführen. Solche Operationen deuten nämlich darauf hin, dass man über gewisse Kapazitäten bei Aufklärung und Informationsbeschaffung verfügt. Dass man zum Beispiel Taliban-Mitglieder verfolgen kann. Das wäre ein Indikator für echte militärische und nachrichtendienstliche Fähigkeiten. Genau das haben die Taliban ja jahrelang getan. Der IS scheint dazu aber nicht in der Lage zu sein. Der einzige bestätigte Vorfall dieser Art war die Ermordung eines Taliban-Sicherheitsoffiziers in Jalalabad.

 

Was ist über die logistischen Kapazitäten des IS-K bekannt?

Die lange Pause zwischen dem letzten Anschlag in November und der aktuellen Anschlagsserie deutet darauf hin, dass es der Gruppe an Sprengstoff mangelt. Es sprich vieles dafür, dass die logistischen Fähigkeiten eingeschränkt, aber intakt sind. Von Schmugglern erfahren wir, dass der IS immer noch der größte Waffenkunde im Osten Afghanistans ist – die Gruppe hat also immer noch gewissen Zugang zu Finanzierungsquellen. Wir wissen jedoch nicht, ob die IS-Zellen neu oder alt sind. In Masar-i-Scharif hatte der IS zuvor keine Anschläge verübt. War dafür eine neu rekrutierte Schläferzelle verantwortlich oder eine bereits bestehende und nun aktivierte? Masar ist eine Stadt mit viel Handel, viel Bewegung und einer gemischten Bevölkerung. Es ist also relativ einfach, dort eine Zelle einzurichten. Ortsfremde, wie Paschtunen aus anderen Teilen des Landes, fallen nicht sofort auf.

 

Über wie viele Kämpfer verfügt der IS-K?

Die Lager der Gruppe befinden sich im äußersten Osten, in Nuristan und den nördlichen Tälern von Kunar. Ein sehr unzugängliches Gelände, weit abgelegen in den Bergen. Immer wenn gerade keine Gefahr durch Talibankräfte vorliegt, kann der IS dann seine Präsenz auf die umliegenden Dörfer ausweiten. Die Taliban haben sich bei der Bekämpfung des IS auf die benachbarte Provinz Nangarhar konzentriert, die strategisch wichtiger und ein weiterer traditioneller IS-Hotspot ist. Die Taliban scheinen bei der Eindämmung dort recht erfolgreich gewesen zu sein, insbesondere in der Gegend um Jalalabad. Dafür haben die Taliban ihre Präsenz in Kunar zurückgefahren. Sie kontrollieren dort immer noch die Fernstraßen und alle Städte, aber in den Dörfern der Provinz hat der IS-K seine Präsenz in den letzten Wochen ausgebaut.

 

»Viele der zentralasiatischen Kämpfer des IS hatten genug davon, als Kanonenfutter in Syrien oder Afghanistan zu enden«

 

Ist der IS-K außer in seinem Kernland im Osten noch in anderen Landesteilen präsent?

Die Gruppe kontrolliert noch einige Teile von Badakhshan im Nordosten, im Wesentlichen nur Teile eines Tals im Distrikt Jurm. Während es sich bei den meisten IS-Kämpfern in Nuristan und Kunar um einheimische Paschtunen handelt, waren viele ihrer Rekruten in Badakhshan zentralasiatischer Herkunft, die nun wieder zu Al-Qaida übergelaufen sind. Außerdem hat die Angst vor einem russischen oder chinesischen Angriff den IS-K gezwungen, seinen Hauptstützpunkt dort aufzulösen. Insgesamt kontrolliert der IS-K weniger als ein Prozent des afghanischen Territoriums und hat nur wenige tausend Kämpfer unter seinem Kommando.

 

Von außen betrachtet sieht es so aus, als ob der IS seine Präsenz in der gesamten Region ausbauen will und seine Propaganda in zentralasiatischen Sprachen verbreitet. Dazu kommen Berichte über bewaffnete Auseinandersetzungen an den Grenzen zu Usbekistan und Turkmenistan.

Viele der zentralasiatischen Kämpfer des IS hatten genug davon, als Kanonenfutter in Syrien oder Afghanistan zu enden. Sie waren auch 2019/20 an vorderster Front dabei, als die Taliban mit US-Hilfe den IS in Nangarhar und Kunar deutlich zurückschlugen – eine verheerende Niederlage, unter deren Nachwirkungen der IS immer noch leidet. Dazu kamen die Berichte von den Syrien-Rückkehrern – all das hat das Narrativ von der Unbesiegbarkeit des IS zerstört. In letzter Zeit sind die ranghöchsten zentralasiatischen IS-Kommandeure alle zu Al-Qaida übergelaufen. Zum Beispiel Hajji Furqan aus Kasachstan, der jetzt für die zentralasiatischen Gebiete von Al-Qaida zuständig ist, oder der ehemalige usbekische Vizegouverneur des IS-K, Moawiya Uzbekistani. Er ist jetzt für die Operationen der »Islamischen Bewegung Usbekistan« in Badakhshan verantwortlich. Mit ihnen zusammen verließen viele ihrer Anhänger den IS-K.

 

Spielen Kämpfer aus der Volksgruppe der Uiguren eine Rolle?

Die Taliban haben ihre uigurischen Kämpfer mit Rücksicht auf chinesische Interessen von den Grenzregionen zu China und Tadschikistan abgezogen. Die Uiguren waren darüber verärgert. In den letzten Monaten sind einige von ihnen zum IS übergelaufen. Aber wir sprechen hier von einer sehr kleinen Zahl, maximal einigen Dutzend. Insgesamt ist der IS-K bei der Rekrutierung zentralasiatischer Dschihadisten im Moment nicht sehr erfolgreich.

 

Der IS-K ist also auf dem Rückzug?

Das Geld ist knapp, auch wenn das IS-Kalifat in Syrien 2021 die Mittel für den IS-K kurzzeitig aufstockte, als man erkannte, dass der Ableger sonst zusammenbricht. Es ist eigentlich bemerkenswert, dass der IS-K trotz alledem immer noch mehrere tausend Kämpfer unter seinem Kommando hat. Seit 2018 hat die Gruppe nur Massaker an der Zivilbevölkerung begangen. Aus einer militärstrategischen Perspektive agiert sie auf sehr niedrigem Niveau. Der IS-K schafft es nicht einmal, komplexe Hinterhalte gegen Taliban-Kräfte zu legen, stattdessen attackiert man einfach zu treffende zivile Ziele oder verübt Blitzüberfälle.

 

»Die Taliban sind sich im Grunde über alles uneins«

 

Wenn der IS-K so schwach ist, wie konnte er überleben? Wer finanziert die Kämpfer?

Es fließt immer noch etwas aus Richtung des »Kalifats« in Syrien. Außerdem versucht die Gruppe, vor Ort Geld zu beschaffen. Aber da sie kaum Gebiete kontrolliert, ist das schwierig. Schmuggler zahlen etwas Maut für die Überquerung von Bergpässen, auf denen der IS-K präsent ist, aber das macht nicht viel aus. Der IS sagt, er verhandle mit einigen Gebern aus dem Golf. Aus den Reihen der Taliban werden Vorwürfe erhoben, dass Pakistan dem IS-K hilft, weil sich die Beziehungen zwischen Islamabad und der Taliban-Führung verschlechtert haben. Aber das ist für mich schwer zu glauben.

 

Warum?

Der IS-K hat seine Angriffe in Pakistan in letzter Zeit deutlich intensiviert. So angespannt die Beziehungen zwischen den Taliban und Islamabad auch zu sein scheinen, ich glaube nicht, dass der IS-K so vorgehen würde, wenn er Gelder aus Pakistan erhalten würde. Eine Unterstützung durch Pakistan müsste mit der Zeit zu einer sichtbaren Verbesserung der Fähigkeiten des IS führen, was ich im Moment allerdings nicht erkennen kann. Seit geraumer Zeit häufen sich unter den IS-Führern vielmehr Überlegungen, in den pakistanischen Stammesgebieten einen sicheren Rückzugsort zu schaffen.

 

Mit welchem Ziel?

Im Wesentlichen geht der IS davon aus, dass er in dem Moment, in dem die Taliban beschließen, die IS-Stützpunkte in Kunar und Nuristan anzugreifen, wahrscheinlich nicht in der Lage sein wird, diese zu verteidigen. Diese Einschätzung beruht auf den Erfahrungen, die die Gruppe 2019/20 gemacht hat, als sie von den Amerikanern aus der Luft bombardiert wurde, während Taliban-Bodentruppen vorrückten. Oder die Erfahrungen in jüngster Zeit in Badakhshan. Allein die Verteidigung ihrer Stützpunkte würde wahrscheinlich zu Verlusten von 10-20 Männern pro Tag führen, vielleicht sogar 50, wenn die Taliban beschließen würden, verschiedene Täler gleichzeitig anzugreifen. Das kann man nicht lange durchhalten, wenn man nur ein paar tausend Kämpfer hat. Nach ein paar Monaten wäre IS-K der aufgerieben. Auf der anderen Seite spekuliert die Gruppe darauf, dass die Taliban derzeit nicht geeint genug sind, um den IS-K vollständig zu vernichten.

 

Was ist da dran?

Die Taliban sind sich im Grunde über alles uneins. Sie streiten sich über Mädchenbildung und die Beziehungen zum Westen, zu Iran und Pakistan. Einig scheint sich die Taliban-Führung derzeit nur in zwei Fragen: dem Wunsch nach guten Beziehungen zu China und die Akzeptanz der UN als Partner, um die Dinge am Laufen zu halten. Uneinig sind sich die Taliban unter anderem eben auch darüber, wie sie mit dem IS umgehen sollen. Einige scheinen sich dagegen zu sträuben, andere Dschihadisten ins Visier zu nehmen, während andere darauf beharren, dass dies irgendwann ohnehin notwendig sein wird. Nimmt man also diese beiden Einschätzungen zusammen, wäre es für den IS sinnvoll, die Taliban mit Anschlägen in den Städten auf Trab zu halten und währenddessen eine weiteren Rückzugsort zu schaffen. Und das Kalkül wäre, dass die pakistanische Zentralregierung in den Belutschen- und Paschtunengebieten jetzt mehr denn je gehasst wird. Die pakistanischen Sicherheitskräfte gehen nicht gerade zimperlich vor: Entführungen, Misshandlungen, Folter. Das schafft ein Umfeld, in dem der IS Fuß fassen kann. Innerhalb des IS vernimmt man das Gerücht, dass sie seit einger Zeit aktiv nach Spendern suchen, um eine Basis in Pakistan aufzubauen.

 

»Die Beziehungen zwischen Al-Qaida und den Taliban sind komplexer als die zwischen dem IS und den Taliban«

 

Wer sind diese Spender?

Das ist nicht klar. Saudi-Arabien ist der übliche Verdächtige, da Riad keine engen Beziehungen zu den Taliban unterhält, aber für eine Versöhnung zwischen den Taliban und salafistischen Gruppen wirbt. Die Taliban verfolgen die Salafisten, die aber ein wichtiges außenpolitisches Instrument für Saudi-Arabien sind. In den 1970er Jahren gab es in Afghanistan noch keine Salafisten, aber sie konnten seitdem eine gewisse Präsenz in dem Land aufbauen. Die traditionellen hanafitischen Kleriker wollen jedoch nicht, dass die Taliban die Salafisten wieder gewähren lassen. Sie betrachten sie als Fremde, die mit saudischem Geld nach Afghanistan gelangt ist. Eine Annährung der Taliban mit den Salafisten würde auch zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen der Taliban zu Iran führen, was natürlich im saudischen Interesse ist.  

 

Im Sommer 2021 schien es, als sei der IS-Rivale Al-Qaida entscheidend geschwächt. Nun haben sich einige Aufständische wieder der Gruppe angeschlossen.

Vielleicht haben Sie kürzlich von einem amerikanischen Drohnenangriff in Afghanistan gehört. Das Ziel war ein kleines Al-Qaida-Lager innerhalb eines örtlichen Taliban-Lagers. Kein großer Stützpunkt, vielleicht 20-30 Aufständische der Al-Qaida hielten sich dort auf.

 

Also arbeiten Al-Qaida und die Taliban wieder zusammen? Dass die Taliban dafür sorgen, dass keine Ausbildungslager für ausländische Dschihadisten in Afghanistan entstehen, war doch der Kernpunkt des Abkommens mit den USA?

Die Beziehungen zwischen Al-Qaida und den Taliban sind komplexer als die zwischen dem IS und den Taliban. Jüngste Vorfälle scheinen darauf hinzudeuten, dass es zwischen Teilen der Taliban-Führung und internationalen Dschihadisten, die bereits in Afghanistan aktiv waren und nun mit Al-Qaida in Verbindung stehen, zu einem Kleinkrieg gekommen ist. Der Konsens unter den ausländischen Dschihadisten scheint zu sein, dass die Taliban bei ihren Versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen, im Wesentlichen bluffen. Sie sind der Meinung, dass die Taliban nicht geeint genug sind, um etwas zu unternehmen.

 

»Dafür muss man sich dieser ausländischen Dschihadisten entledigen«

 

Woran ließe sich das festmachen?

Vor kurzem forderte die Taliban-Führung eine Gruppe usbekischer Dschihadisten im abgelegenen Nordwesten des Landes zur Umsiedlung auf. Doch die weigerten sich einfach, da sie von lokalen Taliban-Gruppen unterstützt wurden. Daraufhin passierte nichts und die usbekischen Dschihadisten sind immer noch dort. Dann ist da die »Islamische Bewegung Usbekistan«, die nun ein Gipfeltreffen zur Wiedervereinigung ihrer unterschiedlichen Gruppen angekündigt hat. Ihr Ziel ist es offensichlich, den Dschihad wieder nach Zentralasien bringen. Die Dschihadisten sind in der Lage, Schwächen und Konflikte zwischen verschiedenen Taliban-Gruppen zu erkennen und auszunutzen.

 

Welchen Kurs verfolgt die Führung der Taliban?

Meiner Einschätzung nach scheinen die Pragmatiker in der Taliban-Führung heute entschlossener denn je, alle Verbindungen zu internationalen Dschihadisten zu kappen. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass sie mit den meisten ihrer Nachbarn zusammenarbeiten müssen, vor allem mit China. Dafür muss man sich dieser ausländischen Dschihadisten entledigen. Wir sollten auch bedenken, dass wir uns in einem postrevolutionären Umfeld befinden. Die Taliban müssen sich erst einmal konsolidieren. Selbst das Haqqani-Netzwerk, ein Teil der Taliban, der die internationalen Kämpfer offener unterstützt hat, ist sich inzwischen einig, dass eine Verständigung mit China wichtiger ist als die Unterstützung der internationalen Dschihadisten. Kürzlich stimmten sie sogar der Umsiedlung uigurischer Kämpfer zu.

 

Wie passt sich die Al-Qaida-Führung an diese Situation an?

Sie ist sich ihrer immer schlechteren Lage bewusst und versucht daher, die Machtkämpfe innerhalb der Taliban anzuheizen. Daraus ergeben sich zwei mögliche Szenarien. Entweder werden diejenigen Taliban mit Al-Qaida-Verbindungen stärker oder das Chaos wird weiter angefacht, sodass niemand sie aufhalten kann. Und wenn man die Geschichte betrachtet, ist die zweite Option wahrscheinlich praktikabler, da sich Al-Qaida nicht vollständig auf die Unterstützung ihrer Freunde unter den Taliban verlassen kann. In jedem Fall steigt der Druck auf die Taliban. Das wiederum könnte bedeuten, dass Teile von ihnen bei der Bekämpfung ausländischer Dschihadisten eine stärkere Kooperation mit den USA suchen, weil deren Aufklärungsmöglichkeiten präzise Schläge gegen Al-Qaida-Lager ermöglicht. Es wird vermutet, dass die Taliban-Fraktion um Mullah Baradar solche Kanäle als Instrument in ihren Machtkämpfen gegen das Haqqani-Netzwerk nutzt.

 

Erleben wir eine Re-Nationalisierung des globalen Dschihads?

Interessanterweise ist sogar eine Organisation wie die TTP, die pakistanischen Taliban, nicht daran interessiert, als internationale Dschihadisten wahrgenommen zu werden und betont den pakistanischen Charakter ihres Kampfes. Auch wenn sie eng mit Al-Qaida verbunden ist, hält sie es für sinnvoller, als Teil der Taliban aufzutreten. Der nationale Dschihad hat Vorrang vor dem globalen. Ich denke, das sehen wir nach dem Al-Qaida-Desaster in Syrien überall: In Südasien, womöglich bald auch bei Al-Shabab in Somalia. Je erfolgreicher die Dschihad-Bewegungen sind, desto mehr scheinen sie sich pragmatisch einer nationalen statt einer globalen Agenda zuzuwenden.

 

»Die Taliban sind bei der Entwicklung ihrer Staatlichkeit noch nicht sehr weit gekommen«

 

Wie kurz vor dem Zusammenbruch steht das Taliban-Emirat im Moment?

Es steht zwar nicht kurz vor dem Kollaps, aber es befindet sich derzeit auch in keiner guten Lage. Finanziell haben sich die Taliban stabilisiert, die Machtkämpfe werden jedoch immer heftiger und sie scheinen nicht in der Lage, die Grundprobleme zu lösen. Die Spannungen zwischen dem Haqqani-Netzwerk und Mullah Baradar sowie zwischen dem Emirat und den usbekischen Taliban halten weiter an. Dazu kommen Auseinandersetzungen innerhalb paschtunischer Taliban aus dem Südwesten. Die Taliban aus der Provinz Helmand, einem wichtigen Zentrum des Schmuggels und der Mohnproduktion, sind nicht zufrieden mit ihrem Einfluss in der Regierung. Das von Kabul verhängte Verbot des Drogenhandels bedroht die Einnahmequellen der lokalen Kräfte in Helmand. Tatsächlich war es eine der dortigen Taliban-Gruppierungen, die vor kurzem Al-Qaida in das kürzlich bombardierte Lager geholt hat.

 

Greifen nun die Reste der Nordallianz oder die bedrohten schiitischen Hazara, die Hauptopfer der jüngsten Anschläge, zu den Waffen?

Unter den Hazara herrscht Frust. Die Jugend will kämpfen, aber was kann sie realistischerweise tun? Die Hazara sind derzeit in keiner guten Position, um sich wirksam zu verteidigen. Abdul-Ghani Alipour war der einzige Anführer, der versuchte, etwas zu unternehmen, aber der ist jetzt in Iran. Andere Hazara-Führer haben mit den Taliban verhandelt. Ich denke, die Ältestenräte im Hazarajat halten derzeit die Füße still und warten ab, ob sich die Lage im Norden verschlechtert, sobald der usbekische und tadschikische Widerstand gegen die Taliban Fahrt aufnimmt. Das wäre der Moment, in dem auch sie zuschlagen könnten.

 

Im Sommer 2021 hielt Iran die Hazara-Führer davon ab, sich gegen die Machtübernahme der Taliban zu wehren. Beobachter gingen davon aus, dass die Iraner zuversichtlich waren, dass einige der eher pro-iranischen Taliban nach der Machtübernahme in prominente Positionen gelangen würden.

In der Tat hören wir heute andere Töne als damals. Iran hat laut Medienberichten vor einiger Zeit ein Afghanistan-Treffen in Maschhad gesponsert. Die Teilnehmer waren Anti-Taliban-Führer der Usbeken, Tadschiken und der Hazara-Gemeinschaft. Ich interpretiere das als eine Warnung der Iraner, dass sie zunehmend die Geduld verlieren. Sie wollen, dass einige ihrer Taliban-Verbündeten in Afghanistan an der Regierung beteiligt werden. Aber wie bei praktisch jeder politischen Kontroverse scheint die Taliban-Führung auch in dieser Frage gespalten. Das gilt auch für eine andere wichtige Frage: Die Einrichtung von schiitischen Gerichten nach jaafaritischem Recht im Emirat. Seit dem Sommer wird über die schiitische Gerichtsbarkeit für Schiiten verhandelt, doch sind die Verhandlungen zu keinem Ergebnis gekommen.

 

Wie steht es überhaupt um die Bildung von Verwaltungsinstitutionen?

Auch hier spiegeln sich die internen Schwächen und Machtkämpfe unter den Taliban wider. Sie haben noch keinen Verwaltungsapparat eingerichtet. Das vorgeschlagene System der Taliban-Führung, ein Oberster Rat mit dem Emir an der Spitze, ist noch nicht einmal umgesetzt worden. Stattdessen finden Ad-hoc-Treffen von Taliban-Führern in Kandahar statt. Die Taliban sind bei der Entwicklung ihrer Staatlichkeit noch nicht sehr weit gekommen. Aber solche informellen Treffen sind nicht geeignet, um einen Staat zu führen. Ich denke, wenn die Taliban nicht zu einer Vereinheitlichung ihrer Positionen kommen, vielleicht durch das Auftreten eines starken Führers, eines Taliban-Lenin, wenn Sie so wollen, wird ihr postrevolutionärer Staatsbau weiterhin gelähmt bleiben.


Antonio Giustozzi ist Gastprofessor am King‘s College. Er hat mehrere Bücher über die Taliban und den Islamischen Staat-Khorasan geschrieben.

Von: 
Leo Wigger

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