Unmittelbar vor dem 40. Jahrestag der Islamischen Revoution steht Iran am Abgrund. Die ganze Region droht in einen Abwärtsstrudel gerissen zu werden. Zeit für Europa, sich von einer kurzsichtigen US-Politik zu emanzipieren.
Als Anfang des Jahres die Menschen in Iran auf die Straße gingen, sah manch Kommentator hierzulande schon einen Persischen Frühling voraus. Heute ist die innenpolitische Lage weiterhin angespannt; die Regierung steht wegen der wirtschaftlichen Misere im Land unter enormem Druck. Anfang November kommen mit der Wiedereinführung von US-Sanktionen gegen das iranische Ölgeschäft zusätzliche Belastungen hinzu, die – im Sinne Washingtons – das Regime in die Knie zwingen sollen. Gleichzeitig schwelen die Konflikte in Syrien und Jemen weiter, wodurch sich Iran in unmittelbarer militärischer Konfrontation sowohl mit Israel als auch Saudi-Arabien befindet.
Steht also Iran kurz vor dem 40. Jahrestag der Islamischen Revolution von 1979 ein »heißer Herbst« bevor?
Beginnen wir mit der Lage im Land. Zum einen sind hier Anzeichen von Zerfall klar erkennbar, wie es die gewaltsamen Proteste seit dem Jahreswechsel 2017/18 zeigen, die allerdings noch nicht zu einer kohärenten Bewegung führten. Zum anderen kann kaum jemand einschätzen, welchen Durchhaltewillen die Riege um den Revolutionsführer Ali Khamenei, aber auch die breite Bevölkerung selbst entwickeln werden.
Dabei ist es entscheidend für die internationalen Kontrahenten Irans zu wissen, ob sie es mit einem verkrusteten, wenig demokratischen Regime in den letzten Zügen zu tun haben oder ob sich das Land auch in Zukunft stabiler als die meisten der Nachbarstaaten einer konflikthaften Region erweisen wird.
An erster Stelle der innenpolitischen Umbrüche, die den Kern der aktuellen Unsicherheit über die weitere Entwicklung des Landes ausmachen, steht die desolate ökonomische Lage. Denn die Aufhebung der internationalen Sanktionen nach dem Abschluss des Atomabkommens vom Juli 2015 brachte nur sehr eingeschränkt wirtschaftliche Erholung ins Land. Washingtons Aufkündigung des Abkommens im Mai dieses Jahres sorgte zumindest für eine gewisse Klarheit.
Inkompetenz, Vetternwirtschaft und Gier sind die Gründe für Leid und Tod
Tatsächlich machen die internationalen Sanktionen aber nur einen Teil der wirtschaftlichen Probleme des Landes aus. Denn Misswirtschaft und Korruption plagen die Menschen seit Jahrzehnten; die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch, unter den zahlreichen jungen Universitätsabsolventen ebenso wie im ländlichen Raum; und ein von der Regierung künstlich aufrechtgehaltenes System unterschiedlicher Wechselkurse, das große Importeure zu Währungsspekulanten werden lässt, hat stark zum rasanten Wertverlust der Landeswährung und somit Preissteigerungen für die breite Bevölkerung beigetragen.
Doch die Existenzangst der bislang unpolitischen (unteren) Gesellschaftsschichten ist nicht die einzige Bedrohung des Regimes. Neben den Protesten gegen die Armut treiben auch katastrophale Umweltbedingungen die Menschen auf die Straße. Ob schwere Sandstürme im Südwesten und im Südosten, Wassermangel im Nordwesten oder die Luftverschmutzung in fast allen Großstädten des Landes – immer wieder sind Inkompetenz, Vetternwirtschaft und Gier die Gründe für Leid und Tod.
Schließlich fordern iranische Frauen ihre Rechte ein. Insbesondere das Recht, über ihre Kopfbedeckung selber zu entscheiden. Ende 2017 wurde eine ganz besondere Form des Protests populär, als die 31-Jährige Vida Movahed auf einem Stromkasten an der belebten »Straße der Revolution« stehend ihr Kopftuch abnahm und dieses wie eine weiße Fahne vor sich schwenkte – bis sie festgenommen wurde. Ganz ohne Ironie empfiehlt Revolutionsführer Khamenei als Reaktion auf die #metoo-Bewegung den Frauen im Westen die islamische Verschleierung, um sexueller Belästigung aus dem Weg zu gehen.
Gegenüber so viel Unmut und Verbitterung weiß sich das Regime nicht anders zu helfen als mit Durchhalteparolen und gelegentlicher Gewalt. Die Clique alter Männer, die das Land seit vier Jahrzehnten regiert, stößt dabei auch an ihre biologischen Grenzen. Und doch scheint ein geordneter Übergang auf eine jüngere und weniger doktrinäre Generation angesichts der Unruhe im Land unwahrscheinlich. Denn wann immer sich eine solche Gelegenheit bot – sei es unter Mohammed Khatami Ende der 1990er Jahre oder mit der »Grünen Bewegung« von 2009 gegen die mutmaßlich gefälschte Wiederwahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad – schlug das Regime stattdessen erbittert zurück.
Auch der aktuelle, oftmals als moderat dargestellte Präsident Hassan Ruhani, hat viele Menschen im Land enttäuscht. War er 2013 mit einer Plattform von »Ausgleich und Toleranz« angetreten, wurde er im letzten Frühjahr nur aufgrund der wirtschaftlichen Versprechungen des Deals wiedergewählt. Doch auch er konnte nicht für eine nachhaltige Verbesserung der Lage sorgen, geschweige denn die Hoffnungen auf eine schrittweise gesellschaftliche Liberalisierung erfüllen, sollte er sie jemals wirklich angestrebt haben. Nun sieht er sich mit den Hardlinern aus dem politischen Establishment und dem Sicherheitsapparat darin vereint, das Überleben der Islamischen Republik gegen den massiven Druck der Vereinigten Staaten und ihrer regionalen Verbündeten zu sichern.
Militärische Konfrontation mit Israel und Saudi-Arabien droht
An diesem Punkt kommen die Entwicklungen im Nahen Osten der letzten Jahre ins Spiel. Denn trotz der beschriebenen innenpolitischen Instabilität gilt Iran als innerhalb der Region gestärkt, was wiederum andere Mächte beunruhigt. Mit seinem Engagement für den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad sowie der Unterstützung der Rebellen im jemenitischen Bürgerkrieg sieht sich Teheran gemeinsam mit Russland und der Türkei als regionaler Stabilitätsgarant. Zum Erreichen seiner machtpolitischen und geostrategischen Ziele nimmt es die regelmäßig durch die syrische Armee verübten Grausamkeiten billigend in Kauf.
Doch ihre Erfolge in Syrien und Jemen brigen die Islamische Republik womöglich in eine direkte militärische Konfrontation mit Israel und dem saudischen Rivalen am Golf.
Denn während Assad seine Macht auch dank russischer und iranischer Schützenhilfe festigen konnte, sieht sich Israel durch die Präsenz schiitischer Milizen unmittelbar an seinen Landesgrenzen massiv bedroht. Fast täglich fliegt die israelische Luftwaffe nunmehr Angriffe gegen Stellungen der von Iran materiell und personell unterstützte Gruppen. Der Nordosten stellt somit für Tel Aviv – neben der von Teheran aufgebauten und gesteuerten Hizbullah in Libanon sowie der jüngsten Unterstützung Irans für die Hamas im Gazastreifen – eine dritte Front dar.
Ähnlich vertrackt ist die Lage in Jemen, wo eine von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführt Koalition seit dreieinhalb Jahren gegen die aufständischen Huthi-Milizen kämpft. Letztere erhalten Unterstützung aus Teheran, wobei hierfür weniger eine oft ins Feld geführte religiöse Verbundenheit zählt als taktische Gründe: Mit relativ geringem Einsatz – rhetorischer Unterstützung, Militärberater sowie Raketenlieferungen – kann sich Iran dank der erfolgreichen asymmetrischen Kriegsführung der Rebellen damit brüsten, die hochgerüstete und von den USA sowie Großbritannien logistisch unterstützte panarabische Allianz in Schach zu halten.
Sowohl Riad als auch Tel Aviv lehnten übrigens auch den Atomdeal von Anfang an ab. Für sie zählte nicht, dass dieses Abkommen die Nuklearfrage zumindest für ein Jahrzehnt entspannen würde, sodass die internationale Gemeinschaft sich in dieser Zeit den anderen von Iran ausgehenden Herausforderungen ohne die Gefahr einer nuklearen Konfrontation widmen könne. Stattdessen verwiesen sie auf die iranische Unterstützung terroristischer Gruppen, sowie die Bedrohung durch das iranische Raketenprogramm – ohne Erwähnung der eigenen konventionellen militärischen sowie, im Falle Israels, atomaren Übermacht.
Diese prekäre Lage in der Levante ebenso wie am Persischen Golf und am Golf von Aden kann über gewollte Provokationen oder unbeabsichtigt harsche Reaktionen schnell zu einer regionalen militärischen Eskalation führen, die auch Europa unmittelbar betreffen würde. Womit wir bei der Rolle der USA wären sowie der neu ins Leben gerufenen amerikanisch-israelisch-saudischen Allianz gegen Teheran.
Neue Iran-Sanktionen bedrohen auch den benachbarten Irak
Die US-Regierung wird nicht müde, Iran als Bedrohung für den Weltfrieden darzustellen. Dabei macht sich selbst das kriegserfahrene amerikanische Establishment Sorgen darüber, dass Washington nach seinem einseitigen Rückzug aus dem Atomabkommen in einen weiteren Krieg gezogen werden könnte – sei es durch die Dynamik der nun wiedereinsetzenden Sanktionsspirale, durch unbedachte Provokationen der Verbündeten vor Ort oder durch gezielte Manipulationen der Neocons. Immer wieder weisen Autoren auf die Parallelen zum völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak 2003 hin, mit dem die USA den Grundstein für den folgenden Staatszerfall samt Aufstieg des Islamischen Staates sowie zunehmender Einflussnahme Irans im mehrheitlich schiitischen Nachbarland legten.
Dessen ungeachtet sollen »nie dagewesene« Wirtschaftssanktionen das Land in die Knie zwingen – oder derart provozieren, dass ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt erscheint. Dabei sorgen bereits die bestehenden Maßnahmen gegen Iran auch im benachbarten Irak für Verwerfungen, da die Wirtschaften der beiden ehemals verfeindeten Länder mittlerweile miteinander verflochten sind. Eine Machtübernahme des iranischen Militärs – namentlich der Revolutionsgarden – zur Rettung des Systems hingegen hätte ebenso fatale Konsequenzen für Europa wie das Versinken des Landes im Chaos.
Da Washington auch seine europäischen Verbündeten mit wirtschafts- und finanzpolitischen Druck auf Linie bringen will, ist die Iran-Frage zu einem Zankapfel der transatlantischen Beziehungen geworden. Die Frage ist nicht mehr allein die nach der richtigen Strategie in der Nuklearfrage, sondern die übergeordnete Frage nach der Beziehung zwischen Europa und den USA: Müssen sich europäische Unternehmen im Ausland an EU-Gesetze halten oder an amerikanische Bestimmungen? Ist die aktuelle Regierung in Washington überhaupt bereit, eine eigenständige Politik der Europäer zu tolerieren? Und wenn nicht, was heißt das für die Sicherheit des europäischen Kontinents, für welche bislang im Rahmen der Nato vor allem auch die USA geradestehen? Diese fundamentalen Fragen werden in der kommenden Zeit auch in Berlin und Paris, Brüssel und London sowie weiteren europäischen Hauptstädten entschieden werden.
Die Islamische Republik ist durch das erhebliche innenpolitische Spannungspotenzial ebenso wie ihre Rolle in der Region zu einem zentralen Gegenstand deutscher und europäische Außenpolitik geworden. Es geht nicht mehr allein um das Bewahren des Atomdeals, um die Befriedung Syriens oder die Förderung von Freiheit und Menschenrechten in Iran selbst – allesamt Ziele, für die sich Diplomatie einsetzen sollte, die aber die Menschen im eigenen Land nicht bewegen müssen. Vielmehr steht Iran aufgrund des Zerwürfnisses im transatlantischen Verhältnis auch stellvertretend dafür, wer die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent garantieren kann.
Vor ziemlich genau 15 Jahren, im Oktober 2003, überraschten die Europäer die Welt mit ihrer diplomatischen Initiative zur Lösung des aufkommenden Konflikts über das iranische Atomprogramm. Damals war die Aufnahme von Verhandlungen zur Verhinderung eines weiteren Krieges optional und, angesichts der innereuropäischen Zerstrittenheit über den Irakkrieg ein halbes Jahr zuvor, alles andere als erwartbar. Heute, nach dem erfolgreichen Abschluss dieser Marathongespräche im Sommer 2015, ist eine eigenständige, mit substanziellen Mitteln unterfütterte europäische Position sowohl gegenüber Iran als auch den Vereinigten Staaten eine schlichte Notwendigkeit.
Denn auch wenn über die Frage von Frühling oder Herbst in erster Linie die Menschen im Land selbst entscheiden sollten, müssen sich deutsche und europäische Politik an allen Eventualitäten ausrichten, wenn sie nicht selbst zu Getriebenen der Ereignisse – oder ihrer eigenen Verbündeten – werden wollen.
Dr. Cornelius Adebahr ist Politikberater und Analyst zu europapolitischen und globalen Fragen. Von 2011 bis 2013 lebte und arbeitete er in Teheran, anschließend drei Jahre lang in Washington. Zuletzt erschienen von ihm »Europe and Iran: The Nuclear Deal and Beyond« (Routledge 2017), »Im Iran: Wenn Weltpolitik auf Menschen trifft« (culturbooks 2017) und »Inside Iran: Alte Nation, neue Macht?« (Dietz 2018).