Während viele noch die erfolgreiche Offensive der ukrainischen Streitkräfte im Raum Charkiv analysieren, droht die nächste Eskalation: Immer mehr Hinweise sprechen für den Einsatz von iranischen Kamikazedrohnen durch die russischen Streitkräfte.
Bei der Übung »Großer Prophet 17« im Dezember 2021 zeigten die iranischen Streitkräfte neuerlich voll Stolz ihre Drohnengeheimwaffen. Darunter die Shahed-136, eine mit Sprengstoff beladene Drohne, welche sich ähnlich der israelischen Harpy2 als Kamikazedrohne (in der Fachsprache »Loitering Munition« genannt) einsetzen lässt. Nur wenige Monate später erfolgten bereits erste nachweisliche Einsätze außerhalb Irans. So wurden im März 2022 saudische Erdölanlagen angegriffen. Dies brachte der Shahed-136 den Beinahmen »Aramco-Killer« ein.
Auch ein Angriff im Juli 2021 auf den Öltanker »MT Mercer Street« soll auf das Konto der iranischen Shahed-136 gehen. Der Tanker wurde 300 km ostwärts der omanischen Hauptstadt Maskat an zwei aufeinanderfolgenden Tagen von drei Kamikazedrohnen auf offener See angegriffen. Ein Beispiel für die bemerkenswerten Fähigkeiten des iranischen Drohnentyps.
Anfang September stellten die ukrainischen Soldaten bei ihrer Offensive südostwärts von Charkiv fest, dass sie es plötzlich mit einem neuem »russischen« Waffentyp zu tun hatten. Außerhalb der Reichweite der russischen Artillerie wurden in vorbereiteten ukrainischen Feuerstellungsräumen mehrere ukrainische 152 und 122 mm sowie eine aus den US gelieferte M777 Haubitze zerstört. Hinzu kamen beim Angriff mehrere zerstörte ukrainische BTR-80 Mannschaftstransportpanzer westlich von Kubjansk.
Kompakt und tödlich
Eine Untersuchung der Wracks und der Trümmer ließ erkennen, dass eine neuartige russische Drohne mit dem Namen GERAN-2 – zumindest stand diese Bezeichnung auf den Überresten eines Leitwerksteils zu lesen – eingesetzt worden war. Mit Sprengstoff beladen hatte diese Drohnen punktgenau ihre Ziele zerstört. Eine weitere detaillierte Untersuchung der Platinen und des Motors ließ aber erkennen, dass die Bauteile iranischen Ursprungs waren.
Nachdem aus den Trümmern die Form der Drohne nachvollzogen werden konnte, war den Ukrainern schließlich klar, um welche Drohnen es sich handeln musste: die iranische Shahed-136. Die bereits seit Wochen immer wieder auftauchenden Gerüchte und die dokumentierten intensiven Flüge iranischer Frachtmaschinen nach Russland ergaben somit Sinn.
Die Shahed-136 verfügt über bemerkenswerte Fähigkeiten. Sie ist mit einer Länge von 3,5m und einer Flügelspannweite von 2,5m relativ klein und kompakt. Trotzdem ist sie in der Lage bei einem Gesamtgewicht von knapp 200kg (inkl. Sprengstoff) eine Flugstrecke von bis zu 2.500 Kilometern zurückzulegen. Durch die Möglichkeit, komplexe Flugmanöver durchzuführen, ist es schwer, sie mit herkömmlichen Fliegerabwehrsystemen abzufangen.
Im Moment dürften die russischen Streitkräfte die iranischen Drohnen ausschließlich für taktische Zwecke, also im unmittelbaren Bereich der Frontlinien einsetzen. Dies aber in Kombination mit Mitteln der Elektronischer Kampfführung. Diese »blenden« etwaige Fliegerabwehrsysteme und lassen die Drohnen wie auf einem »Zauberteppich« ins Ziel fliegen. Ein Verfahren, das von der aserbaidschanischen Armee erfolgreich in Bergkarabach angewandt worden war.
Eine weitere Eskalation droht
Bis jetzt haben die russischen Streitkräfte über 3.800 Marschflugkörper gegen die Ukraine eingesetzt. Diese Zahl nannte vor kurzem der ukrainische Präsident Zelensky und betonte dabei, dass die Ukraine entsprechende Abwehrsysteme benötige, um diesen Angriffen etwas entgegensetzen zu können.
Das wesentliche Dilemma der ukrainischen Streitkräfte ist somit noch immer ungelöst. Während man taktische / operative Erfolge erzielt, bleibt das Momentum des russischen strategischen Abnützungskrieges gegen die Ukraine bestehen. Die Ukrainer geben an, dass sie bis jetzt nur 236 Marschflugkörper und ballistische Raketen (Stand 17.09.2022) der Russen abschießen hatten können.
Immer wieder greifen die russischen Streitkräfte vom russischen Territorium, aus dem weißrussischen Luftraum oder vom schwarzen Meer mit Iskander-Raketen oder luft- und seegestützten Kalibr-Marschflugkörpern Ziele in der Tiefe der Ukraine an. Die kürzliche Zerstörung von Umspannwerken und Wärmekraftwerken im Osten der Ukraine zeigt deren verheerende Genauigkeit.
Von Experten wird darauf hingewiesen, dass die russischen Arsenale an weitreichenden Präzisionsraketen endlich sind. Der Umstand, dass von Russen bereits Luftabwehrraketen vom Typ S300 / S400 zum Angriff auf Bodenziele verwendet werden, ist ein Indikator dafür. Genau hier können die iranischen Drohnen nun eine mögliche Fähigkeits- und Engpasslücke der Russen schließen.
Der Einsatz der iranischen Drohnen durch die russischen Streitkräfte kann daher als gefährlichere Entwicklung angesehen werden. Der Einsatz iranischer Drohnen hat das Potential einer weiteren Eskalation mit möglicherweise weitreichenden Folgen. Russland ist durch den Einsatz der iranischen Drohnen in der Lage seinen strategischen Abnützungskrieg gegen die Ukraine fortzuführen oder gar noch zu intensivieren.
Der Rückgriff auf die iranischen Produktionskapazitäten bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich. Hinzu kommt die Erfahrung der Iraner mit Sanktionen und deren Umgehung. Den trotz eines strengen Sanktionsregimes ist es den Iranern in den letzten Jahren gelungen leistungsfähige Waffensysteme, wie die Shahed-136 zu entwickeln. Die Ukraine wird somit, neben dem Kampf gegen Russland, auch ein neuer Schauplatz indirekter iranischer Machprojektion.
Dr. Markus Reisner, PhD, ist Kommandant der Garde im Österreichischen Bundesheer, Fellow der Candid Foundation und Autor von »Robotic Wars« (Miles-Verlag Berlin 2018)