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Islamwissenschaftler im neuen Bundestag

Grün ist die Farbe der Islamwissenschaft

Feature
Islamwissenschaftler im neuen Bundestag
Von links nach rechts: Lamya Kaddor, Luise Amtsberg, Karl Bär

Früher ein Orchideenfach, heute das Rüstzeug für die große Politik. Ist die Orientalistik auf dem Weg nach oben?

Seit September vergangenen Jahres ist der Bundestag unübersehbar jünger, weiblicher, diverser. Viele der Abgeordneten mit Migrationsbiografie haben einen persönlichen Bezug zur MENA-Region und auch die Anzahl der studierten Orientalisten steigt. War Islamwissenschaft früher ein Nischenfach, erlebte es Anfang der 2000er einen Hype wie kaum ein anderes Studienfach. Auch der Grünen-Abgeordnete Karl Bär aus dem Kreisverband Bad Tölz-Wolfratshausen entschied sich in der Zeit nach den Anschlägen des 11. September 2001 und dem Irakkrieg 2003 für den Studiengang.

 

Nach einem Auslandssemester in Istanbul fügte er noch Agrarwissenschaft hinzu und schrieb seine Abschlussarbeit über landwirtschaftliche Leitbilder in der Türkei. In seiner aktuellen politischen Arbeit, lässt der 36-Jährige auf Nachfrage ausrichten, habe er aber keine Bezugspunkte mehr zur Islamwissenschaft, in persönlichen Begegnungen könne er sein Wissen jedoch noch gelegentlich anwenden.

 

»Eigentlich wollte ich damit in die Wirtschaft«

 

Anders Lamya Kaddor (Grüne), die sich 1997 in Münster einschrieb. »Die Entscheidung für das Studium fiel damals eher spontan, aus dem Bauch heraus«. sagt sie. »Islamwissenschaft und Arabistik klangen irgendwie interessant, und ich habe mich dafür entschieden, das zum Hauptfach zu machen. Ursprünglich wollte ich damit allerdings in die Wirtschaft gehen.« Entsprechend wählte sie zunächst Wirtschaftspolitik als eines ihrer Nebenfächer. Ansonsten »sah es 1997 eher so aus, dass man ein Exotendasein fristen wird«. Im Umfeld stieß sie auf wenig Verständnis für ihre Studienwahl – sie sei doch schon Muslimin.

 

Dann kam der 11. September 2001 und das Interesse am Studiengang Islamwissenschaft stieg schlagartig. Während die Einschreibungen in die Höhe schnellten, bekamen die Studierenden gleichzeitig den veränderten gesellschaftlichen Blick auf ihren Studienschwerpunkt zu spüren. »Vor dem 11. September waren alle eher freudig interessiert an dem, was ich studierte«, berichtet Kaddor im Gespräch mit zenith. Danach fielen die Reaktionen zurückhaltender aus. Islamismus und Islamfeindlichkeit prägten ihre weitere Karriere und sind auch heute noch Themen für die ausgebildete Pädagogin.

 

Die Mitglieder der Grünen in Nordrhein-Westfalen wählten sie nun nach nur einem halben Jahr Parteimitgliedschaft auf Listenplatz 12. Seit 2021 sitzt sie im Bundestag und hat in der Grünen-Fraktion die Zuständigkeit für das Thema Nahost vom Frankfurter Abgeordneten Omid Nouripour übernommen. Ihr parteipolitisches Engagement begann, nachdem sie zuvor lange Zeit in Talkshows und Kolumnen Forderungen an »die Politik« gestellt hatte. Im Ausschuss für Inneres und Heimat des Bundestages wolle sie nun selbst an der Umsetzung arbeiten.

 

Die dritte im Bunde der Islamwissenschaftlerinnen ist Luise Amtsberg (Grüne). Bereits während ihres Studiums arbeitete sie politisch für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Geflüchteten. 2009 wurde sie flüchtlingspolitische Sprecherin, zunächst im schleswig-holsteinischen Landtag, in den sie als damals jüngstes Mitglied gewählt wurde.

 

Nahostkundliches Fachwissen hat nun auch die neue Außenministerin in die vorderste Reihe befördert

 

Um ihr Studium abzuschließen, unterbrach Luise Amtsberg zwischenzeitlich ihre politische Tätigkeit. Diesen Zwiespalt spürte auch Tobias Bacherle, ebenfalls bei den Grünen. Der Abgeordnete für den Wahlkreis Böblingen gab seinem politischen Engagement den Vorzug und Islamwissenschaft als Nebenfach auf. Luise Amtsberg schrieb ihre Arbeit in Israel und Palästina über »Feminismus im Islam am Beispiel der palästinensischen Frauenbewegung« und kandidierte 2013 nach ihrem Abschluss als Abgeordnete für den Bundestag.

 

Lange Zeit war sie unter den Parlamentariern die einzige Person mit dieser Qualifikation. Bei den Koaliotionsgesprächen leitete sie die Verhandlungen im Bereich Flucht, Asyl und Migration. Im Januar 2022 berief das Bundeskabinett die 37-Jährige zur Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. In diesem Amt soll sie zur Wahrung der Menschenrechte im Rest der Welt beitragen, für Deutschland ist sie allerdings nicht verantwortlich, ihre Stelle ist im Auswärtigen Amt angesiedelt.

 

Nahostkundliches Fachwissen hat nun auch die neue Außenministerin in die vorderste Reihe befördert. Nach vielen Jahren im Auswärtigen Amt wurde Tjorven Bellmann von Annalena Baerbock zur Politischen Direktorin ernannt. Sie studierte Islamwissenschaft und Europäische Politik in Hamburg, als der kleine Fachbereich Islamwissenschaft noch in der Nähe der Universität in einem Wohnhaus untergebracht war. Frühere Kommilitonen erinnern sich an sie, obwohl sie nicht besonders aufgefallen sei. Sie sei eine ehrgeizige, aber freundliche Studentin gewesen.

 

Im auswärtigen Dienst war sie unter anderem in den deutschen Auslandsvertretungen in Teheran und Tel Aviv stationiert, danach vor allem für Sicherheitspolitik zuständig. Im Verantwortungsbereich von Tjorven Bellmann liegt die Aufgabe, die diplomatischen Anstrengungen zu koordinieren, etwa bei den Wiener Atomverhandlungen mit Iran.

Von: 
Anna Laura Gundler

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