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Israel, die USA und der Krieg gegen Libanon

Diesen Krieg sollten die USA nicht unterstützen

Analyse
von Sam Heller
Israel, die USA und der Krieg gegen Libanon
Rettungskräfte inmitten der Ruinen der melkitischen Kirche in Derdghaya, die im Oktober bei einem israelischen Luftangriff getroffen und zerstört wurde. Bilal Kashmar / Wikimedia Commons

Seit September hat Israel seinen erbarmungslosen Krieg von Gaza aus auch auf den Libanon ausgeweitet. Washington will beschränkte militärische Operationen gegen die Hizbullah unterstützen – warum das ein folgenschwerer Fehler wäre.

Die Biden-Administration befürworte »beschränkte militärische Operationen im Libanon«, sagte US-Außenamtssprecher Matthew Miller am 9. Oktober. Doch für die Libanesen, die verzweifelt vor den israelischen Angriffen fliehen und mitansehen müssen, wie ihr Land zerstört wird, fühlt sich das ganz anders an. Ohnehin gibt es wenig Anhaltspunkte, um überhaupt anzunehmen, dass Israel nur beschränkt operiert – bestes Beispiel ist die anhaltende Bodeninvasion im Südlibanon.

 

Während die USA zuvor noch auf eine diplomatische Lösung und einen Waffenstillstand pochten, befürwortet Washington jetzt den Krieg Israels gegen die Hizbullah im Libanon – auch aus opportunistischen Gründen: So sieht die US-Regierung darin eine Chance, die libanesische Politiklandschaft zu beeinflussen. Solch eine Strategie könnte sich als destabilisierend und gefährlich erweisen.

 

Anstatt Israels unkontrollierbare Kriegsmaschinerie weiter zu unterstützen, sollten sich die Vereinigten Staaten lieber für einen Waffenstillstand im Libanon einsetzen. Denn Israel führt nicht einfach nur begrenzte Militäroperationen durch, um die Hizbullah zu zerstören. Vielmehr handelt es sich um einen Krieg gegen den Staat Libanon. Die Libanesen machen zurecht die USA für das Blutvergießen, die anhaltende Zerstörung und die vielen getöteten Zivilisten mitverantwortlich.

 

Die israelischen Luftschläge nehmen auch das Zentrum der Hauptstadt sowie die Tripolis im Norden ins Visier

 

Begonnen hat diese Phase im September 2024, ungefähr ein Jahr nach Ausbruch des Gaza-Krieges: Am 17. September ließ Israel mit Sprengstoff präparierte Pager und Walkie-Talkies detonieren, die Mitgliedern der Hizbullah gehörten. Israelische Kampfflugzeuge und Drohnen bombardierten dann den Süden Libanons sowie die Bekaa Ebene im Osten des Landes und die südlichen Vororte von Beirut. Dann nahm Israel die Führungsspitze der Hizbullah ins Visier und startete eine Reihe massiver Luftangriffe, die am 27. September 2024 in der Ermordung Hassan Nasrallahs kulminierten.

 

Zuvor waren auch immer wieder gegenseitige sporadische Angriffe entlang der Blauen Linie ausgebrochen, der De-facto-Grenze zwischen Israel und dem Libanon. Bereits einen Tag nach Beginn des Gaza-Krieges hatte die Hizbullah damit begonnen, israelische Militärstützpunkte anzugreifen. Denn solange kein Waffenstillstand im Gazastreifen in Aussicht sei, so kommunizierte es die Hizbullah, würden die Angriffe auf israelische Ziele fortgeführt.

 

Am 1. Oktober 2024 gab Israel dann bekannt, beschränkte und gezielte Bodenangriffe im Süden des Libanon durchzuführen. Währenddessen fokussieren sich die anhaltenden Luftschläge auf die südlichen Vororte von Beirut, nehmen aber auch das Zentrum der Hauptstadt und den Verwaltungsdistrikt Aley sowie die Stadt Tripolis im Norden ins Visier.

 

Das evidenteste Beispiel der US-Haltung ist Washingtons anfängliche Ablehnung einer massiven Bodenoffensive in Rafah

 

Die Bilanz ist erschütternd: Seit Oktober 2023 hat Israel mehr als 2.400 Menschen im Libanon getötet, die meisten bereits in den ersten Wochen der Eskalation im September 2024. 569 Menschen starben allein bis zum 23. September 2023. Für ein Viertel der Landesfläche erteilte die israelische Regierung Evakuierungsbefehle. Diese konzentrieren sich hauptsächlich auf Gebiete oberhalb des Litani-Flusses. Mehr als 700.000 Menschen wurden innerhalb des Libanon vertrieben und harren nun in überfüllten Notunterkünften aus. Mehr als 40.000 Menschen sind nach Syrien geflohen. Bereits jetzt wurden doppelt so viele Menschen im Libanon getötet als während des Krieges im Jahr 2006.

 

Dennoch behauptet Israel noch immer, lediglich beschränkte und gezielte Bodenangriffe gegen die Hizbullah entlang der Blauen Linie durchzuführen. Israelische Offizielle beteuern, die Hizbullah hätte libanesische Grenzdörfer zu Militärbasen umfunktioniert, mit dem Ziel einen dem 7. Oktober ähnelnden Angriff auszuführen. Auch die US-Regierung schließt sich dieser Lesart an. Das Verständnis einer beschränkt ausgeführten Bodeninvasion variiert hierbei jedoch von Politiker zu Politiker: Einige US-Politiker fokussieren sich auf das Ausmaß der Bodeninvasion im Südlibanon, andere wiederum nehmen Israels militärische Ziele als Maßstab, darunter die Zerschlagung der Hizbullah.

 

Im Allgemeinen herrscht jedoch der Konsens, dass Israel mit seiner Militäroperation nicht das Ziel verfolge, ganze Gebiete im Libanon zu besetzen. So betonte Washington auch, dass eine militärische Präsenz Israels im Südlibanon nicht geduldet werden würde, der Flughafen von Beirut weiterhin operieren müsse und dass israelische Luftangriffe nicht keine dicht besiedelten Gebiete in Beirut zum Ziel haben dürften. Israelische Politiker haben jedoch eine andere Priorität: Die sichere Rückkehr Zehntausender Israelis, die aus dem Norden evakuiert wurden zu ermöglichen.

 

In Bezug auf Israels militärisches Vorgehen hat sich die Position der US-Regierung als flexibelste und flüchtigste erwiesen: Das evidenteste Beispiel ist Washingtons anfängliche Ablehnung einer massiven Bodenoffensive in Rafah. Nachdem Israel diese Grenze überschritt und in Rafah einmarschierte, behauptete die US-Regierung, es würde sich hier nicht um eine großangelegte Bodenoffensive handeln, sondern um eine – wie von Israel zugesichert – begrenzte und kurzzeitige Militäroperation. Dies erwies sich als Fehleinschätzung. So war auch ein ähnlicher Wandel in der US-Außenpolitik gegenüber dem israelischen Vorgehen im Libanon zu erwarten. Während die Biden-Administration zu Beginn noch eine diplomatische Lösung favorisierte, veränderte sich die US-Position, praktisch über Nacht, von der vehementen Ablehnung einer militärischen Eskalation hin zu einer Billigung dieser.

 

Die Biden-Administration drängt darauf, dass das libanesische Parlament einen neuen Präsidenten wählt

 

Vor dem 17. September hatten die USA davor gewarnt, den anhaltenden Konflikt noch weiter eskalieren zu lassen und bestanden darauf, dass eine diplomatische Lösung der beste Weg sei, um auf Israels Sicherheitsbedenken einzugehen. So hatte sich die US-Regierung an der Ausarbeitung einer diplomatischen Lösung im Rahmen einer amerikanisch-französischen Waffenstillstandsinitiative beteiligt. Hierbei fungierte Washington als Vermittler für ein Abkommen, das auf der UN-Resolution 1701 basieren sollte, welche 2006 den israelischen Krieg gegen den Libanon beendet hatte. Ein solches Abkommen würde vorsehen, dass sich die Hizbullah nördlich des Litani zurückzieht und die libanesische Armee sowie die UN-Friedenstruppen im Libanon (UNIFIL) südlich des Flusses Kontrolle ausüben.

 

Sollte die Macht im Südlibanon nun in den Händen der libanesischen Armee und der UNIFIL liegen, könnte eine neutrale Pufferzone im Land errichtet werden. Die USA und der Westen haben lange die libanesischen Streitkräfte unterstützt – 2006 etwa mit mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar. Dennoch ist die libanesische Armee aufgrund begrenzter militärischer und finanzieller Ressourcen nicht imstande, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sie die nötige Unterstützung erhalten werden.

 

Als Israel am 1. Oktober die Bodeninvasion im Südlibanon startete, zog sich die libanesische Armee von ihren Beobachtungsposten entlang der Blauen Linie zurück. Zudem attackierte Israel immer wieder die UNIFIL-Friedenstruppen und tötete etliche Soldaten der libanesischen Streitkräfte. Mit der Tötung Nasrallahs, die die US-Regierung als »Maßnahme der Gerechtigkeit« bejubelte, spitzte sich die Situation noch weiter zu.

 

Hinter dieser Strategie steckt jedoch auch politisches Kalkül: Die Biden-Administration drängt darauf, dass das libanesische Parlament einen neuen Präsidenten wählt. Die politischen Fraktionen des Libanon befinden sich seit Oktober 2022 in einer Pattsituation, nachdem Michel Aouns Amtszeit abgelaufen ist. US-Offizielle behaupteten, die Hizbullah wäre das primäre Hindernis für die Wahl eines neuen Präsidenten gewesen. Sie erhoffen sich von der Wahl des Staatsoberhaupts, den Einfluss der »Partei Gottes« im Libanon erheblich zu mindern.

 

In Libanons dysfunktionalem politischen System ist die Hizbullah noch immer die einflussreichste Vetomacht. Israel hingegen ist nicht bereit, ihre Präsenz im Land zu akzeptieren

 

Jedoch birgt ein solches Vorgehen hohe Risiken: Die Hizbullah politisch zu marginalisieren, würde nämlich den Ausbruch eines innerlibanesischen Konflikts befördern. In Libanons dysfunktionalem politischen System ist die Hizbullah noch immer die einflussreichste Vetomacht. Israel hingegen ist nicht bereit, ihre Präsenz im Land zu akzeptieren. Sollten die militärischen und politischen Ziele Israels tatsächlich mit den Interessen der USA übereinstimmen, würde die Regierung Netanyahu ihre eigene Version der UN-Resolution 1701 implementieren.

 

Und die würde wie folgt aussehen: ein Verbot des Waffenschmuggels über Syrien, eine Mandatsänderung, die die UNIFIL zur Konfrontation mit der Hizbullah bevollmächtigt, außerdem ein Freifahrtschein für anhaltende israelische Geheimdienstaktionen sowie neue Bodeninvasionen im Süden des Landes. Sollte Israel eine Pufferzone im inneren des Libanon errichten wollen, dann nur, wenn es weite Teile des Südes kontrollieren könnte – ein ähnliches Szenario wie von 1978 bis 2000.

 

Premierminister Benjamin Netanyahu sagte, dass er jeden Waffenstillstand ablehnen würde, der nicht die »Sicherheitslage im Libanon verändern und der Gefahr einer Neuformierung der Hizbullah vorbeugen« würde. Dennoch wird Israel wahrscheinlich gar nicht an einer verhandelten Lösung interessiert sein: Denn Israel scheint nicht willens, seine Truppen aus dem Südlibanon abzuziehen und einer Drittpartei die Kontrolle zu überlassen – das bestätigten auch Aussagen von US-Außenamtssprecher Matthew Miller.

 

Jedoch hegen die Israelis, anders als die USA, die die Wahl eines neuen libanesischen Präsidenten präferieren, ebenfalls Pläne für die Neugestaltung der Binnenpolitik des Libanon. In einem Video vom 8. Oktober, adressiert an das libanesische Volk, sagte Netanyahu, die Libanesen müssten ihr Land »zurückerobern« und »es von der Hizbullah befreien«. Ansonsten, fuhr Netanyahu fort, erwarte sie dasselbe Schicksal wie die Menschen in Gaza. Ähnliche Aussagen hörte man auch von anderen israelischen Politikern, mit dem Ziel die Spannungen innerhalb des Libanon zu verschärfen.

 

Die Israelis sind daran interessiert, ihr militärisches Vorgehen noch weiter auszuweiten – und zwar ohne dafür die Zustimmung ihrer Verbündeten einzuholen

 

Die pausenlosen Bombardierungen haben bereits Hunderttausende schiitische Libanesen gezwungen, Zuflucht in Orten zu suchen, die nicht mehrheitlich von Schiiten bewohnt sind. Seitdem hat Israel immer wieder dicht besiedelte Wohnorte mit Geflüchteten in nicht-schiitischen Ortschaften angegriffen – die Strategie dahinter: die Libanesen sollen es sich zweimal überlegen, Binnenvertriebene aufzunehmen, da sie sonst das Ziel massiver israelischer Attacken werden könnten. Sollte sich diese interne Krise durch erneute Zwangsvertreibungen noch weiter verschärfen, so werden auch die gesellschaftlichen Spannungen im Libanon wieder aufflammen.

 

Auch bleibt weiterhin unklar, wie sehr die israelischen Angriffe die Kampfeinheiten der Hizbullah und ihre Infrastruktur bereits geschädigt haben und wie lange die Hizbullah und auch die Menschen im Libanon den israelischen Bombardierungen standhalten können. Wenn Israel dann auch noch Teile des Libanons besetzt und die Vertriebenen davon abhält, in ihre Häuser zurückzukehren, dann könnte dies das politische Gleichgewicht im Libanon verändern und die Hizbullah erheblich schwächen.

 

Nimmt man die Situation in Gaza als Beispiel für einen Vergleich, so wird ersichtlich, dass die Israelis daran interessiert sind, ihr militärisches Vorgehen noch weiter auszuweiten – und zwar ohne dafür die Zustimmung ihrer Verbündeten einzuholen. Denn ein Jahr lang hatte die Biden-Administration bereits erfolglos versucht, Israel davon zu überzeugen, nicht einen solch brutalen Krieg zu führen, der zur willkürlichen Tötung von Zivilisten führt und den Gazastreifen unbewohnbar macht.

 

Hinsichtlich des Libanon hält sich die US-Regierung jedoch eher zurück und versucht durch Israels anhaltenden Krieg die eigenen Interessen im Libanon durchzusetzen und eine Neuformierung der politischen Landschaft zu erreichen – eine Politik der politisch-militärischen Erpressung. Amerikanische Offizielle betonen öffentlich zwar immer wieder, dass sie sich als Verbündeter und Freund des Libanon sehen, jedoch spiegelt ihr derzeitiges Verhalten genau das Gegenteil wider: So helfen die Vereinigten Staaten Israel dabei, einen erbarmungslosen Krieg gegen den Libanon zu führen, den die Menschen so schnell nicht vergessen werden.


Sam Heller ist politischer Analyst und Journalist mit Sitz in Beirut. Er schreibt unter anderem für den Blog War on the Rocks und den Thinktank The Century Foundation, wo dieser Text zuerst auf Englisch erschien.

Von: 
Sam Heller

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