Rückt nach der Tötung von Hassan Nasrallah nun Baschar Al-Assad ins Fadenkreuz der Israelis? Ein Angriff am Wochenende in Damaskus liefert neue Hinweise.
Der israelische Angriff auf die Villa von Maher Al-Assad, den Bruder des syrischen Präsidenten, in einem Vorort von Damaskus am Sonntag, dem 29. September, bestätigt den Doktrinwechsel gegenüber dem syrischen Regime. Maher Al-Assad scheint überlebt zu haben, aber die Absicht, ihn zu töten, hat Israel unter Beweis gestellt. Denn der Kommandeur der Vierten Division ist eine Schlüsselfigur für Irans Präsenz in Syrien.
Behalten wir den Teufel, den wir kennen, oder riskieren wir das Unbekannte? So lässt sich das israelische Dilemma angesichts der Syrienkrise zusammenfassen. In den ersten beiden Jahren, von März 2011 bis Mai 2013, dem Zeitraum der ersten Angriffe auf iranische Ziele in Damaskus, hielt sich Israel vorsichtig aus dem Konflikt heraus, wie es auch während des gesamten Arabischen Frühlings der Fall war. Dennoch beobachteten die israelischen Geheimdienste die Lage genau, denn der jüdische Staat kann es sich nicht leisten, die politischen Entwicklungen im Nahen Osten schlecht einzuschätzen. Sein Überleben hängt davon ab.
Im Frühjahr 2011 versuchte Bashar Al-Assad, Tel Aviv zu provozieren, indem er Kundgebungen an der Grenze des besetzten Golan organisierte, um seinem Volk zu zeigen, wer der wirkliche Feind sei. Nach Angaben des syrischen Präsidenten war Israel auch der Ursprung der Proteste in Daraa, die den Aufstand gegen das Assad-Regime im März 2011 entfachte. Die israelische Armee drängte Demonstranten zurück, die versuchten, die Demarkationslinie zu überschreiten. Im Mai 2011 wurde eine Person getötet. Dennoch durchschauten viele Syrer, dass antiisraelische Rhetorik dazu diente, den Autoritarismus und die Korruption zu verschleiern, die im Land herrschten. Tatsächlich waren die vielen Probleme Syriens nicht auf die »unsichtbare Hand« Israels zurückzuführen, die von der offiziellen Propaganda angeprangert wurde, sondern vielmehr auf Missmanagement.
Schon in jungen Jahren sind Kinder daran gewöhnt, systematisch vom »israelischen Feind« zu sprechen, denn Israel als Staat existiert für Syrien nicht, es ist lediglich eine Besatzungsmacht auf einem Territorium, das »Palästina« genannt wird. Zudem bleibt der Verlust des Golan im Jahr 1967 eine tiefe Demütigung. Die teilweise Rückeroberung dieses Territoriums im Jahr 1973, einschließlich der Ruinen der Stadt Quneitra, verschaffte Hafez Al-Assad Legitimität, reichte jedoch nicht aus, um die Demütigung vergessen zu machen. Selbst innerhalb der Opposition herrscht Konsens in Bezug auf den nicht verhandelbaren syrischen Anspruch auf den Golan.
Israelische Angriffe beschränken sich nicht auf die Umgebung des Golan, sondern auf alle Transitpunkte für iranische Militärausrüstung
Im Mai 2013 griff die IDF die Außenbezirke von Damaskus schwer an, wo sie eine feindliche iranische Präsenz ausfindig gemacht hatte. Von da an nahmen die Bombardierungen zu, um die Islamische Republik daran zu hindern, hochentwickelte Waffen an die Hizbullah zu liefern und sich am Golan einzunisten. Samir Kuntar, der im Zuge eines Gefangenenaustauschs 2008 aus israelischer Haft freigekommen war, schloss sich der »Partei Gottes« an und versuchte, Pro-Hizbullah-Zellen unter den Drusen von Hermon zu bilden, da er dieser Gemeinschaft angehörte. Kuntar und seine Gruppe wurden im Dezember 2015 durch einen israelischen Luftschlag im drusisch-christlichen Ort Jeramana getötet.
Israelische Angriffe beschränken sich nicht auf die Umgebung des Golan, sondern auf alle Transitpunkte für iranische Militärausrüstung: die Häfen von Latakia und Tartus, die Flughäfen von Damaskus und Aleppo, den T4-Luftwaffenstützpunkt zwischen Homs und Palmyra, den Stützpunkt Masyaf und insbesondere den Landkorridor zwischen Deir Ezzor und der irakischen Grenze. Tel Aviv unterstützte die Rebellen im Süden seit 2012 diskret. Offiziell handelte es sich um humanitäre Hilfe, da dort verwundete Kämpfer behandelt wurden. Tatsächlich konnte man dadurch gute Beziehungen zu diesen Gruppen aufbauen und Informanten rekrutieren, die ein umfassendes Lagebild in der Provinz Daraa liefern konnten.
Einige israelische Kommentatoren, wie Ehud Yari, haben die Idee aufgeworfen, in der Region Daraa ein »Sunnistan« zu schaffen, das eine Schutzbarriere für Israel darstellen würde. In diesem Sunnistan hätten die Iraner keine Möglichkeit, sich zu einzurichten. Dieses Projekt erinnert an das in den 1960er-Jahren entwickelte Konzept eines »Drusistan«, das darin bestand, einen autonomen Status der Drusen von Suweida und Hermon zu unterstützen.
Im Jahr 2018 verhandelte Russland mit Israel über eine Rückgabe dieser Region in den Kontrollbereich des Assad-Regimes und stellte in Aussicht, dass sich pro-iranische Milizen nicht an Offensivoperationen beteiligen und sich nicht an der israelischen Grenze einrichten würden. Moskau hatte sogar angeboten, eine Pufferzone zu schaffen, entlang derer eigene Truppen patrouillieren würden. Dank dieser Vereinbarung konnten die Assad-Loyalisten die Provinz Daraa relativ leicht zurückerobern. Im Gegenzug erhielten die Aufständischen Gebiete, die sie autonom verwalten konnten.
Bis September 2015, als Russland direkt in den Krieg in Syrien eingriff, rechnete die Mehrheit der israelischen Analysten mit dem Sturz des Regimes
Doch zwischen dem Regime, das wieder die Kontrolle über das gesamte Land anstrebte, und seinen Gegnern, die die Normalisierung nicht akzeptierten, gerieten die russischen Einheiten schnell zwischen die Fronten und wurden schließlich abgezogen. Die 4. Division unter dem Kommando von Maher Al-Assad wurde 2020 im Südwesten von Deraa stationiert – zum großen Entsetzen der Israelis, schließlich koordiniert der Bruder des Präsidenten nicht zuletzt auch die iranische Präsenz in Syrien.
Bis September 2015, als Russland direkt in den Krieg in Syrien eingriff, rechnete die Mehrheit der israelischen Analysten mit dem Sturz des Regimes. Sie stellten sich das zukünftige Syrien langfristig als eine sehr fragmentierte und instabile territoriale Einheit vor. Eine Minderheit wie Eyal Zisser glaubten hingegen, dass es sich würde halten können. Beide Szenarien lagen zu jenem Zeitpunkt auf dem Tisch, sie führten zu rationalen Debatten, die auf Informationen vor Ort und Realpolitik basierten. Israel kann sich den Luxus einer unrealistischen Politik nicht leisten; sein Überleben im Nahen Osten hängt davon ab. Dies erfordert einen effizienten Geheimdienst, der Ressourcen an die strategisch wichtigsten Sektoren verteilt, anstatt veraltete Streitkräfte und Fronten zu finanzieren.
Als Wladimir Putin am 30. September 2015 die Entsendung von Truppen nach Syrien ankündigte, reiste der israelische Ministerpräsident sofort nach Moskau, um die wahren Beweggründe des russischen Präsidenten auszuloten und einen Modus Vivendi zu finden. Benjamin Netanyahu glaubte nicht wie Barack Obama oder François Hollande, dass die Intervention in Syrien für die Russen in einer Wiederkehr des desaströsen Afghanistan-Einsatzes enden würde, ganz im Gegenteil.
Im Mai 2021 verlor Netanyahu die Macht an eine heterogene Koalition (darunter pazifistische Linke, Zentristen, Islamisten und nationalistische Rechte) unter der Führung von Naftali Bennett. Die ersten Wochen der Bennett-Regierung waren geprägt vom Wiederaufflammen des Konflikts in Gaza und von Zusammenstößen zwischen Arabern und Juden in mehreren israelischen Städten. Benjamin Netanyahu zog damals eher aus innenpolitischen Gründen als wegen seiner Außenpolitik den Kürzeren. Während seiner vierzehn Jahre an der Spitze des Landes (1996–1999 und 2009–2021) führte er eine Austeritätspolitik voran, die einen Teil der Bevölkerung in die Armut stürzte. Die Bennett-Regierung hatte sozialen Fragen Priorität eingeräumt und aufgrund der Beteiligung arabischer Parteien an ihrer Koalition den Dialog mit den Palästinensern entsprechend den Wünschen Washingtons wieder aufgenommen. Gegenüber Iran ließ er hingegen keinen Unterschied zu seinem Vorgänger erkennen.
Netanyahus Rückkehr an die Macht nach den Parlamentswahlen im Juni 2022 stärkte das Lager der Falken
Im Jahr 2021 nahmen die israelischen Angriffe in Syrien deutlich zu. Zu dieser Zeit stärkte auch die Islamische Republik die Kontrolle über ihre lokalen Verbündeten. Tel Aviv begrüßte zudem, dass US-Präsident Joe Biden kurz nach Amtsantritt am 25. Februar 2021 und später am 27. Juni 2021 irakische schiitische Milizen in der Grenzregion Bu Kamal bombardieren ließ, die immer wieder US-Truppen im Irak ins Visier genommen hatten. Am 24. Juni 2021 deutete Bennett an, dass Israel am 23. Juni 2021 eine Fertigungsstätte für Zentrifugen in Karaj, einem Vorort von Teheran, angegriffen habe.
Dieses Vorgehen steht im Einklang mit der Begin-Doktrin: bei Bedarf einseitige militärische Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass feindliche Länder im Nahen Osten in den Besitz von Atomwaffen gelangen. Eines der ersten Beispiele für die Anwendung dieser Doktrin war die Zerstörung des Reaktors Osirak im Irak durch die israelische Luftwaffe im Jahr 1981. Netanyahus Rückkehr an die Macht nach den Parlamentswahlen im Juni 2022 stärkte das Lager der Falken. Für die neue israelische Regierung, die von Likud und den religiösen Parteien dominiert wird, stellt die zunehmende Präsenz Irans in Syrien eine existenzielle Bedrohung dar, die mit größter Entschlossenheit angegangen werden muss.
Der israelische Ministerpräsident kann sich in Bezug auf Interventionen in Syrien auf das Militär verlassen, da dieses eher dazu neigt, einen Sturz des Assad-Regimes zu befürworten. Die meisten Politiker dagegen sind mit dem Status quo zufrieden. Denn die Assads, Vater und Sohn, haben seit fast 40 Jahren für Ruhe auf dem Golan gesorgt, gemäß dem arabischen Sprichwort: »Löwe im Libanon und Kaninchen im Golan« (Assad fi Lubnan wa arnab fil Joulan).
Geht Baschar Al-Assad siegreich aus dem Krieg in Syrien hervor, führt das zu einer Stärkung der iranischen Präsenz, eine für Israel inakzeptable Konsequenz in einem Kontext, in dem die Islamische Republik ihr Atomprogramm wieder aufnimmt. Der israelische Think Tank »The Institute for National Security Studies« (INSS) empfahl 2021 aus drei Gründen einen Strategiewechsel.
Iran zieht es vor, seine Landachse zu konsolidieren, anstatt sich auf eine direkte und riskante Konfrontation mit dem jüdischen Staat einzulassen
Zunächst gab Assad Teheran die Möglichkeit, Irans Einfluss auf verschiedenen Ebenen langfristig auszubauen und zu festigen. Zweitens wird es keine politische Lösung des Syrien-Konflikts geben, solange Assad an der Macht bleibt. Das bedeutet, dass Flüchtlinge nicht zurückkehren können und das Land in Trümmern verharren wird, was die regionale Destabilisierung fortsetzt. Drittens übt der Präsident selbst in den zurückeroberten Gebieten keine wirksame Kontrolle über das Territorium aus und bietet den pro-iranischen Milizen so den Freiraum, sich zu entfalten. Eine realistische Sichtweise, die jedoch nicht von den arabischen Golfstaaten geteilt wird, mit denen Tel Aviv versucht, über die Abraham-Abkommen eine gemeinsame Front aufzubauen, die aber im Hinblick auf Syrien Verhandlungen als Wiedereingliederung bevorzugen und dafür das Beispiel der Wiedereingliederung in die Arabische Liga im Mai 2023 ins Feld führen.
Der Hamas-Terroranschlag in Israel am 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg zur Vernichtung der Hamas in Gaza stärken das Lager der israelischen Falken. Mittlerweile ist der jüdische Staat entschlossener und bereit, bei Bedarf Risiken gegen die Hizbullah, Iran und Baschar Al-Assad einzugehen. Die israelische Forscherin Carmit Valensi vom INSS berichtet, dass Israel seit Beginn des Krieges in Gaza Botschaften an den syrischen Präsidenten übermittelt hat und warnte, außen vor zu bleiben, da sonst nicht nur Damaskus, sondern auch er selbst in Gefahr wäre.
Sicherlich hat das durch zwölf Jahre Krieg geschwächte Regime wenig Lust, Israel anzugreifen, aber wenn Iran syrisches Territorium nutzen wollen würde, um eine neue Front zu eröffnen, würde Teheran nicht um Erlaubnis bitten. Seit Beginn des Konflikts wurden Raketen und Mörser auf die Golanhöhen abgefeuert. Die iranischen Bemühungen konzentrieren sich jedoch mehr auf die in Nordostsyrien stationierten amerikanischen Streitkräfte.
Ziel wäre es zu beweisen, dass die »Achse des Widerstands« Solidarität mit der palästinensischen Sache an den Tag legt und zugleich die US-amerikanischen Truppen zum Abzug zu drängen. Dies hätte den Vorteil, die nordöstlichen, momentan von den kurdisch dominierten »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) Regionen wieder unter Kontrolle des Assad-Regimes kommen könnten. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels zieht es Iran vor, seine Landachse zu konsolidieren, anstatt sich auf eine direkte und riskante Konfrontation mit dem jüdischen Staat einzulassen. Dies weckt jedoch in Israel Ängste vor einer künftigen Militäroffensive, sobald Teheran in den Besitz von Atomwaffen gelangen sollte.
Fabrice Balanche ist Geograf und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität Lyon. Er ist zudem Fellow am Washington Institute for Near East Policy.