Nach Mord und Vertreibung durch den »Islamischen Staat« steht die Rückkehr tausender Jesiden in den Sternen: Bagdad und Erbil rangeln um ihre Heimat im Sindschar-Gebirge – und viele Jesiden suchen ihr Heil lieber bei schiitischen Milizen und der PKK.
Wer am Morgen des 12. Mai vom Sindschar-Gebirge auf die weite Ebene herabblickte, die sich vom Fuße des schroffen Massivs nach Süden streckt, der sah in der Ferne schwarze Rauchsäulen in den Himmel steigen. Seit die Gotteskrieger des selbsternannten »Islamischen Staates« (IS) drei Jahre zuvor dort über die jesidische Bevölkerung herfielen, war das flache Land im Süden für die Kämpfer und Flüchtlinge auf dem Berg eine leblose Bühne des Grauens, auf dem Ackerland brach lag und Dörfer verlassen waren – eine Todeszone. Nun aber kam Leben in die trostlose Szene. Schiitische Milizen, im Irak als »Haschd Al-Schabi – Volksmobilisierungsverbände« bekannt, rollten in langen Kolonnen an.
Pickups mit aufmontierten Maschinenkanonen gaben den Milizionären Feuerschutz, während sie die Ortschaften im Südosten Sindschars stürmten. Die fanatischen IS-Kämpfer setzten sich mit Selbstmordangriffen zur Wehr, indem sie mit Sprengstoff geladene Geländewagen in die feindlichen Linien fuhren. Viel mehr konnte der IS den vorrückenden Haschd-Verbänden aber nicht entgegensetzen, nach wenigen Wochen waren Milizen-Einheiten bis zur im Westen gelegenen syrischen Grenze vorgestoßen. Damit war das gesamte Sindschar-Gebiet erstmals vollständig frei von der Terrorgruppe, seitdem die Dschihadisten es am 3. August 2014 blitzartig eingenommen hatten. Mit ihrem Vorstoß gewannen die Haschd-Milizen den Respekt der vertriebenen jesidischen Bevölkerung – und mischten die Karten im politischen Spiel um Sindschar neu.
Als der IS 2014 anrückte, streckten die kurdischen Peschmerga-Milizen die Waffen und überließen die Jesiden ihrem Schicksal
Denn statt der schwächelnden Terrorgruppe ist nun ist eine schlagkräftige Truppe vor Ort, die der Regierung in Bagdad nahesteht und ein erklärter Feind kurdischer Territorialansprüche ist. Die kurdische Autonomieregierung in Erbil betrachtet Sindschar als Teil Kurdistans, der nach dem Sturz des Saddam-Regimes fälschlicherweise an den Irak fiel. Das Gebiet ist das westliche Ende eines breiten Landstrichs, der sich wie ein Gürtel von der syrischen Grenze bis nach Iran gen Osten um die kurdische Region zieht und sowohl von Bagdad als auch von Erbil beansprucht wird.
Seit die US-geführte Koalition Saddam Hussein 2003 entmachtete, hatte die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) des kurdischen Präsidenten Masud Barzani in Sindschar nach und nach die Kontrolle übernommen. Zwar sprechen die meisten Jesiden kurdische Dialekte, das heißt aber nicht, dass sie sich unbedingt als Kurden identifizieren. Obwohl das Gebiet in der irakischen Provinz Niniveh liegt und hauptsächlich von Jesiden bewohnt wurde, hatten die Kurden aus Erbil dort das Sagen.
»Nach dem Fall Saddams hat die KDP es geschafft, die Verwaltungsposten in Sindschar mit ihrem Personal zu besetzen, und war damit in der Lage, die Lokalverwaltung zu monopolisieren. Dadurch konnte die Partei auch die Dominanz ihrer Sicherheitskräfte sicherstellen«, sagt Matthew Barber, ein Aktivist und ehemaliger Leiter der Hilfsorganisation Yazda, die sich für Jesiden einsetzt. Sindschar ist auch Teil kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen, die durch den Krieg mit dem IS wieder befeuert wurden. Präsident Barzani hat für September ein Referendum angekündigt, in dem die Menschen im Autonomiegebiet über eine Abspaltung vom Irak abstimmen können. Das Referendum soll auch in Gebieten durchgeführt werden, die von den Kurden kontrolliert werden, die aber außerhalb der offiziellen Grenzen des Autonomiegebiets liegen. Dazu gehört auch Sindschar, zumindest teilweise.
Ein eindeutiges Ja zur Unabhängigkeit würde von Barzani als Druckmittel in Verhandlungen mit Bagdad benutzt werden und würde auch den Anspruch auf die umstrittenen Gebiete stärken. Doch auf eine Abspaltung des Gebiets vom Irak wollen sich die Haschd Al-Schabi nicht einlassen. »Sindschar ist irakisch, und wir werden alles dafür tun, damit es irakisch bleibt«, erklärt Ali Kaabi, ein Sprecher der Milizen. Auch unter den jesidischen Einwohnern des Gebiets regt sich Widerstand gegen die Hegemonie der KDP. Denn sie machen Erbil mitverantwortlich für die Katastrophe, die ihnen vor drei Jahren in Sindschar widerfuhr.
Das marxistische Gedankengut des PKK-Ablegers stößt in der konservativen Gemeinde auch auf Abneigung und beeinträchtigt die Rekrutierung
Nachdem der IS im Juni 2014 das nahegelegene Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt, im Handstreich erobert hatte, preschten die Gotteskrieger zwei Monate später in das Jesiden-Gebiet vor. Die kurdischen Peschmerga-Milizen, die zu Tausenden in Sindschar stationiert waren, streckten die Waffen und überließen die Jesiden ihrem Schicksal. »Sie haben uns gesagt, dass wir ihnen vertrauen können, dass sie uns beschützen würden. Und dann waren wir auf uns alleine gestellt«, erinnert sich Qasim Schevan, ein Jesiden-Scheich, der damals mit einer Gruppe Männer, ausgerüstet mit alten Karabinern und Kalaschnikows, einen verzweifelten Kampf auf dem Bergkamm führte. Zehntausende Jesiden hatten sich auf das Massiv geflüchtet, das mitten im Sindschar-Gebiet in die Höhe ragt, nachdem der IS die umliegende Ebene überrannt hatte.
Die Rettung kam aus dem Nachbarland, als die »Volksverteidigungsmilizen« (PYD), der syrische Ableger der PKK, den Belagerungsring durchbrachen, und die kurdischen Guerillas lange genug einen Korridor nach Syrien offenhielten, um den Jesiden die Flucht zu ermöglichen. Die Rettungsaktion erlaubte es der PKK, in Sindschar Fuß zu fassen. Kämpfer der Guerilla-Organisation blieben im Gebiet und bauten dort die »Widerstandseinheiten Sindschar« (YBS) auf, einen jesidischen YPG-Ableger.
Auch nachdem die Peschmerga in Dezember 2014 den IS aus der Nordhälfte Sindschars gedrängt hatten, und mit Hilfe der PKK im November 2015 die Stadt Sindschar am Südrand des Gebirges zurückeroberten, musste die KDP die Präsenz der marxistischen Gruppe hinnehmen. Das untergräbt den Machtanspruch der Partei, die sich noch immer über das Widerstandserbe der Peschmerga im 20. Jahrhundert definiert. Doch das Trauma von Genozid und Vertreibung sitzt tief, und die Verbrechen des IS und das Versagen der Peschmerga werden in der Gemeinde in einem Atemzug genannt.
Tausende Jesiden fielen dem mörderischen Raubzug des IS zum Opfer. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen wurden bis zu 5.500 Mitglieder der Religionsgruppe ermordet, 6.386 Jesiden verschleppt, meist Frauen und Kinder. In der IS-Weltsicht sind die Jesiden Teufelsanbeter – und deshalb eine legitime Kriegsbeute. Gefangene Frauen wurden als Sexsklaven missbraucht, die meisten von ihnen sind weiterhin in der Gewalt der Terrorgruppe. In der trockenen Erde rund um die Dörfer Sindschars liegen die Gebeine von Männern und alten Frauen, für die der IS keinen Gebrauch hatte. Sie wurden von den mordlustigen Dschihadisten erschossen und in flachen Massengräbern verscharrt. Neunzig Prozent der 360.000 in Sindschar lebenden Jesiden flohen, die Hälfte lebt bis heute in notdürftigen Flüchtlingslagern im nahegelegen kurdischen Autonomiegebiet.
»Sindschar ist irakisch, und wir werden alles dafür tun, damit es irakisch bleibt«
Nach dem Genozid erhielten die im Sindschar-Gebiet aktiven Milizen Zulauf. Manche der Jesiden-Scheichs hielten der KDP nach dem IS-Überfall aber trotz des Versagens ihrer Sicherheitskräfte die Treue, und reihten ihre Anhänger in die Peschmerga ein. Da die KDP den Zugang zum Sindschar-Gebiet kontrollierte, und ihre Familien oft ins Autonomiegebiet geflüchtet waren, war es für viele jesidischen Männer die einzige Möglichkeit, ihre Heimat vor dem IS zu schützen und dabei ein bescheidenes Auskommen zu sichern. Die PKK konnte den Respekt, den ihr die Rettungsaktion verschaffen hatte, dennoch in eine wachsende Mitgliedschaft der YBS ummünzen. Aber ihr marxistisches Gedankengut stößt in der konservativen Gemeinde auch auf Abneigung, was die Rekrutierung beeinträchtigte.
Hunderte Jesiden scharrten sich um Anführer wie Qasim Schevan, der seine Gruppe von Kämpfern weder den Peschmerga noch den Guerillas der PKK zuführte. Schevan und seine Männer blieben im Sindschar-Bergkamm, auf dessen Gipfel eine kleine Zeltstadt entstanden war. Das Massiv, das sich mitten durch das Sinschar-Gebiet zieht, und dessen karge Bergwände aus Geröll und roter Erde sich aus der dürren Umgebung erheben, ist für rund 8.000 Jesiden ein sicherer Zufluchtsort geblieben. Von dort aus konnten sie im Mai den Vormarsch der Haschd Al-Schabi beobachten, und über ihre Billig-Handys ihren Freunden und Verwandten in den Camps davon berichten. Die Nachricht vom Erfolg der schiitischen Milizen wurden in der Gemeinde in den Lagern mit Begeisterung aufgenommen. Endlich wurde dem verhassten IS in Sindschar der Todesstoß verpasst.
Viele Jesiden haben sich während des Kampfes gegen des IS den schiitische Milizen des Haschd Al-Schabi angeschlossen
Schon vor Ende der Kämpfe hatten viele der Jesiden-Scheichs beschlossen, mitsamt ihren Männern den Haschd Al-Schabi beizutreten. Einer davon war Naif Jasso, einer der wenigen Überlebenden von Kocho. Das Dorf am Rande des Sinschar-Gebiets war eines der ersten, das vom IS ohne Vorwarnung überrannt wurde. In Verhandlungen wurde dem Ortsvorstehenden Ahmed Jasso, Naifs Bruder, freies Geleit aus dem vom IS kontrollierten Gebiet versprochen. Die Ortsbewohner ergaben sich.
Doch die Gotteskrieger hielten ihr Wort nicht. Unter dem Vorwand, die Männer zum Sindschar-Gebirge zu bringen, wurden diese in Lastwagen in kleinen Gruppen aus dem Dorf gebracht, und dann in Straßengräben oder abgelegenen Bauernhöfen massakriert. Mindestens 380 Jesiden aus Kocho wurden an dem Tag ermordet. Ihre Leichen liegen bis heute in Massengräbern, die von den Dschihadisten hastig mit Erde bedeckt worden waren.
»Wir wollen, dass Sindschar eine eigenständige Provinz wird und Teil des Iraks bleibt«
Die Frauen und Kinder wurden in das Schulgebäude am Rande des Dorfes gepfercht, und von dort in die Sklaverei verschleppt. Nur wenigen Frauen gelang die Flucht, manche wurden freigekauft. Eine von ihnen ist Nadia Murad, die heute weltweit als »UN Goodwill Ambassador« für die Rechte der Jesiden eintritt. Eine Gruppe von rund achtzig alten Frauen wurde nahe der Stadt Sindschar in einer Kuhle erschossen und verscharrt.
Naif Jasso, der am Tag des Massakers nicht in Kocho war, sammelte eine Gruppe von mehreren hundert Kämpfern um sich und schloss sich den Peschmerga an. Doch da die Kurden keine Anstalten machten, in den Süden Sindschars vorzurücken, blieb Jasso nicht viel anderes übrig, als vom Berg auf den Horizont zu blicken, hinter dem sich sein Heimatdorf in Feindeshand lag. Die Haschd Al-Schabi ermöglichten es Jasso, den Tod seines Bruders zu rächen, indem es das Bataillon »Land der Jesiden« an den Kämpfen um den Ort teilnehmen ließ. »Ich komme aus Kocho und wollte unbedingt an der Befreiung des Dorfes mitwirken. Es war ein wunderschöner Tag«, sagt er.
Auch politisch kommen ihm die schiitischen Kampfgruppen gelegen. Obwohl die Milizen von Iran ausgerüstet und ausgebildet werden und womöglich aus Teheran Befehle erhalten, vertreten sie in Sindschar auch die Interessen Bagdads. Die irakische Regierung ist darauf bedacht, den Einfluss der Kurden zu schmälern und die Hoheit über das Gebiet zurückzuerlangen. Das ist im Interesse vieler Jesiden. Von der KDP enttäuscht, streben Jesiden-Scheichs wie Jasso Selbstverwaltung und eigene Sicherheitskräfte an. »Wir wollen, dass Sindschar eine eigenständige Provinz wird und Teil des Iraks bleibt«, sagt er während eines Interviews in Tel Kassab, einem verlassenem Dorf in Süden Sindschars, das seiner Einheit als Stützpunkt dient.
Auch Qasim Schevan verließ sein Berglager und schloss sich den Milizen in der Ebene an. »Süd-Sindschar war viel zu lange in den Händen des IS, doch dann kamen die Haschd Al-Schabi und befreiten unsere Dörfer. Sie kämpften unter irakischer Flagge. Es ist im Interesse der Jesiden, sich ihnen anzuschließen«, sagt er. Die Haschd Al-Schabi schüren jesidische Hoffnungen, in Zukunft ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können.
»Es werden nur jesidische Haschd Al-Schabi in Sindschar bleiben«
In einem Lager nahe Tel Kassab werden bereits jesidische Rekruten ausgebildet, die sich durch die Linien der Peschmerga zu den Haschd Al-Schabi durchschlagen konnten. Dort werden sie in Bataillonen zusammengefasst, die einzig für die Verteidigung Sindschars zuständig sein sollen, so Haschd-Sprecher Kaabi. »Es werden nur jesidische Haschd Al-Schabi in Sindschar bleiben«, verspricht Kaabi. Laut Schevan sind bis Juli schon über 3.000 Jesiden den schiitischen Milizen beigetreten, und der Zustrom reiße nicht ab. Es wären noch weit mehr, wenn die Peschmerga die Wege in den Süden nicht gesperrt hätten, sagt er.
Mit ihrem autoritären Auftreten in Sindschar, und weil die Partei es vernachlässigte, Gelder in die marode Infrastruktur des Gebiets zu stecken, hätte die KDP hatte schon vor dem fatalen Rückzug seiner Truppen im August 2014 viele Sympathien verspielt, so Barber. »Der Rückzug der Peschmerga war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
Auch nach dem schicksalshaften Ereignissen im August 2014 verfolgte die Partei ihre Interessen in Sindschar zu Lasten der Jesiden. Um die konkurrierende PKK in Schach zu halten, sperrte der kurdische Sicherheitsdienst, die Asayisch, den Grenzübergang Suhaila, lange der einzige Weg ins Sindschar-Gebiet. Lebensmittel, Baumaterial, Dünger und Arzneimittel konnten nicht mehr eingeführt werden. Bauern, die nach der Zurückeroberung Nord-Sindschars in ihre Dörfer zurückgekehrt waren, wurde daran gehindert, ihre Erzeugnisse aus dem Gebiet zu exportieren. Diese wirtschaftliche Blockade sollte die PKK treffen, und den Jesiden klarmachen, dass es in Sindschar für sie keine Existenzgrundlage geben würde, solange die Guerillas präsent sind. Kritiker wie Barber glauben sogar, dass dadurch eine Rückkehr der Jesiden verhindert werden sollte, da diese mehrheitlich mit der PKK sympathisierten. Die Blockade wurde erst Anfang 2017 gelockert.
Die zynische Aushungerungspolitik stand im Gegensatz zu den Bemühungen von internationalen Hilfsorganisationen, darunter auch der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (giz), den Wiederaufbau voranzutreiben, um so eine Rückkehr der Jesiden zu ermöglichen. Es ist fraglich, ob die Jesiden nach den bitteren Erfahrungen der vergangenen Jahre beim Referendum für die Unabhängigkeit Kurdistans stimmen werden, und damit indirekt für einen Verbleib Sindschars im Autonomiegebiet.
»Sindschar wird mit hundertprozentiger Sicherheit an Kurdistan fallen«
»Sindschar wird mit hundertprozentiger Sicherheit an Kurdistan fallen. Alle Jesiden werden für die Unabhängigkeit stimmen, weil Barzani der Einzige war, der ihnen geholfen hat«, behauptet zwar Qasim Semer, ein jesidsches KDP-Mitglied, der in Sindschar als Berater für die Peschmerga arbeitet. Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass die Partei, die in der westlichen Hälfte des Autonomiegebiets nahezu uneingeschränkt herrscht, mit altbewährten Methoden auf die Jesiden einwirken wird. Schon lange werden Jesiden, die sich den Willen der Kurden wiedersetzen, von deren Sicherheitskräften traktiert und eingesperrt, sagt Barber. »Die Einschüchterung von Jesiden, die sich mit politischen Gegnern der KDP einlassen, ist weitverbreitet und systematisch«, so Barber.
Jesiden, die in Camps auf kurdischem Boden auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten, sind im Vorfeld des Referendums besonders anfällig für Einschüchterung
Die Jesiden, die in Camps auf kurdischem Boden auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten, sind besonders anfällig für solche Einschüchterungsmethoden. »Natürlich werden sie uns zwingen, in ihrem Interesse zu abzustimmen. Sie kontrollieren uns. Sie werden uns beobachten, und wenn wir mit Nein stimmen, werden unsere Lebensmittelrationen nicht mehr ausgeteilt, oder wir verlieren unsere Jobs. Die Asayisch würden uns ins Gefängnis werfen«, sagt ein Flüchtling im Camp »Scharia« nahe der kurdischen Stadt Dohuk während eines Telefoninterviews. Als er nach seinen Namen gefragt wird, lacht der Mann kurz und fragt trocken: »Wollt ihr, dass sie mich schnappen?«
Sollte das Ergebnis des Referendums die territorialen Ansprüche der Kurden in Sindschar stärken, steigt auch das Konfliktpotenzial mit den Haschd Al-Schabi. »Wir hoffen, dass die Peschmerga verstehen, dass die das Gebiet verlassen müssen. Ansonsten könnte es zu Kämpfen kommen«, droht Milizensprecher Kaabi. Falls sich Peschmerga und Haschd in Sindschar bekämpfen, würden die jesidischen Mitglieder den beiden Milizen fernbleiben, hofft Schevan. Eine Rückkehr der Einwohner würde mit der Eskalation aber in noch weitere Ferne rücken. Auch wenn die gegensätzlichen Interessen der Kurden und der irakischen Milizen nicht in weitere Kämpfe um Sindschar enden, sind die Jesiden schon jetzt die Verlierer des Gerangels um ihr Land.
Vor dem Einmarsch der Haschd Al-Schabi verhinderte die Angst vor dem IS und der Disput zwischen den kurdischen Parteien eine Rückkehr in die befreiten Gebiete. Die andauernden Spannungen machen es den Familien in den Flüchtlingscamps weiterhin schwer, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl nun das gesamte Gebiet vom IS befreit ist. Die Front, an der die Kurden ab November 2015 den IS in Schach hielten, grenzt nun die kurdischen und irakischen Machtbereiche ab. Auch wenn die Gewehre entlang der Gräben und Erdwälle in Zukunft schweigen, droht die alte Front zur einer dauerhaften Grenze zu werden, die sich quer durch das Heimatland der Jesiden zieht.