Lesezeit: 6 Minuten
Kommentar zum NATO-Gipfel

Mehr Türkei wagen

Kommentar
Kommentar zum NATO-Gipfel

Ankara möchte eine aktivere Rolle im transatlantischen Bündnis und in der europäischen Sicherheitsarchitektur spielen. Die NATO sollte der Türkei diesen Wunsch erfüllen und sie damit enger an die strategischen Ziele der Organisation binden, fordert Yaşar Aydın.

Ganz oben auf der Agenda des NATO-Gipfels vom 9. bis 11. Juli in Washington steht zweifellos die Abschreckungspolitik gegen Russland. Doch auch der Zusammenhalt innerhalb des Bündnisses wird ein zentrales Thema sein – nicht zuletzt, weil der türkische Außenminister Hakan Fidan Anfang Juni bestätigte, dass die Türkei eine Mitgliedschaft in der BRICS-Gruppe in Erwägung ziehe. Wie ernst es ihm damit ist, stellte er eine Woche später, am 10. Juni, unter Beweis, als er an einem Außenminister-Treffen der BRICS-Staaten in Russland teilnahm. Ankaras Wille, eine aktivere Rolle in der NATO einzunehmen, besteht jedoch weiterhin. Auf ihn einzugehen und die sicherheitspolitischen Bedürfnisse des Landes ernst zu nehmen, würde nicht nur die Schlagkraft des Bündnisses erhöhen: Es bietet auch die Chance, die Türkei stärker in die Pflicht zu nehmen.

 

Russland? Für die Türkei kein Partner auf Dauer

 

Die Enttäuschung über Brüssel, aber auch über Berlin und Paris, sitzt in Ankara tief. Der EU-Beitrittsprozess stagniert, und die Importbeschränkungen für Waffensysteme und Rüstungsgüter bestehen weiterhin. Währenddessen bezieht die Türkei Erdgas aus Russland, erwarb das S-400 Raketenabwehrsystem und ließ das erste Atomkraftwerk des Landes vom russischen Staatskonzern ROSATOM bauen. Dennoch sollte die türkische Rüstungs- und Energiekooperation mit Moskau aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russlands Revisionismus eine Herausforderung für die nationalen Interessen Ankaras darstellt.

 

Der Gaza-Krieg, der Staatszerfall in Syrien, Libyen und dem Irak, die daraus hervorgehende irreguläre Migration sowie der (trans-)nationale Terrorismus: Die unmittelbaren Bedrohungen für die Sicherheit der Türkei gehen derzeit von den Instabilitäten und Konflikten im Nahen Osten aus. Russland ist bei all diesen Herausforderungen keine Hilfe, im Gegenteil – oft stellt es sogar den Gegenspieler dar.

 

Umgekehrt ist die Türkei für die NATO zwar seit langem ein unbequemer Partner. Doch auch, wenn vor allem Frankreich aufgrund der »geringen Werteaffinität« der türkischen Regierung skeptisch ist: Eine stärkere Einbindung der Türkei in die europäische Sicherheitsarchitektur würde die Abschreckungskapazitäten der NATO gegenüber Russland verstärken. Und sollte sich der Konflikt mit China verschärfen, wären die USA gezwungen, ihre Flugzeuge und Luftverteidigungssysteme in den Indopazifik zu verlegen. Russland könnte daraufhin die Ostflanke der NATO herausfordern – was die Türkei zum unersetzlichen Anlaufpunkt machen würde.

 

Eine weitere Entfremdung Ankaras von der NATO muss – und kann – daher verhindert werden. Dazu bedarf es einer pragmatischen, lösungsorientierten Agenda, die der Türkei, in drei Schritten, die aktive Rolle zugesteht, die sie sich wünscht.

 

Eine Annäherung in drei Schritten

 

Ein erster Schritt, um die Türkei stärker einzubeziehen, würde darin bestehen, sie über die PESCO (Permanent Structured Cooperation) der Europäischen Union an Verteidigungsprojekten zu beteiligen und in den Aufbau einer europäischen Armee einzubeziehen. Da das Land ohnehin an der Luftverteidigungsinitiative »European Sky Shield« beteiligt ist, wäre dies nur konsequent.

 

In einem zweiten Schritt könnte die Kooperation mit der türkischen Rüstungsindustrie vertieft werden, um die Abhängigkeit Europas von der überlasteten US-Rüstungsindustrie zu verringern. Die Türkei verfügt über erhebliche Produktionskapazitäten für Munition und Flugabwehrsysteme kurzer und mittlerer Reichweite. Dementsprechend sind die deutschen Restriktionen bei der Beschaffung von Motoren und Getrieben, etwa für Altay-Panzer, oder bei der Beschaffung von Eurofightern zu überdenken. Als weiterer Schritt wäre zu erwägen, die Türkei wieder in das F-35-Programm aufzunehmen.

 

All diese Punkte entsprechen dem türkischen Wunsch nach einer stärkeren Einbindung in die europäische Sicherheitsordnung und einer vertieften Zusammenarbeit der Verteidigungsinstitutionen. Die Kooperation auf diese Weise zu vertiefen, würde nicht nur die NATO-Türkei-Beziehungen im Allgemeinen verbessern, sondern auch zur Lösung von konkreten Streitigkeiten beitragen – etwa denen zwischen Ankara und Athen über die Nutzung von Energieressourcen in der Ägäis. Das könnte die Türkei sogar dazu bewegen, die Blockade des EU-NATO-Engagements aufzugeben, die durch den langjährigen Streit mit Zypern entstanden ist und selbst eine grundsätzliche Abstimmung zwischen beiden Institutionen seit Jahren verhindert. Eine aktivere Rolle Ankaras wäre daher eine Win-Win-Situation für die Türkei und die NATO.


Dr. Yasar Aydin ist Wissenschaftler am CATS – Centrum für angewandte Türkeistudien an der SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik. Neben Fachbeiträgen zu Türkei und Migration schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Türkei. Analyse politischer Systeme«Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Von: 
Yasar Aydin

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.