Zwei Nachbarstaaten am Kaspischen Meer liefern sich vor dem Jahrestag des Bergkarabach-Krieges einen lautstarken diplomatischen Showdown. Was steckt dahinter?
Was ist passiert?
Im Sommer dieses Jahres begannen aserbaidschanische Sicherheitskräfte plötzlich damit, iranische Lastwagenfahrer auf einer Straße zwischen den südarmenischen Städten Kapan und Goris anzuhalten und Zölle zu verlangen. Später wurden einige Lastwagenfahrer aufgrund einer angeblich illegalen Einreise nach Aserbaidschan festgesetzt. Die verhafteten Lastwagenfahrer befanden sich Medienberichten zufolge mit Zementlieferungen auf dem Weg in die Region Bergkarabach.
Die Fernstraße ist wichtig für den Warenverkehr zwischen Iran und Armenien sowie die Region Bergkarabach, deren Status zwischen den verfeindeten Nachbarn Armenien und Aserbaidschan umstritten ist. Doch wenige Kilometer der Fernstraße verlaufen über ein Gebiet, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört und seit dem Bergkarabach-Krieg im letzten Herbst wieder unter der Kontrolle Bakus steht. Kurz danach führte Iran eine großangelegte Militärübung im Grenzgebiet zu Aserbaidschan durch.
Daraufhin setzte sich eine rhetorische Eskalationsspirale zwischen Vertretern beider Länder in Gang. Aserbaidschanische Regierungsvertreter warfen Iran vor, ein Agentennetzwerk schiitischer Geistlicher zu betreiben sowie in Bergkarabach über Jahre hinweg umfangreich Geld gewaschen zu haben.
Zudem kursierten auf einer regierungsnahen Nachrichtenseite Videoaufnahmen, die angeblich belegen sollten, dass das offiziell neutrale Iran im letzten Jahr während des Bergkarabach-Krieges kurzzeitig auf Seiten Armeniens interveniert habe und in das Staatsgebiet Aserbaidschans eingedrungen sei. Teheran konterte mit dem vagen Verweis auf »dritte Parteien«, die die guten Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Iran störten – eine Bemerkung, die sich als Seitenhieb auf das zunehmend enge Verhältnis zwischen Israel und Aserbaidschan interpretieren lässt.
Aserbaidschan schloss außerdem das öffentliche Verbindungsbüro Irans in Baku und begründete dies mit dem Verstoß gegen bestehende Covid-Vorschriften. Mitte Oktober setzen aserbaidschanische Sicherheitskräfte mehrere schiitische Geistliche fest, darunter den bekannten Prediger İlqar İbrahimoğlu, der auf den sozialen Medien über eine große Reichweite verfügt.
Worum geht’s wirklich?
Knapp ein Jahr nach dem Bergkarabach-Krieg tritt die veränderte geopolitische Großwetterlage im Kaukasus immer deutlicher zu Tage. Während Aserbaidschan weithin in brüderlicher Symbiose mit der Türkei verbunden ist, aber auch enge Beziehungen zu Pakistan und Israel pflegt – Flaggen der drei Länder lassen sich überall im Land selbst im Straßenbild finden – rückt Armenien in Ermangelung politischer Optionen noch näher an Russland, dessen Friedenstruppen seit dem Krieg das verbliebene von Armeniern bewohnte Gebiet in Bergkarabach sichern.
Der große Verlierer ist dabei Iran. Nicht nur sind das Nato-Mitglied Türkei und die Atommacht Pakistan zwei der wichtigsten regionalen Rivalen Irans. Ankara verhalf Aserbaidschan mit Drohnentechnologie, strategischer Beratung und wohl auch durch Truppenunterstützung in Form syrischer Söldner, die in ihrer Heimat wiederum vor allem Teherans Verbündete bekämpften, zu einer erfolgreichen Militärkampagne in Bergkarabach. Ganz besonders stört Teheran sich aber an der zunehmend herzlichen Beziehung zwischen Israel und Aserbaidschan. Die Vorstellung, dass sich Erzfeind Israel auch militärisch in der unmittelbaren Nachbarschaft positionieren kann, lässt in iranischen Sicherheitskreisen die Alarmglocken läuten.
Dazu kommt, dass Armenien einer der wenigen Nachbarn Irans in der Region ist, mit dem das international isolierte Regime in Teheran noch freundschaftliche Beziehungen pflegt. Doch direkt an der schmalen armenisch-iranischen Grenze soll nach dem Willen Aserbaidschans der sogenannte Sangesur-Transportkorridor entstehen, der die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan mit dem Rest des Landes verbindet.
Die aserbaidschanische Regierung beruft sich dabei auf das Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan im letzten Jahr. Darin einigten sich die Konfliktparteien zwar auf die Öffnung der Kommunikations- und der Transportwege, doch die genauen Bedingungen wurden nicht definiert und werden in Baku und Jerewan bisher äußerst unterschiedlich interpretiert. Klar geregelt ist jedoch eine Sicherung der zu öffnenden Transportwege durch russische Friedenstruppen. Iran und Armenien wären an ihrer gemeinsamen Grenze dann auf den guten Willen Moskaus angewiesen – das engt die strategische Autonomie für beide Partner enorm ein.
Neben Fragen des armenisch-iranischen Grenzverkehrs und der aus iranischer Sicht hochproblematischen Verbündeten Bakus spielen noch drei weitere Punkte in das komplizierte Verhältnis zwischen Aserbaidschan und Iran. Zum einen lebt im Norden Irans eine große aserbaidschanische Minderheit. Teheran fürchtet nun, dass im nationalistischen Hochgefühl nach dem gewonnenen Krieg um Bergkarabach fast schon vergessene Ideen einer politischen Vereinigung beider aserbaidschanischer Siedlungsgebiete an Auftrieb gewinnen könnten.
Eine aus Baku angestachelte aserbaidschanische Separatismus-Bewegung würde den Vielvölkerstaat Iran, in dem nur rund die Hälfte der Bevölkerung Perser sind, in seinen Grundfesten bedrohen und birgt daher enormes Eskalationspotential. In der Vergangenheit schreckte die aserbaidschanische Regierung daher eigentlich vor dem Ziehen der Nationalitätenkarte zurück.
Umgekehrt fürchtet die säkulare Elite in Aserbaidschan kaum etwas so wie eine religiöse Einflussnahme Irans. Die ehemalige Sowjetrepublik gehört wie Iran zu den wenigen mehrheitlich schiitischen Ländern. Wie in anderen muslimisch geprägten früheren Sowjetrepubliken wird die Religionsausübung in Aserbaidschan jedoch streng von der autokratischen Regierung überwacht.
Des Weiteren bestehen zwischen den beiden Anrainerstaaten des Kaspischen Meers noch Spannungen im Energiesektor. Im Öl- und Gasmarkt sind beide Länder wirtschaftliche Konkurrenten.
Wie geht es weiter?
Die in Folge des Bergkarabach-Krieges immer stärker hervortretenden grundsätzlichen Konfliktlinien zwischen Aserbaidschan und Iran werden sich kaum über Nacht auflösen. Eine militärische Eskalation zwischen den beiden Nachbarn erscheint allem Säbelrasseln zum Trotz aber derzeit unwahrscheinlich. Für beide Länder wäre gegenwärtig nur wenig durch eine weitere Zuspitzung zu gewinnen.
Vielmehr diente die kurzzeitige Eskalation beiden Regierungen wohl eher zum Setzen roter Linien – nach innen wie außen. Die verhafteten Lastwagenfahrer kamen wie auch Prediger İbrahimoğlu nach kurzer Zeit wieder frei. Aserbaidschanischen Medienberichten zufolge verbot Teheran iranische Lieferungen nach Bergkarabach. Armenien plant dagegen eine neue Straße zur iranischen Grenze, die vollständig über armenisches Staatsgebiet führt.
Am 10. November jährt sich das von Russland vermittelte Waffenstillstandsabkommen im Bergkarabach-Krieg zum ersten Mal. Um Jahrestag könnten Verhandlung zu einem Abkommen zwischen dem russischen Staatschef Wladimir Putin und seinen armenischen und aserbaidschanischen Gegenübern Nikol Paschinijan und Ilham Aliyev an Fahrt aufnehmen, in dem auch eine genauere Ausgestaltung des Sangesur-Korridors sowie weitere offene Grenzfragen geregelt werden. In Teheran wird man diese Verhandlungen mit Spannung zur Kenntnis nehmen. Denn am Verhandlungstisch sitzt Iran nicht.