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Libanon, Israel und die Hizbullah

Wie geht es weiter nach Nasrallahs Tötung?

Kommentar
Libanon, Israel und die Hizbullah

Am 27. September tötete Israel Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah in Beirut. Welche Handlungsoptionen sich daraus für Iran und Israel ergeben und welche Auswirkungen der Tod Nasrallahs für den Nahen Osten haben wird.

Mit den Pager-Angriffen im Libanon war es Israel gelungen, die Hizbullah wichtiger Kommunikationswege zu berauben. In den zehn Tagen vor Nasrallahs Tötung verübte Israel zudem eine Serie von Luftschlägen gegen hochrangige Mitglieder der Bewegung. Viele Beobachter stellten sich deshalb die Frage, ob Israel nicht imstande war, auch Nasrallah schon früher zu töten.

 

Mehrere Indizien lassen jedoch darauf schließen, dass die Regierung Netanyahus eine andere Strategie verfolgt: Der Stabschef der israelischen Armee hatte zwar bereits vor deren Beginn angedeutet, seine Truppen auf eine Bodenoffensive vorzubereiten. Benjamin Netanyahu war in der vergangenen Woche aber gerade nach New York gereist und somit noch nicht der passende Zeitpunkt für weitere Kampfhandlungen gegen die Hizbullah gegeben. Zudem hatten US-Präsident Joe Biden und sein französischer Amtskollege Emanuel Macron am 25. September in New York einen Anruf für einen Waffenstillstand im Libanon unterzeichnet. Den unterstützten neben der EU auch die Regierungen von Australien, Kanada, Deutschland, Italien, Japan, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar.

 

Nur zwei Tage nach diesem Aufruf, den Netanyahu abgelehnt hatte, griff Israel in einem Vorort von Beirut das Hauptquartier der Hizbullah mit Luftschlägen an. Dabei wurden Hassan Nasrallah und weitere Mitglieder seines Generalstabs getötet. Danach setzte Israel seine Luftangriffe fort.

 

Inwieweit beabsichtigt Israel nun, eine Gemengelage auszunutzen, die eindeutig zu seinen Gunsten ausfällt?

 

Zweifellos wurde eine mögliche Gegenreaktion innerhalb der iranischen Führung diskutiert. Nicht zu reagieren würde bedeuten, eine faktische Niederlage seiner Stellvertreter in der Region hinzunehmen. Zu reagieren hieße aber, ein hohes Risiko einzugehen, ähnlich wie Israel damals im April: Mit Hilfe seiner Verbündeten hatte Israel eine Reihe von iranischen Angriffen abgewehrt und somit zwar nur vereinzelt, jedoch mit einer erschreckenden Effizienz reagiert. So tötete Israel am 1. April einen ranghohen Offizier der Revolutionsgarde in der iranischen Botschaft in Damaskus. Einige Monate später, am 31. Juli, wurde Ismail Haniyeh, der politische Führer der Hamas, in Teheran ermordet – eine enorme Demütigung für die Iraner, deren Reaktion zu diesem Zeitpunkt ausblieb.

 

Die Sprecher der neuen iranischen Regierung betonen immer wieder, dass sie versuchen, eine regionale Eskalation zu vermeiden. Iran befindet sich momentan in einer Phase, in der man die eigenen Handlungsoptionen auf den Prüfstand stellt. Hierbei stehen wirtschaftliche Fragen sowie das Verhältnis mit den Nachbarn in der Region (insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emiraten), aber auch den USA (wegen deren Rolle im Irak) auf der Liste der Prioritäten.

 

Inwieweit beabsichtigt Israel nun, eine Gemengelage auszunutzen, die eindeutig zu seinen Gunsten ausfällt? Viele Beobachter beantworten diese Frage derart, dass Netanyahu bis zu den Präsidentschaftswahlen in den USA so weit wie nur irgend möglich gehen wird. Und das, obwohl noch keine Indizien dafür vorliegen, dass Kamala Harris oder Donald Trump mehr Druck auf Netanyahu ausüben würden. Und egal, wie sehr Biden in den vergangenen Monaten seine Unzufriedenheit mit dem israelischen Premierminister zum Ausdruck brachte, hat es zu keinem Zeitpunkt dazu geführt, die militärische Unterstützung der Amerikaner für Israel auch nur in Frage zu stellen.

 

Unterdes ist es der israelischen Regierung weder gelungen, die verbliebenen nach Gaza verschleppten Geiseln zu befreien, noch Hamas-Anführer Yahya Sinwar ausfindig zu machen. Dafür kontrollieren die Israelis den Gazastreifen, treiben die Annexion des gesamten Westjordanlands weiter voran und haben gerade die Bodenoffensive im Libanon gestartet – von eben jenen drei Faktoren verspricht sich Netanyahu, die Kritik an den ansonsten verfehlten Kriegszielen auszuhebeln.

 

Der erste Schritt hin zu einem Waffenstillstand bestünde darin, Israel zu einer einseitigen Einstellung der Kampfhandlungen im Libanon aufzurufen

 

So bleibt eine dritte Frage offen: Wie sollten sich Israels Partner verhalten? Der erste Schritt hin zu einem Waffenstillstand bestünde darin, dass die Vereinigten Staaten, Frankreich sowie all jene, die den Appel vom 25. September unterstützt haben, Israel zu einer einseitigen Einstellung der Kampfhandlungen im Libanon aufzurufen. Dies mag zunächst einmal widersprüchlich erscheinen, würde jedoch die Voraussetzungen für eine Regelung schaffen, die die Rückkehr Tausender vertriebener Israelis ermöglicht.

 

Angesichts der Machtverhältnisse – und der anhaltenden Unterlegenheit der Hizbullah – kann Israel eine solche Geste leisten. Das Risiko iranischer Vergeltungsschläge würde hierbei minimiert werden. Die Vermittler in dem Konflikt hätten die Möglichkeit, von der Hizbullah und den libanesischen Behörden – mit Unterstützung der Vereinten Nationen – die Umsetzung der Resolution 1701 durchzusetzen, die den Konflikt von 2006 beendet hatte.

 

Die Resolution sah damals insbesondere den Rückzug der Hizbullah aus dem Süden des Landes vor. Ein Abkommen auf dieser Grundlage müsste auch Sicherheitsgarantien für Israel beinhalten und von jenen Staaten ausgehen, die die französisch-amerikanische Initiative vom 27. September unterstützt haben. In solch einem Szenario bestünde für die Libanesen die Möglichkeit, aus der momentanen politischen Sackgasse zu finden und etwa die seit zwei Jahren aufgeschobene Wahl eines neuen Präsidenten voranzubringen. Umgekehrt wären dann weder die politische Zukunft Gazas noch des Westjordanlandes geklärt.

 

Insbesondere im Westjordanland sollten Israels Verbündete unter keinen Umständen eine Politik der Repression und der expandierenden Besatzung akzeptieren, die derzeit von der israelischen Regierung so vorangetrieben werden. Denn Israels Haltung im Westjordanland macht die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung, die die Verbündeten Netanyahus angeblich unterstützen, derzeit praktisch unmöglich.


Der Text ist im Original auf Französisch beim Institut Montaigne erschienen. Michel Duclos ist ehemaliger Diplomat und war französischer Botschafter u.a. bei den Vereinten Nationen (2002-2006), Syrien (2006-2009) und zuletzt in der Schweiz (2012-2014).

Von: 
Michel Duclos

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