Wie sich die Aufstandsbewegung der Belutschen in Pakistan und Iran über vier Jahrzehnte entwickelt und verändert hat – und warum die Miliz »Jaisch Al-Adl« plötzlich im geopolitischen Scheinwerferlicht steht.
Die iranischen Luftschläge in der pakistanischen Provinz Belutschistan verdeutlichen nicht nur die mitunter widersprüchliche Dynamik im Verhältnis der Nachbarstaaten, sondern tragen im derzeitigen Kontext des Gaza-Kriegs auch zur Instabilität in der gesamten Region bei. Im Zentrum der jüngsten Eskalation der Spannungen zwischen Iran und Pakistan steht mit »Jaisch Al-Adl« eine Miliz mit Wurzeln in beiden Ländern.
Seit Jahrzehnten gewinnen im Südosten Irans Fraktionen innerhalb der salafistischen Bewegung an Einfluss, deren Ursprünge auf transnationale Gruppen zurückgehen. Aus dieser Ideologie, deren Wurzeln in der antikolonial ausgerichteten, sunnitisch-islamistischen Denkschule des Seminars von Deoband liegen, ging vor knapp hundert Jahren etwa auch die südasiatische Missionsbewegung »Tablighi Jamaat« hervor.
In den 1980er-Jahren spielten die pakistanischen Deobandi-Netzwerke eine zentrale Rolle im Kampf in Afghanistan gegen die Sowjets, wie auch danach bei der Ausbreitung der Taliban. Dschihadistische Neugründungen wie »Sipah-e-Sahaba Pakistan« (1985) sowie die Milizen, die unter dem Sammelbegriff Mudschaheddin auf die Bildfläche traten, weckten das Interesse vieler Belutschen in Iran.
Die Selbstmordanschläge zielten unter anderem auf schiitische Gläubige und zeugen vom Einfluss von Al-Qaida-Taktiken auf Jondollah
Sunnitische Geistliche unterstützen solche Gruppen im Nachbarland nicht nur verbal in ihren Freitagspredigten, sondern sammelten auch Spenden und riefen mitunter dazu auf, sich dem bewaffneten Kampf in Afghanistan anzuschließen. Schon seit 1970er-Jahren hatten afghanische Mudschaheddin-Gruppen Rekruten aus den iranischen Grenzprovinzen Khorasan und Sistan-Belutschistan in ihren Reihen.
Doch die islamistische Aufstandsbewegung in Belutschistan in ihrer modernen Form nahm erst vor etwa zwanzig Jahren Gestalt an und ist mit einem Namen verbunden: 2003 gründete Abdolmalek Rigi die Miliz Jondollah (»Soldaten Gottes«). Rigi wurde 1979 in Zahedan geboren, begann dort seine religiöse Ausbildung und setzte diese im Nachbarland fort: am Faruqiya-Seminar in Karatschi, einem der ideologischen Ableger des Deoband-Netzwerks. Relativ schnell brach der junge Belutsche das Studium jedoch ab und tauchte Ende der 1990er-Jahre in den Untergrund ab: Zunächst schloss sich Rigi der »Sepah-Rasul Allah« (Armee des Gesandten Gottes«) an. Diese belutschische Miliz verlegte sich als eine der ersten ihrer Art auf Angriffe von pakistanischem Territorium aus Richtung Iran.
Die Ausweitung des Aktionsradius trieb Rigi Anfang der 2000er-Jahre noch weiter voran: So zeichnete er etwa für die Entsendung von Al-Qaida- und Taliban-Kämpfern in Konfliktgebiete im Ausland verantwortlich, allen voran in den Irak und den Jemen. Aus diesem Kontakt-Netzwerk entstand dann schließlich Jondollah – nicht zuletzt auch dank logistischer Unterstützung durch den pakistanischen Geheimdienst »Inter-Services Intelligence« (ISI). Zwischen 2006 und 2011 verübte Jondollah 29 Anschläge, bei denen 210 Menschen starben und 496 verletzt wurden. Die Selbstmordanschläge zielten vor allem auf Angehörige der Sicherheitskräfte sowie schiitische Gläubige und zeugen vom Einfluss von Al-Qaida-Taktiken auf Jondollah.
Die im Sommer 2010 vereinbarte Pipeline-Verbindung sorgte zumindest auf dem Papier für eine Konvergenz der Sicherheitsinteressen
Im Februar 2010 ging Abdolmalek Rigi dem iranischen Geheimdienst ins Netz und wurde bereits im Juni desselben Jahres hingerichtet. Einige Beobachter mutmaßten damals, dass der Schlag gegen Jondollah auch deshalb gelang, weil Saudi-Arabien die strategische Entscheidung traf, die (nie offizielle) Unterstützung für die Miliz einzustellen – in der (letztlich nicht erfüllten) Erwartung, dass Iran im Fall der Huthis im Jemen ebenso handeln würde. Darüber hinaus bewegten damals energiepolitische Erwägungen Pakistan und Iran dazu, im Kampf gegen belutschische Separatisten enger zu kooperieren: Die im Sommer 2010 vereinbarte Pipeline-Verbindung sorgte zumindest auf dem Papier für eine Konvergenz der Sicherheitsinteressen.
Und die, so die offizielle Version, habe Rigis Verhaftung letztlich ermöglicht: Nach iranischen Angaben war der Jondollah-Anführer am 23. Februar von Afghanistan nach Kirgisistan gereist, mit einem zweistündigen Zwischenstopp in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auf dem Weg von Dubai nach Bischkek zwangen drei iranische Kampfjets das kirgisische Flugzeug zur Landung auf dem Flughafen Bandar Abbas in Iran, wo Rigi festgenommen wurde: Das iranische Außenministerium beeilte sich daraufhin zu betonen, dass die Verhaftung des Milizenführers Resultat einer gemeinsamen Operation des pakistanischen ISI und des iranischen Sicherheitsdienstes gewesen sei.
Ebenso öffentlichkeitswirksam inszenierte das iranische Staatsfernsehen die Verhöre mit dem inhaftierten Milizenführer, inklusive bekannter Zutaten: So führt Rigi Mossad und CIA als angebliche Unterstützer seiner Miliz an und ruft seine Anhänger dazu auf, von Vergeltungsoperationen gegen Iran abzulassen.
Dem Verlust von Rigi folgten interne Grabenkämpfe um Führung, ideologische Ausrichtung sowie deutlich sinkende Unterstützung aus den Reihen der belutschischen Bevölkerung. Ab 2011 zerfiel Jondollah in ein halbes Dutzend Milizen, die sich allerdings alle als Teil einer von Abdolmalek Rigi gegründeten »Jondollah«-Bewegung sahen.
Ein früherer Kampfgenosse Rigis gründete den langlebigsten Jondollah-Nachfolger
Ein früherer Kampfgenosse Rigis gründete den langlebigsten Jondollah-Nachfolger: Bis heute steht Salahuddin Faruqi der Miliz »Jaisch Al-Adl« (Armee der Gerechtigkeit«) vor. Dabei profitierte er auch vom wachsenden Widerstand in Reihen der belutschischen Zivilbevölkerung gegen die Justiz- und Sicherheitsbehörden der Islamischen Republik. 2012 wurde mit Molavi Fathi-Mohammad der Imam von Faruqis Heimatgemeinde Rask im Zusammenhang mit der Ermordung eines anderen Geistlichen festgenommen. Der Schauprozess inklusive erzwungener Geständnisse, die angebliche Finanzierung aus dem Golf enthüllen sollten, führten zu Protesten in Rask und darüber hinaus. Ein Jahrzehnt später gehörte Molavi Fathi-Mohammad zu jenen sunnitischen Gelehrten, die im Zentrum der monatelangen Anti-Regime-Proteste in der Provinz Sistan-Belutschistan standen.
Vor allem aber stellte Faruqi den Jondollah-Nachfolger neu auf und hat sein Operationsgebiet in drei Militärbezirke unterteilt. Seit seiner Gründung hat »Jaisch Al-Adl« zwischen 2013 und 2018 über 200 Angehörige der Revolutionsgarde, der Bassidsch und der Polizei getötet. Eine gängige Taktik dabei sind Bombenanschläge mit Fernzündern. Der aufsehenerregendste Fall ereignete sich am 25. Oktober 2013, als 14 iranische Polizisten starben. Im Januar 2014 entführte die Miliz fünf junge Grenzbeamte. Nach langwierigen Verhandlungen wurden vier von ihnen im März 2014 freigelassen, während einer von der Gruppe getötet wurde.
»Jaisch Al-Adl« entschied sich in dieser Phase für eine Reihe strategischer Paradigmenwechsel: So war die Miliz bemüht, Spannungen mit den Nachbarländern Pakistan und Afghanistan zu vermeiden und seine Aktivitäten ausschließlich auf die Islamische Republik Iran zu konzentrieren. Im Innern suchte die Miliz die Bindungen zu den religiös einflussreichen Familienverbänden zu stärken. Zuletzt bemühte sich »Jaisch Al-Adl« darum, ein nach innen wie außen gemäßigteres Image zu vermitteln – auch deswegen ließ man etwa gefangene Polizisten frei.
Gerade die Frage des Ansehens in der Region legte Differenzen innerhalb der Miliz offen. Insbesondere die Tötung von Grenzpolizisten brachte weite Teile der iranischen Bevölkerung gegen die Miliz auf. In der Folge hat »Jaisch Al-Adl« seinen Fokus auf Propaganda und Rekrutierung gelegt. Seit 2018 unterhält die Miliz einen Telegram-Kanal und postet Videos, in denen die Mitglieder ihre Unterkünfte filmen und ihre Beweggründe diskutieren, sich der Miliz anzuschließen.
Die Anschläge von »Jaisch Al-Adl« richten sich seit 2022 vor allem gegen Mitglieder der Revolutionsgarde
Die ursprünglich antischiitische Ausrichtung von »Jaisch Al-Adl« ist inzwischen einer Feindschaft gegenüber der Islamischen Republik Iran gewichen. Insbesondere nach dem Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates (IS) hat die Miliz sektaristische Rhetorik zurückgefahren. In Reaktion auf die Protestbewegung seit Herbst 2022 positioniert sich »Jaisch Al-Adl« stattdessen als Fürsprecher für die Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen in Iran.
Die derzeitige Lage auf der iranischen Seite Belutschistans ähnelt stark jener vor einem Jahrzehnt. So wie 2012 sitzt Molavi Fathi-Mohammad im Gefängnis, sein Sohn ist vor den Sicherheitskräften geflohen und baut aus dem Untergrund heraus über verschiedene Medienkanäle eine organisierte Opposition gegen die Islamische Republik auf. Ebenso geraten Sicherheitskräfte wieder ins Visier von »Jaisch Al-Adl«: Beim Anschlag auf das Polizeihauptquartier in Rask am 15. Dezember 2023 kamen über ein Dutzend Beamte ums Leben.
Ein Fanal für die Renaissance von »Jaisch Al-Adl« war sicher der »Blutfreitag«, als am 30. September 2022 über 90 Menschen im Zuge der Anti-Regime-Proteste von den Sicherheitskräften getötet wurden. Seitdem zeichnete die Miliz für mindestens sieben Anschläge verantwortlich, die sich nun vor allem gegen Mitglieder der Revolutionsgarde richten. Aber auch andere Vertreter der Institutionen des Regimes gerieten in der Phase zwischen September 2022 und Januar 2024 ins Visier, darunter etwa Richter und andere Justizbeamte.
In diese Reihe fällt auch die jüngste Auseinandersetzung, die Mitte Januar international für Schlagzeilen, aber auch Verwirrung gesorgt hatte. Nachdem die Revolutionsgarde verkündet hatte, man habe Stützpunkte von »Jaisch Al-Adl« in Pakistan unter Feuer genommen, ermordete die Gruppe wenige Stunden später den stellvertretenden Befehlshaber der Garde in Saravan sowie dessen zwei Leibwächter.
Das das geostrategische Verhältnis von Iran und Pakistan wird auch künftig vom Umgang mit der belutschischen Minderheit abhängen
Spätestens seit Beginn der 2000er-Jahre steht der Status quo in Belutschistan in Frage. Neue Guerillas wie Jondollah und später »Jaisch Al-Adl«, die einflussreichen belutschischen Familien entstammen, mobilisieren gegen den wachsenden Einfluss der Revolutionsgarde in der Provinz und reagieren außerdem auf Teherans Intervention in die internen Konflikte anderer islamischer Länder, nutzen aber auch die Instabilität im Grenzgebiet im Kontext der geopolitischen Rivalitäten der Islamischen Republik zum eigenen Vorteil aus.
Die zunehmenden Sicherheitsbedrohungen für Teheran zeigen einmal mehr, wie notwendig die Zusammenarbeit ist, vor allem mit Pakistan, aber auch mit Afghanistan, trotz der vielen Differenzen mit den beiden Nachbarn im Osten. Eine Kooperation der Sicherheitsapparate wird der Probleme in den Grenzregionen aber wohl nur kurzfristig Herr werden. Eine größere Gefahr für Teheran und Islamabad wäre eher eine Annäherung der insgesamt noch eher separaten belutschischen Gemeinden in Iran und Pakistan, die nun in Erfahrung ganz ähnlicher Repressionen eine stärkere Koordination anstreben könnten.
Darüber hinaus schränken die Angriffe auf die Stützpunkte von »Jaisch Al-Adl« deren Aktivitäten zwar ein, eliminiert ist die Miliz aber lange nicht. Dennoch ist eine Ausweitung der Kampfhandlungen erst einmal nicht zu erwarten. Trotz der weitverbreiteten Unzufriedenheit mit den Zentralregierungen, wird in den belutschischen Gemeinden ein zwischenstaatlicher Konflikt zwischen Iran und Pakistan nicht als hilfreich angesehen. Besonders auf iranischer Seite sind sich viele Menschen zudem bewusst, dass das Aufkommen bewaffneter Gruppen nur zu einer weiteren Aufstockung der Sicherheitskräfte führen und die Lebensbedingungen vor Ort verschlechtern wird.
Zudem verhandelt das Regime den Status der sunnitischen Belutschen eben nicht primär mit »Jaisch Al-Adl« und anderen bewaffneten Gruppen, sondern mit den lokalen religiösen Eliten, die einen stärkeren Einfluss auf ihre Gemeinschaften haben. Ihre zentrale Rolle bei der Bewältigung möglicher Konflikte mit den Sicherheitskräften des Regimes ist von entscheidender Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beobachten, wie sich die Beziehungen zwischen Teheran und den sunnitischen Institutionen in Sistan-Belutschistan entwickeln werden. In jedem Fall sollten die jüngsten Spannungen zwischen Iran und Pakistan daran erinnern, dass das geostrategische Verhältnis beider Länder erheblich vom Umgang mit ihren belutschischen Minderheiten abhängt – und nur mit ihnen, nicht gegen sie gestaltet werden kann.