Nach den Wahlen in Nordzypern hat die Vision von einer Föderation von Griechen und Türken ihre politische Heimat verloren. Es ist die Geschichte einer verpassten Gelegenheit.
Mitte Oktober setzte sich Ersin Tatar bei den Präsidentschaftswahlen der Türkischen Republik Nordzypern gegen Amtsinhaber Mustafa Akıncı durch. Nach den Wahlen warf der unterlegene Akıncı Ankara vor, sich zu Gunsten Tatars eingemischt zu haben. Es geht um einiges, denn die Wahlen haben richtungsentscheidende Bedeutung für die Zukunft der gesamten Insel – und im Gegensatz zum Nationalisten Tatar strebte Akıncı ein föderales Modell für den türkischen und den griechischen Teil Zyperns an.
Akıncı war die vorerst letzte Hoffnung auf die Wiedervereinigung der Insel. Seit 1974 ist Zypern zwischen türkischen und griechischen Zyprioten geteilt, als griechische Nationalisten in einem Staatsstreich versuchten, die Insel mit Griechenland zu vereinen und die Türkei militärisch intervenierte. Akıncı war einer der wenigen Politiker, der tatsächlich an die Existenz eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Bevölkerung glaubte und eine Föderation anstrebten. Die meisten seiner griechischen und türkischen Amtskollegen sahen die Dinge anders.
Das Konzept des Zypriotismus basiert auf der Idee, dass Zypern einen einzigartigen Charakter hat und daher eine von Griechenland und der Türkei unabhängige Einheit bilden muss. Es geht dabei nicht um Ethnizität, sondern um Einheit. Im Allgemeinen sind seine Befürworter linke Intellektuelle beider Gemeinschaften. Die meisten von ihnen sind für eine föderale Lösung, einige Gruppen befürworten auch einen Einheitsstaat.
Sowohl griechische als auch türkische Nationalisten glauben aber nicht an eine zypriotische Nation: Die besitze bestenfalls eine geografische Identität, mitunter wird der Zypriotismus aber auch als Konstrukt und Instrument auswärtiger Einmischung gebrandmarkt. Obwohl griechisch-zypriotische Politiker den Begriff gelegentlich als rhetorisch aufgreifen, ist er in der griechisch-zypriotischen Gemeinschaft nicht weit verbreitet.
Im Gegensatz dazu erfreut sich Zypriotismus zunehmender Beliebtheit unter jungen türkischen Zyprioten, die die Einwanderung aus der Türkei sowie den wachsenden politischen Einfluss Ankaras als Bedrohung ihrer einzigartigen säkularen zypriotischen Kultur sehen.
Akıncı und Anastasiades wurden beide in der südlich gelegenen Stadt Limassol geboren.
Dass Akıncı im April 2015 mit 60,6 Prozent der Stimmen gewählt wurde, galt als Zeichen dafür, dass eine Mehrheit der türkischen Zyprioten die Wiedervereinigung weiterhin unterstützt. Denn die Ablehnung des von den Vereinten Nationen unterstützten Annan-Plans für eine föderale Lösung im Jahr 2004 durch fast zwei Drittel der griechisch-zyprischen Wähler hatte einen schweren Rückschlag für die türkischen Zyprioten bedeutet, die mit 65 Prozent dafür gestimmt hatten. Als die griechischen Zyprioten schon sechs Tage nach den Wahlen Mitglied der EU wurden, blieb die türkische Seite als ein nur von der Türkei anerkannter und vom Rest der Welt isolierter Kleinstaat im Regen stehen. Doch mit Akıncı begann eine neue Ära.
Akıncıs Amtskollege Nikos Anastasiades, seit 2013 Präsident der international anerkannten Republik Zypern, war der einzige griechisch-zypriotische Führer, der den Annan-Plan der UN unterstützte. Beide wurden in der südlich gelegenen Stadt Limassol geboren. »Herr Anastasiades und ich gehören derselben Generation an. Wenn wir das jetzt nicht lösen können, dann könnten die nächsten Generationen, die keine Erinnerungen an das Zusammenleben mit der anderen Gemeinschaft haben, versucht sein, andere Optionen zu erkunden. Dann stünde eine dauerhafte Scheidung auf der Agenda«, sagte Akıncı nach seinem damaligen Wahlsieg.
Damals warnte er davor, dass es die letzte Gelegenheit für eine föderale Lösung für den Zypernkonflikt sein könnte. Der gelernte Architekt Akıncı hatte sich auch auf seinem früheren Posten einen Ruf als Brückenbauer erarbeitet. Von 1976 bis 1990 war er Bürgermeister des türkischen Teils der geteilten Hauptstadt Nikosia. In dieser Funktion machte er sich etwa um die Lösung des Abwasserproblems in der Stadt verdient, indem er sich eng mit seinem griechischen Amtskollegen abstimmte.
Akıncı und Anastasiades starteten bereits im Frühjahr 2015 den interkommunalen Verhandlungsprozess unter Führung der UN. Rasch wurden gemeinsame Ausschüsse gebildet, um vertrauensbildende Maßnahmen auszuarbeiten. Dem guten persönlichen Verhältnis der beiden Politiker kam dabei eine wichtige Signalwirkung bei. So spazierten Akıncı und Anastasiades weithin sichtbar auf beiden Seiten der Grünen Linie, also der Pufferzone zwischen den beiden Gemeinschaften, oder sendeten gemeinsam im Fernsehen Feiertagsgrüße auf Türkisch und Griechisch. Die Gegend rund um die Grüne Linie für Treffen und Veranstaltungen war bewusst gewählt worden: als Ausdruck der Status Quo der Teilung und Plädoyer für deren Überwindung.
»Um dieses Problem zu lösen, brauchen wir nicht Jahre, sondern Monate«, zeigte sich Akıncı im März 2016 hoffnungsvoll über den Verlauf der Gespräche und den politischen Willen auf beiden Seiten. Und noch im Juni 2016 stellte der Präsident Nordzyperns den Anschluss eines Abkommens binnen eines Monats in Aussicht.
Doch der Durchbruch blieb aus. Stattdessen warnte Akıncı einen Monat später: »Wir sollten härter arbeiten, denn 2017 könnte eine neue Dynamik entstehen, die unsere Einigungsbemühungen gefährden könnte.« Eine wichtige Rolle spielten die neu entdeckten beziehungsweise vermuteten Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer, die seither ein wichtiger Faktor in der politischen Dynamik der Region sind. Anastasiades genehmigte Anfang 2017 einseitig Bohrungen vor der zypriotischen Südküste, obwohl sich die Führung der türkischen Zyprioten dagegen ausgesprochen hatte – wohl auch auf innenpolitischen Druck, schließlich stand 2018 seine Wiederwahl auf dem Spiel.
Bei den Crans-Montana-Gesprächen in den Augen seiner Kritiker ging Akıncı zu weit.
Auch die internationalen Rahmenbedingungen verschlechterten sich, etwa durch den Machtwechsel im Weißen Haus. Im Juli 2017 endeten die Vermittlungsgespräche im Schweizer Skiort Crans-Montana nach zwei Jahren ergebnislos. Das Gipfeltreffen der griechischen und türkischen Zyprioten sowie den Unterzeichnern des Londoner Garantievertrages (1960), also der Türkei, Griechenland und Großbritannien, unter Aufsicht von UN und EU ist danach nicht wieder aufgenommen worden.
Seit den Gipfelabkommen von 1977 und 1979 wurden die Zypernverhandlungen von der UN mit dem Ziel geführt, einen Föderalstaat mit einer bi-kommunalen und bi-zonalen Föderationsvereinbarung (BFF) unter politischer Gleichberechtigung zu gründen. Doch keine der beiden Seiten hatte diese Bedingungen je akzeptiert. Der Großteil der griechischen Zyprioten unterstützt einen Einheitsstaat, während die türkischen Zyprioten zwei getrennte, international anerkannte Staaten bevorzugen.
Bei den Crans-Montana-Gesprächen ging Akıncı nach Ansicht seiner Kritiker zu weit in seinen Bemühungen, eine Einigung auf Grundlage der BBF zu erreichen. Wegen seiner weitreichenden Zugeständnisse an die griechische Seite wurde ihm mitunter Verrat vorgeworfen. Anastasiades wiederum ließ sich auf keine Kompromisse ein – im Rahmen seines Wahlkampfs näherte sich der Präsident der Republik Zypern den föderationsfeindlichen Rechtsparteien an.
Laut dem türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu soll Anastasiades während der Verhandlungen unter vorgehaltener Hand vorgeschlagen haben, nach den Wahlen über eine Zwei-Staaten-Lösung zu diskutieren. Sein Argument: Eine Föderation würde nicht funktionieren, da die griechischen Zyprioten die Macht nicht mit den türkischen Zyprioten teilen wollten. Nach seinem Wahlsieg, bei einem Treffen in New York, soll er dann eine Konföderationslösung vorgeschlagen haben. Anastasiades wies diese Behauptungen zurück.
»Aus griechisch-zypriotischer Sicht bedeutet das Zugestehen der politischen Gleichberechtigung mit den türkischen Zyprioten, Macht abzugeben. Die Realität ist, dass kein griechisch-zypriotischer Führer jemals in der Lage sein wird, seine Wähler hinter solch ein Abkommen zu versammeln. Der Status quo ist für den Süden einfach zu bequem«, fasste der langjährige britische Außenminister Jack Straw 2017 das Dilemma für Anastasiades zusammen.
Laut Costas Constantinou liegt diese Haltung auf Seiten vieler griechischer Zyprioten bereits in der Ablehnung des Garantievertrags von 1960 begründet, dem Gründungsdokument der Republik Zypern. »Die griechische Seite konnte niemals die Tatsache akzeptieren, dass den türkischen Zyprioten durch das Abkommen der gleiche Status zuerkannt wurde, obwohl sie nur 18 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Sie empfanden diese Regelung als koloniale Ungerechtigkeit, revidierten die Verfassung und entzogen den türkischen Zyprioten die kommunalen Rechte, was zum Ausbruch inter-ethnischer Gewalt führte«, erläutert der Politikwissenschaftler von der Universität Zypern in Nikosia. »Die türkischen Zyprioten wurden vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen und von 1963 bis 1974 in Enklaven gedrängt.«
Ankara und die griechischen Zyprioten nahmen direkten Kontakt miteinander auf.
Statt den Crans-Montana-Prozess weiterzuführen, nahmen Ankara und die griechischen Zyprioten direkten Kontakt miteinander auf – Akıncı wurde von Verhandlungen ausgeschlossen. Zwar gab Akıncı zu Protokoll, prinzipiell nichts gegen solche bilateralen Gespräche einzuwenden. »Doch solche Gespräche müssen auf dem Prinzip der Wechselseitigkeit beruhen und Athen redet ja auch nicht direkt mit mir.« Als der türkische Außenminister Cavusoglu ihn dazu gedrängt habe, über eine Zwei-Staaten-Lösung zu diskutieren, soll Akıncı entgegnet haben: »Ich kann meinen Wählern nicht sagen, dass eine Föderation unmöglich ist, dann müsste ich zurücktreten.«
2019 nahm der sichtlich desillusionierte Akıncı dann auch Stellung zu seinem einstigen Mitstreiter Anastasiades. »Wenn er es für opportun hält, spricht er von einer Zwei-Staaten-Lösung, dann wieder von einer Konföderation. Zuhause spricht er von einem losen Staatenbund und mir gegenüber von einer dezentralisierten Föderation.« Er warf Anastasiades auch vor, die Themen, auf die sie sich eigentlich schon geeinigt hatten, später wieder vom Tisch zu nehmen.
Trotz der Rückschläge zog Akıncı 2020 erneut mit dem Werben für eine Wiedervereinigung unter einem föderalen Dach in den Wahlkampf und warnte vor dem Scheitern des Vereinigungsprozesses: »Dann wird der Norden zunehmend von Ankara abhängig und könnte am Ende als de facto türkische Provinz geschluckt werden.«