Usbekistans Elite lässt sich feiern, im Land geht es voran. Das neue Regime gibt sich einen progressiven Anstrich. Doch der vom Westen gepriesene Reformkurs von Präsident Shavkat Mirziyoyev überstrahlt die Realität im zentralasiatischen Land.
An gewöhnlichen Tagen ist das nordusbekische Moynaq ein verschlafenes Kaff in einer unwirtlichen Gegend. Wo sich noch vor ein paar Jahrzehnten die Ufer des einstmals mächtigen Aralsees erstreckten, bietet sich Besuchern heute ein Bild wie aus einem Endzeitfilm der 1990er Jahre. Tiefe Risse durchziehen eine karge Wüstenlandschaft. Verrostete Schiffswracks liegen im Sand. Das Ufer ist mittlerweile über 80 Kilometer entfernt. Nach Jahrzehnten ökologischen Raubbaus und Misswirtschaft ist die usbekische Seite des Aralsees fast vollständig ausgetrocknet. Jobs sind hier Mangelware. Sauberes Trinkwasser gibt es erst seit ein paar Monaten. Man tut Moynaq also kein Unrecht, wenn man es nicht unbedingt im Epizentrum globaler Popkultur verortet.
Doch an einem milden Septemberabend wummern tiefe Bässe durch den Schiffsfriedhof von Moynaq. Um eine kleine Bühne herum tanzen rund zweihundert von weit her angereiste Gäste – Hipster, Start-up-Unternehmer, Neureiche und Bohemiens. Aufwendig gestylte Raver lassen eine übergroße Piratenflagge wehen, Flammen schießen rhythmisch aus einem umfunktionierten Heißluftballon. Der DJ ist aus dem Bassiani eingeflogen, einem legendären Untergrundschuppen in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Es gilt in Fachkreisen als einer der besten Clubs der Welt. Das Magazin Vice schickte einen Journalisten in die nordusbekische Provinz. Sogar das offizielle usbekische Tourismuskomitee war als Sponsor des Raves mit dabei.
Unter dem Langzeitregenten Islam Karimov (1938-2016) hätten solche Meldungen bizarr angemutet. Denn Usbekistan galt noch vor Kurzem nicht gerade als Paradies für weltbürgerliche Raver, sondern als eine der restriktivsten Diktaturen der Welt. Seit der Machtübernahme von Nachfolger Shavkat Mirziyoyev im Herbst 2016 scheint nun aber auf einmal alles möglich in Usbekistan, selbst ein alternatives Technofestival. Mit freundlicher Unterstützung der Regierung.
Der umtriebige Wirtschaftsanwalt Otabek Suleimanov aus der usbekischen Hauptstadt Taschkent hatte zum »Stihia Festival« gerufen und eine handverlesene Auswahl internationaler DJs eingeladen. Die Technik wurde über 1.200 Kilometer löchrige Landstraße aus Taschkent herangeschafft. Das Stihia sollte laut den Veranstaltern internationale Aufmerksamkeit auf die ökologische Katastrophe am Aralsee zu lenken. Auch die Berliner DJane Dasha Redkina tanzte in Moynaq. Normalerweise spielt sie in den wildesten Clubs Europas. »Die Organisatoren hatten das Festival richtig groß aufgezogen«, erzählt sie zenith.
Junge Technokraten und aus dem Exil zurückgekehrte Usbeken arbeiten in Taschkent emsig an der Umsetzung der neuen Gesetze
Als der damalige Premierminister Shavkat Mirziyoyev – unter Missachtung der Verfassung –vor über zwei Jahren die Macht an sich riss, erwarteten viele ausländische Beobachter im besten Fall eine nahtlose Fortsetzung des despotischen Karimov-Regimes und im schlimmsten einen Machtkampf zwischen unterschiedlichen Blöcken. Doch Mirziyoyev überraschte die Weltöffentlichkeit mit einem umfassenden Reformprogramm.
Der neue Präsident ließ zahlreiche politische Gefangene und inhaftierte Journalisten frei und strich 16.000 Menschen von der gefürchteten Schwarzen Liste der Sicherheitsbehörden. Der einflussreiche Chef des Geheimdienstes, Rustam Inoyatov, wurde in den Ruhestand versetzt; sein Stellvertreter Shukrat Gulyamov gar zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ein neues Gesetz verpflichtet den Sicherheitsapparat nun zur Wahrung der Menschenrechte. »Es gibt heute weniger Angst, als noch vor ein paar Jahren«, sagt selbst der oppositionelle Journalist Shukhrat Babajan gegenüber zenith, der im Prager Exil lebt.
Zudem ließ der neue Präsident ausländische Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder »Cotton Campaign« zurück ins Land. Cotton Campaign setzt sich gegen die weitverbreitete Kinder- und Zwangsarbeit in der Baumwollindustrie ein. Die Organisationen sprachen in der Folge von »konstruktiven Diskussionen« mit Taschkent.
Außerdem normalisierte Mirziyoyev die vormals angespannten Beziehungen zu den Nachbarländern. Auf usbekische Initiative trafen sich im März erstmal seit knapp einer Dekade die Staatschefs fast aller zentralasiatischen Staaten und vereinbarten eine umfangreiche Kooperation in Wasser- und Energiefragen. Auch in verfahrenen Konflikte wie um den Rogun-Staudamm in Tadschikistan kam Bewegung. Selbst das Schicksal des Aralsees scheint nicht mehr besiegelt: Bei einem Treffen des »Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees« schlug Mirziyoyev die Gründung einer Sonderzone für Umweltinnovationen und neue Technologien vor. UN-Vertreter waren angetan von den usbekischen Vorschlägen.
Junge Technokraten und aus dem Exil zurückgekehrte Usbeken arbeiten in Taschkent emsig an der Umsetzung der neuen Gesetze. Der New York Times war das im April einen lobenden Meinungsartikel über Mirziyoyev wert. Die Reformen weckten gar Hoffnung auf einen »usbekischen Frühling«, schreibt das Blatt.
In der Stadt Andijon ließ Karimov 2005 erschreckend brutal eine lokale Protestbewegung niederschießen
Unter Langzeitdiktator Islam Karimov dagegen war die Angst allgegenwärtig. Ob bei Menschenrechten, Pressefreiheit oder Demokratisierung: In den einschlägigen Ranglisten fand sich Usbekistan jahrelang am unteren Ende. Nur Syrien, Eritrea, Nordkorea und Turkmenistan schnitten regelmäßig schlechter ab. Der frühere Sowjet-Apparatschik Karimov isolierte Usbekistan nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 von seinen Nachbarländern und regierte das Land als Autokrat alter Schule mit harter Hand.
In der Stadt Andijon ließ Karimov 2005 erschreckend brutal eine lokale Protestbewegung niederschießen. Mehrere hundert Menschen starben. Folter, staatliche Willkür und Zwangsarbeit auf Baumwollplantagen waren an der Tagesordnung. Auch wenn der Aralsee, einst der viertgrößte See der Welt, schon seit der Stalin-Ära durch die künstliche Bewässerung in der Landwirtschaft stark schrumpfte: Erst unter der Ägide des greisen Landesvaters trockneten weite Teile des Binnengewässers um die Jahrtausendwende aus. Was mit dem Aralsee geschah, gilt als eine der größten von Menschen verursachten Umweltkatastrophen.
Das Karimov-Regime verströmte die Aura einer klassischen postsowjetischen Autokratie, verkörpert von kettenrauchenden Beamten in schlechtsitzenden Anzügen. Von Techno-Parties, Subkultur aus Georgien und Green Economy verstanden die alten Amtsträger nichts.
Mirziyoyev zahlreiche Menschen aus seinem engsten Familienumfeld an die Schaltstellen der Macht befördert
Die Regierung präsentiert sich unter Mirziyoyev vorwärtsgewandt. Doch wie viel Substanz steckt hinter dem so demonstrativ zur Schau gestelltem Reformeifer tatsächlich?
Als systemkritischer Visionär fiel Mirziyoyev zumindest weder unter Karimov noch zu Sowjetzeiten auf. Der 61-jährige Diplomingenieur war früher Sekretär im Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, und anschließend Funktionär in der KPdSU. Nach der Unabhängigkeit stieg er rasch im System auf, erst als Gouverneur seiner Heimatprovinz Jizzax, dann in Samarkand. 2003 berief ihn Islam Karimov zum Premierminister.
Zu seiner Zeit als Gouverneur machte sich Mirziyoyev einen Namen als fähiger Verwalter. Doch es gibt Zweifel an der Geschichte des integren Systempolitikers. Neben einer neuen Generation an Technokraten und Exilanten hat Mirziyoyev nämlich auch zahlreiche Menschen aus seinem engsten Familienumfeld an die Schaltstellen der Macht befördert.
Sein jüngerer Schwiegersohn Otabek Shahanov waltet nun als stellvertretender Leiter des Geheimdienstes. Sein ältester Schwiegersohn Oybek Tursunov wurde zum Chef der Präsidialadministration ernannt. Auf beiden Posten können die Schwiegersöhne den Zugang zur Macht entscheidend beeinflussen – und damit auch die Verteilung von Geldern und Ressourcen. Beiden wird eine Nähe zu zwielichtigen Gestalten nachgesagt. Auf Instagram kursieren Aufnahmen von Tursunov und Ramzan Kadyrov, dem gefürchteten Herrscher Tschetscheniens. Tursunov soll sich laut usbekischen Medienberichten mittlerweile mit dem Präsidenten überworfen haben. Bestätigt ist das jedoch nicht.
Klar ist hingegen, dass der amtierende Premierminister Abdulla Aripov schon unter Präsident Karimov mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hatte. Im August 2012 flog der damalige Generaldirektor für Kommunikation und Informationstechnologie nach einem Skandal über illegale Vergabe von Mobilfunklizenzen an die usbekische Tochter des russischen Mobilfunkriesen MTS aus dem Amt. Mirziyoyev holte den umstrittenen Politiker nun zurück.
Unter oppositionellen Usbeken kursieren zudem immer wieder Berichte von Menschenrechtsverletzungen und staatlichen Gewaltakten während Mirziyoyevs Amtszeiten als Gouverneur in Jizzax und Samarkand. Auch dem renommierten usbekischen Journalisten Sirojiddin Tolibov sind die Gerüchte über Machtmissbrauch und Gewalt aus Mirziyoyevs Vergangenheit bekannt. Eindeutige Beweise bestätigten die Vorwürfe bislang jedoch nicht, sagt er gegenüber zenith.
Ungeachtet der Investitionsoffensive wächst unter Mirziyoyev die Ungleichheit
Es wäre falsch, den Reformprozess in Usbekistan als Transformation einer Diktatur hin zu einer liberalen Demokratie zu sehen, warnt John Heathershaw, der an der Universität Exeter zu Zentralasien forscht. Die Logik, nach der Politik in Usbekistan funktioniert, sei von den Reformen gar nicht betroffen. »Allein, um solch umfassende Reformen in kurzer Zeit überhaupt durchzusetzen, muss man doch schon ein extrem autoritärer Führer sein«, meint Heathershaw gegenüber zenith.
Für den usbekischen Analysten Raphael Sattarov liegen dem Reformeifer wirtschaftliche Motive zugrunde. »Mirziyoyev braucht Investitionen. Aus Russland, aus China, aus Europa. Und um Investoren anzulocken, führt er kosmetische Veränderungen durch.« Die usbekische Wirtschaft ist stark von der ressourcenintensiven Baumwollproduktion abhängig. Zu Karimovs Zeiten flossen kaum ausländische Direktinvestitionen ins Land. Die Reformen könnten nun für viele Menschen zu einer Verbesserung ihrer Lebensumstände führen. Nur ein echter Reformer sei Mirziyoyev eben nicht.
Die internationale Politik begrüßt den von der neuen usbekischen Regierung eingeschlagenen Kurs. Im Mai empfing US-Präsident Trump erstmals seit dem Massaker von Andijon wieder einen usbekischen Präsidenten im Weißen Haus. Die usbekische Delegation brachte Handelsverträge im Wert von rund fünf Milliarden US-Dollar zurück nach Hause. Auch während des Staatsbesuches von Mirziyoyev beim französischen Präsidenten Macron Anfang Oktober in Paris konnten die Usbeken Milliardendeals abschließen.
Beim Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Taschkent wenige Tage später unterzeichneten die Staatschefs gar Handelsverträge mit einem Volumen von rund 27 Milliarden US-Dollar. Schon zuvor hatten sich die ausländischen Direktinvestitionen seit 2016 verdoppelt. Die Beziehungen zwischen Russland und Usbekistan waren unter Karimov eher angespannt. Prestigeprojekt der neuerlich engen Beziehungen soll ein neues Atomkraftwerk in der Nähe der UNESCO-Weltkulturerbestätte Buchara werden. Kostenpunkt: elf Milliarden US-Dollar.
Doch ungeachtet der Investitionsoffensive wächst unter Mirziyoyev die Ungleichheit zwischen den städtischen Eliten und der Bevölkerung auf dem Land. »Die kleine Gruppe von Profiteuren in Taschkent wird immer reicher«, beobachtet Journalist Babayan. Der Rest des Landes werde zunehmend abgehängt. Der katastrophale Zustand von Schulen und Universitäten lasse die Schere noch weiter auseinandergehen.
Beim Stihia-Festival prallten die neuen Realitäten in Usbekistan dann auch kräftig aufeinander. Denn wo nun schon mal etwas in ihrem Dorf los sei, wollte auch die Bevölkerung von Moynaq ihr Stück vom Kuchen. Und so mischten sich mehrere hundert karakalpakische Dorfbewohner inklusive kopftuchtragender Babuschkas, Kindern und Straßenhunden unter die verdutzten Raver. Nach Stunden des ausgelassenen und doch für beide Seiten reichlich ungewohnten Feierns bereitete ein Faustkampf in Nähe der Bühne dem gemeinsamen Partyspaß ein jähes Ende. In Taschkent mag man sich trotzdem eher ins Fäustchen gelacht haben. Denn die ersten Schlagzeilen vom »Burning Man am Aralsee« waren da bereits weltweit viral gegangen.