Kronprinz Muhammad Bin Salman fordert für sich und seinen Reformkurs Loyalität und stellt Religionsgelehrte kalt. Jetzt klärt sich endlich: Welche Macht hat Saudi-Arabien über Salafisten und Wahhabiten weltweit?
Der Auftritt von Popstar Mariah Carey im Januar 2019 sollte es aller Welt vor Augen führen: Der Plan des saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman (MBS), das Land durch den gesellschaftlichen Wandel und zu einer gemäßigten religiösen Mitte zu führen, liegt voll auf Kurs. Doch nicht nur der Westen schaut mit Blick auf die Modernisierungsagenda – mit Skepsis – Richtung Saudi-Arabien. Gegenwind droht dem designierten Thronfolger auch aus Teilen des salafistischen Milieus.
Dort wird das Königreich gerade wegen seiner konservativen Werte und der salafistisch ausgerichteten Gelehrten geschätzt, denen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Justiz und Bildungswesen sowie der Kontrolle öffentlicher Moral zugesprochen wird. In jüngster Zeit sind einige saudische Gelehrte aber in die Bredouille geraten. Der Grund: widersprüchliche Aussagen in dem offensichtlichem Bestreben, für die Agenda des Kronprinzen zu werben.
So zum Beispiel Salih Al-Mughamisi. Dem Imam der Quba-Moschee in Medina folgen auf Youtube über 1,25 Millionen Menschen, seine Videos sind insgesamt über 200 Millionen Mal abgerufen worden. Der 55-jährige Prediger tritt aber auch oft im Staatsfernsehen auf und verteidigte dort etwa die Entscheidung, Mariah Carey für einen Auftritt in die »King Abdullah Economic City« einzuladen. Einige seiner Youtube-Abonnenten nahmen die TV-Ansprache zum Anlass, ihn auf frühere Aussagen aufmerksam zu machen und die Aufrichtigkeit und Absichten des Klerikers zu hinterfragen. Denn mehr als einmal hatte Mughamisi argumentiert, dass der Islam Musikkonsum verbiete.
Ähnlich verhielt es sich mit dem salafistischen Prediger Muhammad Al-Arefe. Der hatte seine fast 20 Millionen Anhänger in den sozialen Medien ermutigt, die Überreste der antiken Wüstenstadt Mada’in Salih zu besichtigen, und zwar unmittelbar, nachdem MBS die Förderung des Tourismus zur Priorität der Wirtschaftspolitik erklärt hatte. Dabei hatte der 48-jährige Kleriker noch kurz zuvor in einem Interview beim arabischsprachigen Dienst der BBC vor einem Besuch der nabatäischen Ruinen im Nordwesten Saudi-Arabiens gewarnt, weil die Stätte von Dämonen besessen sei. Einige seiner Twitter-Follower kommentierten daraufhin, dass Al-Arefe eine Wandlung vollzogen habe: von einem religiösen Führer zu einem Reiseführer.
Und selbst für den Imam der Großen Moschee von Mekka hagelte es ungewohnte Kritik: Abdul-Rahman Al-Sudais hatte im Oktober 2018 von der wichtigsten Kanzel des Landes aus den Kronprinzen als »Erneuerer« (mujaddid) der Religion proklamiert – ein Terminus, der in den Ohren vieler Salafisten mindestens anmaßend klingen muss. Die Huldigung schlug international hohe Wellen. In der New York Times thematisierte der renommierte kuwaitische Rechtswissenschaftler Khaled Abou El Fadl den Tabubruch: »Kein Imam der Großen Moschee hat zuvor einen saudischen Herrscher als ›Erneuerer unserer Zeit‹ gesalbt oder gewagt, so etwas zu implizieren.«
Ebenfalls für Irritationen sorgten die außenpolitischen Statements des Imams. Sudais wirbt wiederholt für die Achse Washington-Riad und spart dabei nicht mit Superlativen. Im Herbst 2018 lobte er in einem Interview mit dem saudischen TV-Sender Al-Ekhbariya MBS und US-Präsident Trump dafür, »die Welt zum Frieden zu führen« – und erntete in den sozialen Medien Spott. Zudem stieß er bei Auftritten im Ausland, die die Charmeoffensive des Thronfolgers begleiteten, auf offenen Widerspruch. Videos von wütenden Zuhörern, die das amerikanisch-saudische Bündnis geißeln, zum Beispiel während eines Gastvortrags des Klerikers in einer Moschee in Genf, machten im Netz schnell die Runde.
Bei den Religionsstudenten in Medina kann MBS nicht auf bedingungslose Unterstützung zählen.
Weltweit sind Salafisten mit Saudi-Arabien verbunden, etwa weil die Moscheen, in denen sie beten, aus saudischen Mitteln finanziert wurden, oder weil die Imame in diesen und vielen anderen Moscheen an saudischen Universitäten ausgebildet wurden. Doch es mehren sich die Anzeichen, dass sich das Königreich auf Distanz zu jenen Einrichtungen geht, die zum zweifelhaften Ruf der saudischen Religionspolitik im Ausland beigetragen haben.
Seit 1969 war die Zentralmoschee in Brüssel in saudischer Hand. Im Mai 2018 löste die belgische Regierung den 99-jährigen Pachtvertrag vorzeitig auf – ein Unikum. Sicher ging die Initiative in diesem Fall von den belgischen Behörden aus, die in ihrer Erklärung explizit »die Art und Weise, wie der Islam gelehrt wird« als Grund für die Terminierung anführen. Überraschend ist eher, wie anstandslos die saudische Regierung den Kontrollverlust akzeptierte.
Auch in der Islamismus-Forschung rücken die Auswirkungen der sich verändernden saudischen Religionspolitik langsam in den Fokus. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren beschäftigte sich die Fachwelt mit dem Thema Salafismus, bevor es im neuen Jahrtausend ins breite öffentliche Bewusstsein rückte. Nun taucht auf Konferenzen, wie zuletzt Ende 2018 an der Universität Oxford, immer häufiger die Frage auf, was nach dem Salafismus kommt.
Auch ich beschäftige mich im Rahmen meiner Dissertation über die saudische Religionspolitik mit diesen Fragen – insbesondere mit den Ansichten der nachkommenden Generation salafistischer Kleriker, die in Saudi-Arabien in die Lehre gehen. Die wohl wichtigste Einrichtung religiöser Diplomatie in Saudi-Arabien ist die Universität von Medina, deren Gründung Anfang der 1960er-Jahre explizit der Förderung der wahhabitischen Mission dienen sollte. Die Anzahl der Studierenden ist in den letzten Jahren jedoch erheblich zurückgegangen – zu diesem Ergebnis bin ich gekommen, als ich im Rahmen meiner Feldforschung im vergangenen Jahr Interviews vor Ort führte.
Dabei sprach ich sowohl mit Studierenden als auch mit Absolventen, die ihr Studium in Medina gerade abgeschlossen haben. Unter ihnen finden sich nicht nur junge Saudis. Als Teil salafistischer Netzwerke kommen sie aus allen Teilen der Welt: aus Südafrika, Australien, den Vereinigten Staaten und dem Balkan. Viele von ihnen wollen nicht zuletzt wegen ihrer Verbindungen zu saudischen Institutionen namentlich nicht genannt werden.
Der Grund dafür liegt womöglich in den gemischten Reaktionen auf die Veränderungen, die MBS in Saudi-Arabien angestoßen hat. In jedem Fall kann der Thronfolger unter den derzeitigen und ehemaligen Studierenden nicht auf bedingungslose Unterstützung für seinen Kurs in der Religionspolitik zählen. Auf Unverständnis stoßen hier aber besonders die Volten von Gelehrten wie Al-Mughamisi, Al-Arefe und Al-Sudais, die als Anbiederung an den Kronprinzen gewertet werden.
Riads globales Salafisten-Netzwerk ist eine Interessengemeinschaft mit Nutzen für beide Seiten.
Dennoch wächst das Bewusstsein für das innenpolitische Klima, in dem Kleriker schon mit Blick auf das eigene Wohlergehen ihre Worte gewichten müssen. Die Studierenden verfolgen mit Sorge die schrittweise Mundtotmachung namhafter Gelehrter. Der bekannteste davon ist sicher Salman Al-Auda. Der 62-jährige Salafist hatte Anfang der 1990er-Jahre als einer der Wortführer gegen die Stationierung US-amerikanischer Soldaten auf saudischem Boden Bekanntheit erlangt und gehörte in den 2000ern zu den populärsten Gesichtern im saudischen Fernsehen. Immer wieder geriet er mit der saudischen Führung aneinander, konnte sich aber einen gewissen Spielraum bewahren.
Seit September 2017 sitzt Al-Auda in Einzelhaft, ihm droht die Todesstrafe. Wegen Unterstützung der Muslimbrüder, so die offizielle Begründung, wegen mangelnder Loyalität gegenüber MBS, sagt sein Sohn Abdullah, der inzwischen im Exil in den USA lebt.
Nicht nur Geschäftsleute und Menschenrechtsaktivisten sitzen als politische Gefangene in saudischen Knästen ein. Das Königreich gibt keine konkreten Zahlen heraus, aber unter den Studierenden kursieren Gerüchte über Hunderte inhaftierte Kleriker. Einer der Befragten zog eine direkte Linie zu ähnlichen Entwicklungen in den 1990er-Jahren: Damals habe die Verhaftung prominenter Salafisten deren Anhänger dazu veranlasst, sich extremistischen Gruppen wie Al-Qaida anzuschließen. Anstatt den Extremismus zu bekämpfen, sei es wahrscheinlich, dass solche Festnahmen ihn sogar weiter anheizen werden, meinen nicht wenige der befragten Studierenden.
Auf die Frage, wie sich der Reformkurs auf das Ansehen Saudi-Arabiens auswirkt, fiel die Antwort fast einhellig aus: Das Prestige des Königreichs steht und fällt aus ihrer Sicht mit der Aufrechterhaltung religiöser Werte.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum solche Kritik meist nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird. Denn obwohl sich der saudische Staat von einigen prominenten Leuchtturmprojekten – so wie in Brüssel – getrennt hat, ist es unwahrscheinlich, dass Riad die Kontrolle über das über Jahrzehnte aufgebaute globale Salafisten-Netzwerk aufgeben wird. Es ist eine Interessengemeinschaft mit Nutzen für beide Seiten.
Die Reduktion auf finanzielle Abhängigkeiten wird dem theologischen Reiz des Salafismus nicht gerecht.
Exemplarisch für diese Dynamik steht etwa die Ahl-e-Hadith-Bewegung in Pakistan, eine der größten salafistischen Gemeinschaften weltweit. Viele ihrer derzeitigen Führer absolvierten ihre Ausbildung an der Universität von Medina oder studierten privat bei saudischen Gelehrten. Einzelne Mitglieder aus der Führungsriege haben inoffiziellen Berichten zufolge harte Kritik am Kronprinzen und seinen Reformen geäußert. Die einzelnen Organisationen der Bewegung verzichteten jedoch darauf, entsprechende offizielle Erklärungen abzugeben – zu sehr fürchtet man, dass Riad den Geldhahn abdreht. Seit den 1970er-Jahren finanziert sich die Ahl-e-Hadith-Bewegung hauptsächlich aus saudischen Quellen.
Offene Kritik an Reformkurs, politischer Führung und Positionierung der Religionsgelehrten kam in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor allem aus dem dschihadistischen Lager – zuletzt vom sogenannten Islamischen Staat (IS). Selbst einige saudische Gelehrte haben in der Vergangenheit eingeräumt, dass es zwischen dem IS und dem saudischen Wahhabismus durchaus eine gewisse Nähe gebe. Der IS wiederum – wie schon in früheren Jahren Al-Qaida – führt die vom Kronprinz eingeführten Reformen als Beweis dafür an, dass sich Saudi- Arabien längst von den Prinzipien des Wahhabismus entfernt habe. Der Dschihadismus nähert sich ideologisch schrittweise dem Wahhabismus an, und die Vertreter des Dschihadismus wiederum behaupten, den wahren Wahhabismus zu praktizieren.
Trotz einer theologischen Nähe ist das Schisma zwischen IS und dem Mainstream-Salafismus unüberbrückbar. Der Grund: Saudische Kleriker distanzieren sich nicht nur vom IS, sondern diffamieren auch explizit die Anhänger des IS. Die Reduktion auf finanzielle Abhängigkeiten wird dem theologischen Reiz, der vom Salafismus ausgeht, nicht gerecht.
Es wäre ein Fehler, die Entwicklungen des Salafismus ausschließlich in Verbindung mit der künftigen Ausrichtung des saudischen Staates zu betrachten und den Reiz einer Bewegung zu ignorieren, die in erster Linie jeden Gläubigen dazu auffordert, selbstständig den Koran zu lesen. Gleichzeitig erhebt sie den Anspruch, für Gewissheit und Authentizität zu stehen, und hat in der Vergangenheit diese enorme Anziehungskraft und Resilienz an den Tag gelegt. Die unsichere Zukunft der saudischen Patronage könnte als Katalysator für den Salafismus dienen – und ihn zu einer globalisierten, transnationalen Bewegung erheben.
Besnik Sinani ist Doktorand an der Freien Universität Berlin. Er forscht zu modernen Konstruktionen der islamischen religiösen Orthodoxie sowie Gesellschaft und Politik im heutigen Saudi-Arabien.