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Technologie, Demokratie und die neue Weltordnung

MAGA, Mythen und der Nahe Osten

Essay
Technologie, Demokratie und die neue Weltordnung
Bühnenbild des Theatermalers Max Brückner aus dem Jahr 1894, das brennende Walhall zeigend.

Die Allianz von libertären Rechten und Big Tech in den USA könnte sich als existenzielle Bedrohung für die internationale Ordnung erweisen – insbesondere in Europa. Im Nahen Osten fällt die Sicht auf die zweite Trump-Präsidentschaft nicht so eindeutig aus.

Regisseur Luchino Visconti entlehnte den Titel von Wagners Oper »Götterdämmerung« aus der nordischen Mythologie für sein Meisterwerk über den Zusammenbruch des politischen Systems im Jahr 1933 und den Aufstieg der NSDAP – wenngleich die US-Produzenten auf dem Filmtitel »The Damned« bestanden und der Film in Deutschland als »Die Verdammten« 1969 im Kino lief. Das Wagners Werk zugrundeliegende Motiv von Ragnarök meint eine apokalyptische Prophezeiung der nordischen Mythologie, überliefert unter anderem im Epos der Edda: eine große Schlacht, an deren Ende die alte Welt im Flammenmeer untergeht. Die überlebenden Götter kehren zurück und das Leben erstrahlt wieder in einer erneuerten und gereinigten Welt.

 

Die zweite Präsidentschaft von Donald Trump und die prominente Rolle, die Elon Musk bei der Definition der globalen Agenda einnimmt, schüren weltweit Ängste. Unter den europäischen Staats- und Regierungschefs macht sich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Bedrohung breit, da die Gewissheiten, auf denen die Narrative der EU aufgebaut waren, wie nie zuvor in Frage gestellt werden. Das Ende unserer alten politischen Ordnung könnte so wie das Ragnarök aus der Mythologie am Horizont aufziehen.

 

Der Aufstieg des »digitalen Feudalismus« scheint angesichts der Macht der Big Tech-Milliardäre unmittelbar bevorzustehen. Das Bündnis zwischen einer imperialen US-Präsidentschaft und den mächtigsten nichtstaatlichen Akteuren auf globaler Ebene kann eine Transformation der Grundlagen unserer Gesellschaft von beispiellosem Ausmaß beschleunigen. Die regelbasierte internationale Ordnung wird die bevorstehenden Umwälzungen vielleicht überleben, aber die Regeln werden mit Sicherheit nicht dieselben sein.

 

Was das europäische Establishment derzeit in Angst und Schrecken versetzt, ist nicht nur das Szenario neuer Zölle oder Handelskriege mit Washington

 

Elon Musk fällt dabei eine nie dagewesene Machtfülle zu, nicht nur in der amerikanischen Politik, sondern auch bei der Definition von Trumps neuer internationaler Agenda, aufbauend auf dem ideologischen Projekt gleichgesinnter rechtsgerichteter Libertärer. Der Kampf gegen das traditionelle politische Establishment in Washington – das Leitmotiv seiner ersten Amtszeit – hat nun eine neue internationale Dimension angenommen, wobei Trump die unbegrenzten Ressourcen der sozialen Medien und digitaler Plattformen mit verheerender Wirksamkeit nutzt.

 

Was das europäische Establishment derzeit in Angst und Schrecken versetzt, ist nicht nur das Szenario neuer Zölle oder Handelskriege mit Washington, sondern auch die Erkenntnis, dass Klimawandel und Migrationspolitik bei den eigenen Wählern immer unpopulärer werden und dass Programme zur digitalen Transformation von neuen politischen Akteuren als Waffe eingesetzt werden. Musk genießt die Unterstützung des US-Präsidenten und teilt mit ihm das Weltbild eines neuen politischen Modells jenseits rechtsstaatlicher Kontrollen und Vorschriften. Er hat Deutschland und Großbritannien als Schlachtfelder für diesen ideologischen Kampf ausgewählt, der das politische Gleichgewicht in der westlichen Welt für lange Zeit neu definieren wird.

 

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari definiert die Fähigkeit, Mythen zu erschaffen und zu teilen, als treibende Kraft der menschlichen Zivilisation. Harari argumentiert in »Sapiens« und »Homo Deus«, dass alle politischen Ordnungen auf nützlichen Fiktionen basieren, die es Menschengruppen vom alten Mesopotamien über das Römische Reich bis hin zu modernen kapitalistischen Gesellschaften ermöglicht haben, in einer Zahl zusammenzuarbeiten, die weit über die Grenzen jeder anderen Spezies hinausgeht. Unsere moderne westliche Gesellschaft sucht seit der Französischen Revolution verzweifelt nach einem neuen Mythos, der die alte Ordnung ersetzen könnte und unserem Leben Sinn und Zweck geben würde.

 

Diese Sinnsuche hängt eng mit unserer monotheistischen Weltanschauung zusammen, die die Wahrheit als ihre alleinige Domäne betrachtet, im Gegensatz zu den meisten asiatischen Glaubenssystemen, die nicht dogmatischer Natur sind und akzeptieren, dass, wenn etwas wahr ist, auch das Gegenteil wahr sein kann. Das Kommunistische Manifest und die bolschewistische Revolution sowie der Faschismus und Nationalsozialismus standen im Mittelpunkt der Kulturkriege des 20. Jahrhunderts. Sie alle schienen zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschwunden und anachronistisch. Der US-Historiker Francis Fukuyama wollte die Sinnsuche abschließen, indem er behauptete, dass die Menschheit mit dem Triumph der westlichen liberalen Demokratie nach dem Untergang der Sowjetunion im Jahr 1991 den Endpunkt ihrer ideologischen Entwicklung erreicht habe.

 

Nie zuvor sind die mächtigsten Akteure unserer Gesellschaft davon ausgegangen, dass die Hauptauswirkung ihrer eigenen Errungenschaften darin bestehen würde, die Erde selbst für eine große Zahl unserer Mitmenschen unbewohnbar zu machen

 

Offensichtlich geht die Suche weiter und weit über die engen Grenzen der westlichen Kultur hinaus, wobei andere alternative Weltanschauungen das Narrativ der westlichen liberalen Demokratie negieren. China und Indien haben ihre eigenen Antworten entwickelt, die auf ihren kulturellen und politischen Traditionen basieren, die viel älter sind als die westlichen Modelle, die die bestehende internationale Ordnung regeln. Die einzigartige Mischung aus Sozialismus und digital angetriebenem Konfuzianismus macht es allerdings schwierig, das chinesische Modell anderswo zu reproduzieren.

 

Tatsächlich ließe sich argumentieren, dass das chinesische System einer staatlich kontrollierten KI-Revolution das alternative Modell zur von den USA angeführten digitalen libertären Utopie ist. In jedem Fall ist die Frage nicht, welche Erzählung überzeugender ausfällt, sondern welche darüber bestimmt, wie unsere Zukunft als Spezies aussieht. Entscheidend dabei wird die Interaktion zwischen künstlicher Intelligenz und dem menschlichen Geist im Rahmen einer digital definierten Gesellschaft sein. Die neuen Realitäten der KI, des Cloud-Computing, der biometrischen sozialen Kontrolle oder von 5G verwischen die kulturellen Unterschiede zwischen Peking, Washington, London, Mumbai oder Berlin.

 

Eine wachsende Angst vor der Zukunft macht sich breit, und zwar nicht nur unter den weniger Privilegierten unserer Gesellschaft, sondern noch mehr unter der superreichen Tech-Elite. Der Medientheoretiker Douglas Rushkoff zeichnet in »Survival of the Richest« (2022) ein düstereres Bild der Zukunft der digitalen Gesellschaft. Er beschreibt die Tech-Elite als superreiche Prepper, die sich vor einer Apokalypse retten wollen, die sie selbst heraufbeschworen haben. Dazu gehören Elon Musks Trugbild einer interstellaren Erlösung durch die Kolonisierung des Mars, Peter Thiels Obsession, den Alterungsprozess umzukehren, oder Sam Altmans und Ray Kurzweils Suche nach Unsterblichkeit durch Gedankenupload auf Supercomputer.

 

Nie zuvor sind die mächtigsten Akteure unserer Gesellschaft davon ausgegangen, dass die Hauptauswirkung ihrer eigenen Errungenschaften darin bestehen würde, die Erde selbst für eine große Zahl unserer Mitmenschen unbewohnbar zu machen. Noch nie zuvor verfügten sie über die Technologien, mit denen sie ihre Ideen in das Gefüge unserer Gesellschaft einprägen konnten, und über die Macht, die politische Agenda unangefochten festzulegen.

 

Die entscheidende Frage lautet, inwiefern die neue digitale Wirtschaft mit Demokratie, wirtschaftlicher Mobilität und Chancengleichheit kompatibel ist

 

Tatsächlich ist das Mantra, dass Technologie unser Leben verbessern kann, das vorherrschende Narrativ, dem die meisten politischen Führer nach wie vor treu bleiben, ohne eine Alternative anzubieten. Ob es sich um die chinesische Version des Sozialismus, den saudischen Islam-Remix, Indiens Hindutva-Masterplan oder Argentiniens libertäres Modell handelt – künstliche Intelligenz steht im Mittelpunkt. Die entscheidende Frage dabei lautet, inwiefern die neue digitale Wirtschaft mit Demokratie, wirtschaftlicher Mobilität und Chancengleichheit kompatibel ist.

 

Soziale Ungleichheiten, Klimakrisen und Ressourcenknappheit, beispiellose Bevölkerungsbewegungen und die Rückkehr vermeintlich überstandener Gesundheitsgefahren befördern in unseren Gesellschaften eine pessimistischere und nach innen gerichtetere Denkweise. Das ermöglicht das exponentielle Wachstum von radikalen Randgruppen. Bei den letzten Wahlen zum EU-Parlament stieg der Anteil rechtsextremer Parteien auf 18 Prozent der Gesamtstimmen.

 

Der Grund für diesen Trend bleibt für die traditionelle Linke ein Rätsel. In einem stark polarisierten politischen Umfeld sieht sie immer größere Teile ihrer einstigen Wählerbasis Richtung rechtsextremer Parteien abwandern. Zwischen der Finanzkrise von 2008 und dem Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 begann die alte internationale liberale Ordnung, die auf dem globalisierten Finanzkapitalismus beruhte, zu bröckeln, und die neue digitale Revolution, die durch soziale Netzwerke und KI angetrieben wird, breitete sich mit beispielloser Geschwindigkeit aus – und wurde allenthalben als vermeintliches Allheilmittel für all unsere unauflöslichen Widersprüche begrüßt.

 

Die politischen Führer sprangen begeistert auf den Technologie-Zug auf und waren von der Geschwindigkeit des Wandels begeistert, ohne sich weiter Gedanken über dessen endgültiges Ziel zu machen. Während ein Zehntel der Unternehmen 80 Prozent der internationalen Kapitalisierung akkumulieren, viele davon im Tech-Sektor, fehlte großen Teilen der traditionellen produktiven Wirtschaft das Kapital. Die daraus resultierende Konzentration von Reichtum und politischem Einfluss in den Händen der Eigentümer der Technologieunternehmen war beispiellos und machte Elon Musk zum Vorbild einer neuen Elite, die mehr Macht ausübt als viele nationale Regierungen.

 

Die Big-Tech-Elite ist mittlerweile in der Lage, die Wahrnehmung und das Verhalten von Internetnutzern sowohl für Profit als auch für soziale Kontrolle zu verändern

 

Die Dominanz dieser Branche war nicht nur ein Segen für die Wirtschaft, sondern gab den Eigentümern dieser Unternehmen auch unkontrollierbaren Einfluss auf die Weltpolitik, insbesondere angesichts der unaufhaltsamen Entwicklung sozialer Netzwerke und der Ausweitung der KI in alle Bereiche wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aktivität. In ihrem Buch »Don’t Be Evil« (2019) argumentiert die Journalistin Rana Foroohar, dass die Big-Tech-Elite mittlerweile in der Lage ist, die Wahrnehmung und das Verhalten von Internetnutzern sowohl für Profit als auch für soziale Kontrolle zu verändern.

 

Dieser Wandel stößt mitunter sogar auf Zustimmung. Und zwar in immer mehr Teilen der Bevölkerung, die diese disruptive Transformation als wünschenswertere Zukunft ansehen als den Regulierungseifer ineffizienter Bürokratien auf der endlosen Suche nach eigener Relevanz. Die EU ist zu einem Paradebeispiel für einen solchen unersättlichen Regulierungshunger geworden. Auch wenn dieses Narrativ im Rahmen der Brexit-Kampagne erheblich übertrieben wurde, werden im Schnitt 1.200 Verordnungen pro Jahr erlassen, die sich mit Themen wie dem Krümmungsgrad von Gurken oder der obligatorischen Anbringung von Plastikverschlüssen an Flaschen befassen.

 

Diese Art von Argumenten haben das Ergebnis der Brexit-Abstimmung ermöglicht und befeuern nun das Wachstum rechtsextremer Parteien in Europa. Dazu kommt die wachsende Ablehnung dessen, was als Voreingenommenheit zugunsten illegaler Einwanderer gegenüber steuerzahlenden Bürgern wahrgenommen wird. Soziale Netzwerke wirken als Verstärker für die Wut, die viele gegenüber gut gemeinte, aber schlecht kommunizierte Schritte gegen Diskriminierung empfinden.

 

Die Aufmerksamkeit richtet sich wie nie zuvor auf die zweite Präsidentschaft von Donald Trump und seine Pläne, nicht nur die politische Dynamik der USA, sondern das gesamte internationale System umzugestalten. Immer mehr Analysten sprechen bereits von einer imperialen Präsidentschaft, die beispiellose Macht in den Händen des Präsidenten konzentrieren wird, der keinen Hehl aus seiner Absicht gemacht hat, diese Macht zu nutzen, um eine neue Ära vermeintlicher amerikanischer Größe auf globaler Ebene einzuläuten. Die Gratulationen der Staats- und Regierungschefs waren schon nach dem Wahlsieg von gemischten Gefühlen begleitet, insbesondere in den europäischen Hauptstädten und der EU-Kommission, wo anfänglicher Unglauben wachsender Angst wich.

 

Im Laufe des Wahlkampfs 2024 führte ein kleiner Kreis rechtsgerichteter Libertärer eine der bedeutendsten Veränderungen in der zeitgenössischen Politik an

 

Die zweite Trump-Präsidentschaft beginnt mit einer ehrgeizigen Agenda nationaler Transformation auf mehreren Ebenen und mit manchmal widersprüchlichen Zielen, die schwerwiegende internationale Auswirkungen haben wird. Als wichtigster Faktor wird sich wahrscheinlich die neue Allianz zwischen Trump und der Big-Tech-Elite erweisen. Nie zuvor kamen so disruptive Kräfte auf einen gemeinsamen Nenner, um die Macht der digitalen Technologien ungehindert zu entfesseln.

 

Das deutlichste Signal dafür, dass wir uns auf einen historischen Wandel einlassen, ist die Ernennung von Elon Musk zum Co-Vorsitzenden des sogenannten Ministeriums für Regierungseffizienz in eine Position mit unklaren Abgrenzungen, aber weitreichenden Befugnissen. Die enge Beziehung, die Trump und Musk im Wahlkampf aufgebaut haben, geht über persönliche Bande der Freundschaft und des Vertrauens hinaus, denn der heute reichste Mann der Welt ist auch der Vertreter der technologischen Elite auf der höchsten Ebene der politischen Macht.

 

Diese Allianz sorgt bereits für Reibereien innerhalb der traditionellen Basis der Trump-Loyalisten. Steve Bannon, Trumps Chefstratege zu Beginn von Trumps erster Amtszeit, ärgert sich offensichtlich über den Aufstieg der neuen besten Freunde des Präsidenten, erkennt aber gleichzeitig die enorme Bedeutung des Zusammenspiels von Technologie, Reichtum und Ideologie für die politische Agenda der MAGA-Bewegung. Während seiner ersten Amtszeit pflegte Donald Trump ein angespanntes Verhältnis zu den Milliardären des Silicon Valley, die er als Unterstützer von Hillary Clinton und Gegner seiner politischen Agenda betrachtete. Jeff Bezos, Tim Cook, Mark Zuckerberg, Sam Altman, Sundar Pichai und Sergei Bryn, um nur einige zu nennen, haben alle ihren Kurs geändert und sich nun hinter Präsident Trump gestellt.

 

Die rechtsgerichteten Libertären des Silicon Valley sammelten sich früher um einen Mann: den Risikokapitalgeber Peter Thiel und seinen Schützling David Sacks. Ihre techno-utopische Vision begann Anfang der 2000er-Jahre, nach dem Erfolg von PayPal, in einem Umfeld von Unternehmern und Investoren, die sich im gesamten Silicon Valley ausbreiteten, um weitere milliardenschwere Unternehmen aufzubauen. Die meisten von ihnen waren progressive Libertäre mit Sympathien für die Demokratische Partei, die sich während der Biden-Präsidentschaft zunehmend von der Agenda der Demokraten entfremdeten. Im Laufe des Wahlkampfs 2024 führte dieser kleine Kreis rechtsgerichteter Libertärer eine der bedeutendsten Veränderungen in der zeitgenössischen Politik an und holte den Kern der bereits desillusionierten Tech-Barone in Trumps Lager.

 

Das Wirtschaftsvolumen der EU und ihr Anteil an den neuen digitalen Technologien, insbesondere im Bereich KI, ist im Vergleich zu den USA geschrumpft

 

Donald Trump verkündete schon unmittelbar nach dem Wahlsieg einige umstrittene Ernennungen und politische Entscheidungen. Er erklärte, er werde den Krieg in der Ukraine beenden, um seinem langjährigen Ziel, die Beteiligung der USA an ausländischen Konflikten zu beenden, gerecht zu werden. Gleichzeitig äußerte er seine Absicht, Kanada in die USA einzugliedern, die Kontrolle über den Panamakanal zu übernehmen und Grönland zu annektieren. Außerdem machte er einige ernüchternde Bemerkungen darüber, dass die NATO-Verbündeten nicht mehr auf Washingtons Schutz zählen könnten, wenn sie nicht den Preis zahlen, den er für angemessen hielt. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Trumps zweite Präsidentschaft sich insofern von der ersten unterscheiden wird, als die Bürokratie, die er abschätzig als »tiefen Staat« bezeichnet, die disruptive Wirkung einiger seiner Ideen und politischen Entscheidungen früher Grenzen gesetzt hat.

 

Frankreich, Deutschland und die EU-Kommission reagierten schockiert und gaben die üblichen Erklärungen ab. Javier Milei in Argentinien oder Giorgia Meloni in Italien haben dagegen die neue Achse der libertären Unruhe enthusiastisch begrüßt, ebenso wie andere Führungspersönlichkeiten in Entwicklungsländern, die Trumps personalisierten Verhandlungsstil einer politischen Korrektheit vorzuziehen scheinen, die sie als heuchlerisch empfinden.

 

Das Wirtschaftsvolumen der EU und ihr Anteil an den neuen digitalen Technologien, insbesondere im Bereich KI, ist im Vergleich zu den USA geschrumpft. Die politische Führung Europas ist in Unordnung, der Krieg in der Ukraine hat Europa abhängiger denn je von Washingtons Rückendeckung gemacht. Es bleibt abzuwarten, wie die neue US-Regierung mit dem maroden multilateralen System und seinen Schlüsselinstitutionen wie UN, NATO oder WTO verfahren wird. Bisher stehen die Trumps Türen denjenigen offen, die zuvor vom politischen Establishment verachtet wurden, wie Viktor Orban, Giorgia Meloni oder Javier Milei.

 

Überraschenderweise ist der Fall Javier Milei durch Musks aggressives Eingreifen in den Wahlkampf in Deutschland zum Diskussionsthema geworden. Elon Musk ist nicht der Grund für die zunehmende Unzufriedenheit der deutschen Wähler mit den traditionellen Parteien und die wachsende Unterstützung für die AfD. Aber als er in den Wahlkampf einstieg, brach er das Tabu, das die Attraktivität solcher Parteien für die Mainstream-Wähler begrenzt hatte. Die Bemühungen der EU-Regulierungsbehörden, die Fähigkeit digitaler Plattformen einzuschränken, die öffentliche Meinung und Wahlen zu beeinflussen, sind Gegenstand einer hitzigen Debatte geworden, da die EU-Behörden zu erklären versuchen, dass ihre Entscheidungen nicht als Vergeltung für Musks Einmischung in die Wahlen gedacht sind.

 

Paradoxerweise scheint Trumps unorthodoxer Stil in der Region mehr Anklang zu finden als die scheinheiligen, wohlmeinenden und ineffektiven Predigten der EU

 

Der Nahe Osten bietet ein besonders krasses Beispiel dafür, wie diese Krise einen Prozess der Autoritätsfragmentierung und des institutionellen Zusammenbruchs beschleunigen kann. Syrien, Libanon, Irak, Libyen oder Jemen können bereits als Testfälle dieses Modells betrachtet werden, in dem nichtstaatliche Akteure bereits die Hauptentscheidungsträger sind. Die schrumpfende Rolle der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist in den jüngsten Konflikten im Nahen Osten von Gaza bis Libanon oder Syrien schmerzlich deutlich geworden.

 

In keinem dieser Konflikte gab es nennenswerte diplomatische Initiativen seitens der EU, im Gegensatz zum Engagement von Katar, Ägypten, Saudi-Arabien, Irak, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder sogar China im Rahmen verschiedener Vermittlungsinitiativen. Die katastrophale Lage in der Sahelzone nach der Intervention in Libyen hat das internationale Ansehen Frankreichs und Europas stark beschädigt. Der Anstieg antifranzösischer Ressentiments in Afrika geht einher mit einem Anstieg der Popularität des angeblichen Underdogs Russlands gegen den »globalen Westen«.

 

Paradoxerweise scheint Trumps unorthodoxer Stil in der Region mehr Anklang zu finden als die scheinheiligen, wohlmeinenden und ineffektiven Predigten der EU. Die türkische Führung signalisiert diesen Wandel, seit sie in Syrien eine entscheidende Rolle übernommen und innerhalb weniger Wochen den gordischen Knoten durchgeschlagen hat, den die EU seit Jahrzehnten nicht lösen konnte. Die jüngsten Erklärungen des türkischen Außenministers Hakan Fidan, in denen er etwa Frankreich davor warnte, sich in Syrien einzumischen, weil sein Land nur die USA als glaubwürdigen Partner anerkenne, wären vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.

 

Sogar die iranische Regierung versucht, neue Verhandlungsvorschläge vorzubereiten, um einen US-Präsidenten zu beschwichtigen, den sie nicht verärgern will. Laut einigen Quellen aus dem Umfeld der iranischen Führung könnte ein Abkommen mit der neuen US-Regierung ernsthaft in Erwägung gezogen werden, wenn auf der anderen Seite ein echtes Interesse besteht. Das Beispiel des Abkommens mit der Reagan-Regierung in den 1980er-Jahren, öffentlich bekannt als Iran-Contra-Affäre, fand dabei als Blaupause für pragmatische Verhandlungen mit der Republikanischen Partei Erwähnung. Trumps Faible für »Deals« könnte mehr Anklang finden als traditionelle Diplomatie, selbst wenn der Umfang solcher Abkommen transaktional und begrenzt wäre.

 

Das Problem geht jedoch tiefer als Fake News, mangelhafte Regierungsführung oder Korruption

 

Im letzten Jahrzehnt hat das Vertrauen der Bürger in ihre Politiker und die liberale Demokratie im Allgemeinen rapide abgenommen, während soziale Medien expandierten und diesen Raum füllten. Das Problem geht jedoch tiefer als Fake News, mangelhafte Regierungsführung oder Korruption. Das Narrativ der internationalen liberalen Ordnung, das auf immer größerem Wohlstand basiert, der durch endloses Wirtschaftswachstum befeuert wird, ist einfach nicht mehr glaubwürdig. Die regelbasierte internationale Ordnung, die die EU unterstützt und die dem Europäischen Auswärtigen Dienst eine relevante internationale Stimme verleiht, erfährt eine unwiderrufliche Veränderung. Die EU ist angesichts der angespannten Weltlage nicht in der Lage, eine neue Vision und einen Plan zu deren Umsetzung zu formulieren, und hat sich im vergangenen Jahr auch geweigert, Szenarien für eine Rückkehr Trumps an die Macht zu planen. Diesen Luxus können sich die EU-Staats- und Regierungschefs nicht mehr leisten.

 

Frankreichs Präsident Emanuel Macron gab dem Economist im November 2019 ein Interview, in dem er vorhersagte, dass Europa in der neuen internationalen Ordnung irrelevant werden würde, wenn es die strukturellen Herausforderungen nicht angehen und seine strategische Autonomie nicht weiterentwickeln würde. Dieser dringend benötigte Kurs ist in den letzten fünf Jahren nicht eingeschlagen worden, wodurch sich die Kluft in Produktivität und Innovation sowohl gegenüber China als auch den USA vergrößert hat. Die russische Invasion in der Ukraine hat die Krise des deutschen Wirtschaftsmodells verschärft und die Durchführbarkeit des Übergangs zum »Green Deal« in Frage gestellt, der bereits von verschiedenen Seiten als Paradebeispiel für die »woke economy« angegriffen wird.

 

Die bevorstehenden Wahlen in Deutschland werden eine ernüchternde Diagnose darüber liefern, wohin die Seele Europas in diesem kritischen Moment steuert, aber sie werden vielleicht nicht die Lösungen bieten, die wir suchen. Höchstwahrscheinlich werden die Wahlergebnisse ein weiteres Warnsignal für das schwindende Ansehen der traditionellen Eliten und des politischen Establishments sein, das sie repräsentieren.

 

So wie die nordischen Sagen betrachten auch die führenden Persönlichkeiten des Silicon Valley die Zerstörung der alten Ordnung nicht als etwas Negatives, sondern als eine notwendige Erneuerung, die eine bessere Welt hervorbringen soll. Das Leben in einer instabileren internationalen Ordnung mit einem erodierten multilateralen System und verminderter nationaler Souveränität der Nationalstaaten, während nichtstaatliche Akteure immer selbstbewusster auftreten, wird kreative Initiativen erfordern. Es bleibt fraglich, wie sich die internationale Ordnung an die neuen Realitäten anpassen wird angesichts der Tatsache, dass Trump multilaterale Institutionen, insbesondere das UN-System, weiterhin verachtet.


Ramon Blecua ist ein spanischer Diplomat, ehemaliger EU-Botschafter im Irak und ehemaliger Sonderbotschafter für Mediation und interkulturellen Dialog. Die Meinungen in diesem Artikel sind die des Autors.

Von: 
Ramon Blecua

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