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Demokratie, Technologie und die Zukunft unserer Gesellschaft

Die Ära des digitalen Feudalismus

Essay
Die Ära des digitalen Feudalismus
Weizenernte mit Erntehaken, Miniatur aus einem englischen Kalendar, ca. 1310. The British Library

Der Verfall der liberalen multilateralen Ordnung könnte uns in eine Zukunft schleudern, die eher dem Mittelalter gleicht.  Doch noch bleibt Zeit zum Gegensteuern, glaubt der langjährige EU-Diplomat Ramon Blecua. 

Das internationale System, wie wir es kennen, ist in Bewegung. Diese Veränderungen werden nicht nur weitreichende Auswirkungen haben auf die Art und Weise, wie die internationalen Beziehungen geführt werden, sondern auch auf jeden Aspekt des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Der Einfluss mächtiger nichtstaatlicher Akteure auf der internationalen Bühne gewinnt gegenüber den klassischen zwischenstaatlichen Machtkämpfen weiter an Relevanz. Es geht längst nicht mehr um eine bipolare, unipolare oder multipolare Ordnung. Und selbst die Fragen, wie vertrauenswürdig China oder wie schädlich der russische Einfluss in der Weltpolitik ist, werden nicht die entscheidenden sein.

 

Der eigentliche Wendepunkt ist, dass Staaten nicht mehr die Hauptprotagonisten auf der Weltbühne sind. Ihre Souveränität schwindet. Diese Entwicklung lässt sich nicht nur an der wachsenden Macht und dem Einfluss transnationaler Konzerne ablesen – allen voran »Big Tech«, also Google, Amazon, Apple und Facebook. Weitere untrügliche Anzeichen sind die Privatisierung der militärischen Macht, der Aufstieg von Privatarmeen und -milizen und transnationaler Terrororganisationen sowie der schwindelerregende Reichtum krimineller Gruppen und Drogenkartelle.

 

Die institutionelle und wirtschaftliche Architektur, die am Ende des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde und die eine der längsten Perioden der Stabilität und des Wohlstands in der jüngeren Geschichte ermöglicht hat (so wuchs die globale Wertschöpfung von 1960 bis 2008 um den Faktor 45), ist derzeit in Aufruhr – und das nicht mal so sehr wegen externer Bedrohungen durch sogenannte revisionistische Staaten. Die Abwicklung dieses internationalen Systems wird von seinem Hauptgründer und anerkannten Vermittler angeführt: den Vereinigten Staaten.

 

Die Privatisierung von Überwachungstechnologie und militärischer Dienste in den USA ist das deutlichste Symptom dafür, dass selbst der globale Hegemon nicht mehr die volle Kontrolle über das hat, was staatliche Autorität definiert.

 

Es wäre ungerecht, US-Präsident Donad Trump die ganze Schuld für eine systemische Krise zu geben, die seit über einem Jahrzehnt schwelt. Einige der Dynamiken, die wir beobachten, sind seit dem Ende des Kalten Krieges in Bewegung und Ergebnis des Globalisierungsprozesses selbst sowie des Versagens des multilateralen Systems – ein Prozess, den die Coronakrise beschleunigt.

 

Dennoch verschärft die rücksichtslose Politik von Präsident Trump in den internationalen Beziehungen die Ausfälle des Systems. Die Zerrüttung internationaler Institutionen wie der Welthandelsorganisation WTO (Trump erklärte, dass er Handelskriege mag und sie für leicht zu gewinnen hält) oder der Vereinten Nationen, die Missachtung der EU und die Zweideutigkeit gegenüber der NATO werden die ohnehin begrenzten Fähigkeit dieser Institutionen, auf die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu reagieren, weiter einschränken.

 

Der Ansatz der Populisten und anderer Feinde des liberalen Multilateralismus ist unrealistisch: Sie meinen, sie könnten eine internationale Ordnung, die sie für schwach und ineffektiv halten, durch eine Rückkehr zur Sicherheit der staatlichen Souveränität und eine unilaterale Politik ersetzen. Doch ebenso vermessen ist der Glaube, dass die internationale institutionelle Architektur solide genug sei, um die gegenwärtigen geopolitischen Schocks zu überstehen, ohne entschieden zu handeln.

 

Die Privatisierung von Überwachungstechnologie und militärischer Dienste in den USA ist wahrscheinlich das deutlichste Symptom dafür, dass selbst der mächtigste globale Hegemon nicht mehr die volle Kontrolle über das hat, was staatliche Autorität definiert: die legitime Anwendung von Gewalt zur Gewährleistung der sozialen Ordnung und Sicherheit. Mir geht es hier nicht um die Effektivität, die eine solch eine Auslagerung zum Ziel hat, sondern um die Art und Weise, wie diese privatisierte Kriegsführung die Natur der internationalen Beziehungen verändert.

 

In diesem Muster internationaler Beziehungen fehlen konstante Achsen der Zusammenarbeit und des Konflikts. Stattdessen wechseln Ausrichtungen und Allianzen beständig.

 

Der Rückgriff auf vermeintlich unkomplizierte militärische Optionen geht nämlich zu Lasten diplomatischer Initiativen. Zudem besteht die Möglichkeit, dass künftig auch wohlhabende Individuen oder Unternehmen Privatarmeen für eigene Zwecke anheuern. Dieses Szenario steht den Condottieri, den Söldnergruppen des mittelalterlichen Europa oder der Expansion der Ostindischen Kompanie im 18. Jahrhundert näher als die Rückkehr zum »Goldenen Zeitalter« staatlicher Souveränität.

 

Das sogenannte Westfälische Staatensystem, das seinen Namen der Ordnung verdankt, die 1648 aus dem Westfälischen Frieden hervorgegangen war, hat in den letzten 50 Jahren bereits große Veränderungen erfahren, als der Multilateralismus zur Regulierung der wachsenden Globalisierung an Bedeutung gewann. Das Ende des Kalten Krieges gab diesem Trend zusätzlichen Anschub, da die unbegrenzte Expansion des liberalen Kapitalismus und der Demokratie in einer stärker vernetzten Welt unvermeidlich schienen.

 

Doch der Optimismus und die unrealistischen Erwartungen des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts sind Angst und Unsicherheit gewichen. Die Wahl zwischen totalitärer Überwachung und Ermächtigung der Bürger beziehungsweise zwischen nationalistischem Rückzug und der Ausweitung der Globalisierung wird den kommenden historischen Zyklus prägen. Die Welt steht vor einer globalen Krise, und neben den politischen Führern bewegt auch deren Ausmaß, das weit über den unmittelbaren Corona-Notstand hinausgeht, auch viele Akademiker. So etwa den israelischen Historiker Yuval Harari, der in einem Gastbeitrag in der Financial Times davor warnt, dass viele der jetzt ergriffenen Notfallmaßnahmen zu einem festen Bestandteil des Lebens werden könnten und die angestoßene historische Entwicklung so noch einmal deutlich an Fahrt aufnimmt.

 

Konzepte wie Polyarchie oder Neo-Medievalismus tauchten bereits in den 1980er Jahren in der akademischen Diskussion auf: Gemeint sind damit Ordnungssysteme, in denen mehrere Zentren nebeneinander existieren, aber keines dominiert. Damals waren das meist hypothetische Gedankenspiele, Alternativen zu einem internationalen System, das sich an schnellere Veränderungen als je zuvor in der Geschichte anpassen musste. Die unipolare Hegemonie der USA wich schnell einer ungeordneten und zunehmend polyarchischen Welt, in der eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure die »Pax Americana« immer häufiger in Frage stellt. In diesem Muster internationaler Beziehungen fehlen konstante Achsen der Zusammenarbeit (und des Konflikts). Stattdessen wechseln Ausrichtungen und Allianzen beständig.

 

Sowohl Trump als auch Putin scheinen die Vision einer zukünftigen internationalen Ordnung zu teilen, die sich gegen das multilaterale liberale System wendet, jedoch kein alternatives Modell anbietet.

 

Der US-amerikanische Publizist Robert Kaplan sorgte 1994 mit einem Beitrag für Aufsehen, der ein apokalyptisches Szenario für das neue Jahrtausend entwarf, das auf den Theorien australischen Politikwissenschaftlers Hedley Bull zum Neo-Medievalismus fußte und im Gegensatz zu den optimistischen Zukunftsprognosen der Zeit stand: eine Rückkehr zu Chaos und Unordnung wie in Zeiten des Mittelalters.

 

Sowohl Präsident Trump als auch der russische Präsident Vladimir Putin scheinen die Hobbes'sche Vision einer zukünftigen internationalen Ordnung zu teilen, die sich gegen das multilaterale liberale System wendet, jedoch kein alternatives Modell anbietet, das über die klassische Formel »Macht schafft Recht« hinausgeht. Die Koordinatenverschiebung in der internationalen Politik deutet auf ein höchst instabiles multipolares System hin, in dem Staaten mit verminderter Souveränität, mächtige nichtstaatliche Akteuren sowie eine erodierte multilaterale Architektur koexistieren. Dass der französische Staat infolge direkter Drohungen und Einschüchterungen den Vorschlag zurückzog, eine symbolische Steuer auf die geschätzten Gewinne von Google in Frankreich einzuführen, ist ein gutes Beispiel für die neuen Spielregeln.

 

Der 2018 verstorbene iranische Philosoph Dariush Shayegan definierte 2001 in seinem letzten großen Werk »La lumiere vient de l'Occident – das Licht kommt aus dem Westen« drei Phänomene, die unsere chaotische zeitgenössische Welt definieren: der Verlust der magischen Dimension der Existenz, die Zerstörung der Vernunft und der hegemonialen Diskurse sowie die Ersetzung der Imagination durch eine virtuelle Dimension, die mit der Ausbreitung der audiovisuellen Technologien verbunden ist.

 

Diese Phänomene sind gekennzeichnet durch die Zerstörung aller Ontologien und die Interkonnektivität aller Sphären der Realität, die Verallgemeinerung multipler Identitäten und die Gleichzeitigkeit verschiedener Bewusstseinszustände mit ihren jeweiligen historischen Bezügen. Das Wiederauftauchen sozialer und wirtschaftlicher Interaktionen, die an das mittelalterliche System fragmentierter Autoritäten und vielschichtiger Loyalitäten erinnern, könnte neue Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, in denen große Technologiekonzerne und Finanzkonglomerate einen Platz ähnlich der Feudalherren einnehmen.

 

Die Taliban oder die Huthi-Bewegung verbinden Stammeskodizes und politische Ideen mit Jahrhunderte langer Tradition zu einer revolutionären Mischung, die sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen hat.

 

Ein weiterer Aspekt der Schnittmenge zwischen neuen Technologien und mittelalterlichen Denkweisen ist die Verbreitung apokalyptischer Ideologien und messianischer Kulte, die die Form transnationaler terroristischer Bewegungen annehmen können. Das Paradebeispiel dafür ist wohl der sogenannte Islamische Staat. Der IS kombiniert eine ausgeklügelte Rekrutierungsstrategie über soziale Medien unter Nutzung modernster Informationstechnologie mit apokalyptischen islamischen Prophezeiungen und revolutionärer Propaganda. Die Taliban oder die Huthi-Bewegung verbinden Stammeskodizes und politische Ideen mit Jahrhunderte langer Tradition zu einer revolutionären Mischung, die sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen hat, um ihre Bevölkerungen zu mobilisieren und so der Übermacht der USA die Stirn zu bieten.

 

Ein Beispiel ganz anderer Art, das aber in dieselbe Kerbe schlägt, ist die Renaissance der Symbolik der Tang-Dynastie unter Xi Jinping. Chinas Präsident verbindet auf unterschwellige Weise seine Autorität mit dem »Mandat des Himmels«, flankiert von den technologischen Errungenschaften der chinesischen Big-Tech-Firmen.

 

Auch die Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland oder Katalonien greifen zur Begründung ihrer Ansprüche zum Teil auf mittelalterliche Geschichte zurück. Schließlich wären da noch evangelikale Gruppen in den USA, die den Glauben an charismatische Führung und messianische Prophezeiungen mit dem ausgeklügelten Einsatz von sozialen Medien und politischen Mobilisierungsstrategien verbinden.

 

Das Vertrauen der Bürger in ihre Führer und die liberale Demokratie im Allgemeinen hat im letzten Jahrzehnt parallel zum Wachstum der sozialen Medien rapide abgenommen. Das Problem liegt tiefer als die Auswirkungen von Fake News oder einer mangelhaften Staatsführung, von Korruption oder der Inkompetenz der Bürokratie. Das Narrativ der internationalen liberalen Ordnung eines ständig wachsenden Wohlstands, der durch endloses Wirtschaftswachstum angeheizt wird, ist nicht mehr glaubwürdig.

 

60 Prozent der Bürger in Syrien, Libanon, Irak, Libyen und dem Jemen werden in diesem Jahrzehnt unter akuter wirtschaftlicher Verwundbarkeit leiden.

 

Die Situation im Nahen Osten bietet ein besonders krasses Beispiel dafür, wie diese Krise einen Prozess der Fragmentierung von Autorität, des institutionellen Zusammenbruchs, des Missmanagements, der ausufernden Korruption und der gescheiterten Regierungsführung beschleunigen kann.

 

Syrien, der Libanon, der Irak, Libyen oder der Jemen können als Testfälle dieses neomittelalterlichen Modells angesehen werden, in dem nichtstaatliche Akteure bereits die Hauptentscheidungsträger sind. Der »Human Development Report« der UN-Entwicklungsagentur UNDP schätzt, dass in diesem Jahrzehnt mehr als 60 Prozent der Bürger in diesen Ländern unter akuter wirtschaftlicher Verwundbarkeit leiden werden.

 

Die wachsenden Ungleichheiten, die Auswirkungen des Klimawandels und die künftige Ressourcenknappheit, die Folgen beispielloser Bevölkerungsverschiebungen und die Rückkehr von Gesundheitsrisiken, die schon überwunden schienen, münden bei vielen Menschen in der Region in eine pessimistischere und nach innen gerichtete Sicht auf die Zukunft. Die Ausbreitung des Coronavirus in Iran und im Irak im Kontext der regionalen Konfrontation erhöhen die gesundheitlichen Risiken, zumal die Kombination von US-Sanktionen und internem Missmanagement die Auswirkungen der Pandemie vervielfachen. Ein Strom von Flüchtlingen aus Ländern in der Region, die keine Möglichkeit haben, die Ausbreitung des Coronavirus zu kontrollieren, wird die Bemühungen zur Einhegung der Pandemie in Europa zusätzlich erschweren.

 

Der Irak erlebt bereits eine direkte militärische Konfrontation zwischen den USA und Iran, wenn auch noch in geringer Intensität. Die USA haben im Januar General Qassem Suleimani und Abu Mahdi Al-Mohandes getötet, Iran hat ballistische Raketen auf einen US-Stützpunkt gefeuert und verbündete iranische Milizen haben amerikanisches und britisches Militärpersonal angegriffen. Zuletzt zogen die USA einen Großangriff in Erwägung, um die Kataeb Hizbullah auszuschalten. Iran warnte davor, dass dieser Schritt einen Vergeltungsschlag auf regionaler Ebene gegen die US-Verbündeten zur Folge haben würde.

 

Künftige Generationen könnten in finanzielle Knechtschaft geboren werden, ähnlich wie die feudale Knechtschaft im Mittelalter.

 

Die Frage scheint nicht zu sein, ob, sondern wann diese Konfrontation auf die nächste Ebene übergehen wird – inklusive der umfassenden Mobilisierung der iranischen Verbündeten in der Region und eines Konflikts mit unvorhersehbaren Folgen. Aufgrund seiner geopolitischen Bedeutung, seiner Ressourcen und der Verbindung mit Iran, Saudi-Arabien, Syrien, Jordanien und der Türkei wird diese Konfrontation im Irak ausgetragen werden. Infolgedessen manövrieren beide Seiten, um sicherzustellen, dass ihre Verbündeten im Land die Oberhand behalten, was die ohnehin schon angespannte innenpolitische Lage weiter kompliziert und die Bildung einer neuen Regierung verhindert.

 

Die Kombination von Krieg und Krankheit in einer Region in unserer Nachbarschaft, in der die staatlichen Institutionen am Rande des Zusammenbruchs stehen und die wachsende Bevölkerung kaum Hoffnung in die Zukunft setzt, ist ein apokalyptisches Szenario, das uns leider in die Zukunft des neuen Mittelalters zurückführen könnte. Ganz gleich, wer in einem solchen Konflikt im Nahen Osten letztlich militärisch siegen wird, die geopolitischen Auswirkungen werden globaler Natur sein und katastrophal ausfallen.

 

Der Schock der Finanzkrise von 2008 hat nicht zu einer radikalen Veränderung der Ursachen für das Versagen des Finanzsystems geführt. Eine Rezession könnte uns als Folge der Covid-19-Krise erneut treffen. Doch es wäre kurzsichtig, die Schuld für den wirtschaftlichen Abschwungs allein auf die Notfallmaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu schieben. Er ist die Folge eines viel tiefer sitzenden Problems, das mit der Natur unseres Wirtschaftsmodells zusammenhängt und den politischen Institutionen, die es stützen.

 

Die Deregulierung der Finanzmärkte, die während der Präsidentschaft von Ronald Reagan in den Achtzigern begann, ebnete den Weg für die Schaffung von Reichtum, verstärkte aber auch die sozialen Ungleichheiten und offenbarte die Verwundbarkeit des Systems. Der Mangel an Aufsicht über die großen Technologiekonzerne mag die Innovation und das Wachstum einer neuen Wirtschaft beschleunigt haben, hat aber ebenso mächtige Akteure geschaffen, die ohne wesentliche Kontrolle ein natürliches Monopol über die wirtschaftliche Ausbeutung des Internets und seiner wertvollsten Ressource durchsetzen, den persönlichen Daten. Die öffentlichen Verschuldung der meisten Staaten infolge der Finanzkrise 2008 und der Coronakrise wird ein solches Ausmaß annehmen, dass künftige Generationen in finanzieller Knechtschaft geboren werden, ähnlich wie die feudale Knechtschaft denjenigen auferlegt wurde, die vor Jahrhunderten geboren wurden.

 

Das Sammeln persönlicher Daten leistet dem Wachstum der IT-Giganten Vorschub und zieht einen wachsenden Anteil aller globalen Investitionen an – zu Lasten der produktiven Wirtschaft.

 

Künstliche Intelligenz entwickelt sich in rasendem Tempo. Das Zusammenspiel von massiver Datenerfassung, biometrischer Überwachung und den Folgen des 5G-Netzausbaus wird viele Regierungen in die Lage versetzen, ihre Bürger noch umfassender zu kontrollieren. Sowohl China als auch die USA stehen bei der Erforschung der Verbindung zwischen dem menschlichen Gehirn und KI-Systemen in hartem Wettbewerb. Dieses Forschungsfeld wird nicht nur die Art und Weise der Kriegsführung, sondern auch die Organisation der Gesellschaft verändern. Heute sehen viele Bürger ihre Rechte als Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit eingeschränkt. Künftig könnte an dieser Stelle die Wahl zwischen Gesundheit und Privatsphäre stehen.

 

Der Aufstieg der Überwachungsstaaten ist an sich schon Anlass genug zu ernster Besorgnis. Umso beunruhigender ist es, dass neue technologische Instrumente und persönliche Daten tatsächlich in den Händen mächtiger privater Unternehmen liegen. Wenn man sich jetzt nicht damit befasst, wird die Überlappung zwischen dem Überwachungsstaat und dem digitalen Feudalismus den Unterschied zwischen totalitären und demokratischen Staaten in einer Weise verwischen, die immer noch schwer vorstellbar ist. So wie man sie sich in den dystopischen Welten vorstellt, wie sie Science-Fiction-Filme wie Matrix, Minority Report, Gattaca oder 1984 zeichnen. Werden wir die Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit haben? Oder wird diese Wahl von denjenigen getroffen, die diese neuen Technologien besitzen? Und was bedeutet das für den demokratischen Prozess?

 

Das Sammeln persönlicher Daten leistet dem Wachstum der IT-Giganten Vorschub und zieht einen wachsenden Anteil aller globalen Investitionen an – zu Lasten der produktiven Wirtschaft, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der sozialen Infrastruktur. Zehn Prozent der globalen Großunternehmen akkumulieren 80 Prozent der internationalen Kapitalisierung, viele von ihnen zählen zu den Big-Tech-Schwergewichten. Die Vorherrschaft über die Datenerhebung treibt nicht nur ein florierendes Geschäftsmodell an, sondern verschafft diesen Unternehmen auch unkontrollierbaren politischen Einfluss auf globaler Ebene. Die Auswirkungen, die die Manipulation der sozialen Medien bei der Brexit-Abstimmung oder bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 hatte, sind nur die Spitze des Eisbergs, die veranschaulichen, wie neue Instrumente zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und zur Veränderung der Funktionsweise der Demokratie beitragen.

 

Die Angst wirft zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts einen Schatten auf unser Leben. Die anhaltende Pandemie ist dafür ein Paradebeispiel.

 

Die Wirtschaftsjournalistin Rana Foroohar vertritt in ihrem 2019 erschienenen Buch »Don՚t be evil« – eine Anspielung auf das Firmenmotto von Google – die Ansicht, dass Big Tech inzwischen über die Fähigkeiten verfügt, die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen zu verändern – sowohl für kommerzielle Zwecke, als auch zur Ausübung sozialer Kontrolle. Die riesige Menge an persönlichen Daten ist die wertvollste natürliche Ressource der neuen Wirtschaft. Die Menschen sind nicht mehr die Kunden, sie sind das Produkt selbst, und in dieser metaphysischen Verschiebung werden wir uns nicht sehr von den in Schuldknechtschaft gebundenen Dienern der feudalen Welt unterscheiden.

 

Verwirrung, Unsicherheit und fehlende Vergleichswerte lösen Ängste, Hass und Fanatismus aus. Die Integration dieser Widersprüche in eine neue Synthese, die diese enormen Energien, die in dem soeben beschriebenen Prozess freigesetzt wurden, positiv kanalisiert, wird unsere Zukunft bestimmen. Die Angst wirft zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts einen Schatten auf unser Leben. Die anhaltende Pandemie ist dafür ein Paradebeispiel. Wir sehen die Welt als einen gefährlicheren Ort, und die jüngste Krise hat uns die Zerbrechlichkeit unseres sozioökonomischen Systems und die Grenzen des endlosen Wachstums deutlich vor Augen geführt.

 

Bevölkerungsverschiebungen könnten neue Dimensionen annehmen, und ihre Auswirkungen auf Wahrnehmungen und Identitätsmuster könnten weitreichend sein. Die Folgen dieses Phänomens für die politischen Strukturen und das internationale System sind schwer vorherzusehen, aber entschlossenes Handeln bei Konfliktlösungs- und Vermittlungsinitiativen, wie sie etwa der EU-Außendienst fordert, sind dringend erforderlich, um den zusätzliche Störfaktor bewaffneter Konflikte einzuhegen. In einem solchen Kontext ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, unterstützt durch ein glaubwürdiges Narrativ, das den vor uns liegenden schwierigen Opfern Sinn und Zweck verleiht, unerlässlich, um Hoffnungslosigkeit, Frustration und Verzweiflung zu begegnen, die den Nährboden für Populismus und systemfeindliche Proteste auf globaler Ebene bereiten.

 

Im November 2019 warnte der französische Präsident Emanuel Macron in einem Interview mit dem Economist, sich mit der Zukunft Europas in einem feindseligen und instabilen Umfeld zu beschäftigen und hob sich damit von der üblichen Selbstgefälligkeit der EU-Führer ab. Macron fordert die europäischen Staats- und Regierungschefs auf, eine echte »europäische Souveränität« zu entwickeln, die sich auf eine neue politische Vision, Selbstverteidigungsfähigkeit und strategische Autonomie stützt.

 

Es ist vielleicht die letzte Chance, die positiven Aspekte der technologischen Revolution unter Wahrung der Bürgerrechte zu integrieren.

 

Die Krise in den transatlantischen Beziehungen angesichts eines US-Präsidenten, der zum ersten Mal die Grundlage des EU-Projekts nicht teilt, der Aufstieg Chinas zur globalen Supermacht und autoritäre Führer innerhalb unseres Staatenbundes machen die EU als Global Player irrelevant, wenn sie nicht angegangen werden. Die Schuldzuweisungen im Zuge der Pandemie legen die Spaltungen innerhalb der EU offen und führen vor Augen, wie wichtig und zugleich wie weit entfernt gerade interne Solidarität und konzertiertes Handeln in Krisenzeiten sind. Die Welt, der wir uns nach dieser Pandemie gegenüberstehen, wird für eine unentschlossene und gespaltene EU kein nachsichtiger Ort sein.

 

Die Tragweite der Entscheidungen, vor denen politische Führer, Führungskräfte von Unternehmen oder soziale Aktivisten stehen, ist sicherlich entmutigend, und die Zeit drängt. Den Forderungen nach einer Regulierung von Big Tech in den USA wird mit dem Argument begegnet, dass solch eine Aufsicht China in einem wichtigen strategischen Sektor einen Vorteil verschaffen würde. Die Forderung, absolute Sicherheit zu gewährleisten, drängen die Demokratien dazu, dieselben Überwachungssysteme zu übernehmen, die wir in totalitären Staaten kritisieren. Die private Militärdienstindustrie ist bereits ein börsennotiertes Multimilliarden-Dollar-Geschäft, während sie von russischen Avataren repliziert wird, denen andere folgen.

 

Die Notwendigkeit, die Wirtschaft zu reaktivieren, wird neue Ressourcentransfers von den Steuerzahlern zu den Unternehmen erfordern. Können wir in einer Zeit der Krise und der Infragestellung der staatlichen Autorität so viele schwierige Aufgaben gleichzeitig angehen? Bevor die neuen 5G-Netze in Betrieb genommen werden, haben wir vielleicht die letzte Chance, die positiven Aspekte dieser technologischen Revolution unter Wahrung der Bürgerrechte und eines nivellierten Spielfeldes für die Unternehmen zu integrieren.

 

Die wichtigste Frage ist nicht, ob ein chinesisches Unternehmen die Kontrolle über diese Infrastrukturen haben sollte, sondern ob ein Unternehmen oder eine Regierung über diese Macht verfügen sollten, die jeden Aspekt unseres Lebens betrifft. Die Auswirkungen solcher Entscheidungen werden weitreichende geopolitische Folgen zeitigen und könnten dazu beitragen, die multilaterale Zusammenarbeit zu erhalten, die wir brauchen, um die sich abzeichnende internationale Krise zu bewältigen. Angesichts der Umstände ist der Erfolg ungewiss, aber die Kosten, es nicht zu versuchen, werden zweifellos viel höher ausfallen.


Ramon Blecua ist Diplomat, ehemaliger EU-Botschafter im Irak und derzeit leitender Berater der Abteilung für politische Planung im spanischen Außenministerium. Die Meinungen in diesem Artikel sind die des Autors und repräsentieren nicht die offiziellen Positionen des Ministeriums.

Von: 
Ramon Blecua

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