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Trauerzüge nach dem Tod von Irans Präsidenten

Echte Anteilnahme oder bloße Inszenierung?

Analyse
Trauerzüge nach dem Tod von Irans Präsidenten
Fars News

Eine Woche lang dominierten die Trauerzüge für Irans verunglückten Präsidenten Raisi und weitere hochrangige Beamte Irans Öffentlichkeit. Warum hohe Teilnehmerzahlen nicht unbedingt ein Indikator für Regimetreue sind – und die Staatsmedien doch ganz bestimmte Bilder streuten.

Nach dem Tod von Präsident Ebrahim Raisi und weiteren hochrangigen Offiziellen wurde den großen Menschenmengen, die an den Beerdigungszeremonien teilnahmen, große Aufmerksamkeit geschenkt. Die staatlichen Stellen reklamierten die Teilnehmerzahlen als Beweis für die Legitimität des Systems. Regimegegner wiederum kritisierten, dass es sich bei vielen der Anwesenden um Staatsangestellte handelte. Die ausschließliche Konzentration auf die Anzahl der Teilnehmer als Maß für die politische Loyalität ist jedoch zu einfach gedacht und möglicherweise irreführend. Stattdessen ist es von entscheidender Bedeutung, die zugrunde liegende Dynamik zu untersuchen, die eine solche Massenbeteiligung antreibt.

 

Ein wichtiger Faktor: die Herkunft der verstorbenen Amtsträger. Präsident Ebrahim Raisi stammt aus der Stadt Maschhad in Ost-Iran, der Imam der Freitagsmoschee von Täbris und der Gouverneur der Provinz Ost-Aserbaidschan aus dem Nordwesten des Landes. Täbris und Maschhad haben eine bedeutende Rolle in der modernen Geschichte Irans gespielt und beeinflussen weiterhin die politische Dynamik des Landes. Die folgenden Erkenntnisse basieren auch auf stundenlangen Gesprächen mit Menschen, die an den Beerdigungen in Teheran, Maschhad und Täbris teilgenommen und diese beobachtet haben.

 

Der Imam der Freitagsmoschee von Täbris, Seyyed Mohammad Ali Ale-Hashem, war aserbaidschanischer Iraner. Er und seine Familie waren in Täbris und in der aserbaidschanischen Gemeinschaft Irans bekannt und respektiert. Daher ist die große Beteiligung an seiner Trauerfeier nicht unbedingt ein Zeichen der Unterstützung für den Staat. Stattdessen spiegelt sie den Respekt und die Zuneigung der Gemeinschaft für ihn als Einzelperson, Aserbaidschaner und bekannte lokale Persönlichkeit wider.

 

Ale-Hashems Popularität ging über seine offizielle Position hinaus. Er war als Unterstützer des in der Region populären Erstligisten Tractor S.C. Täbris und Förderer aserbaidschanischer Poesie bekannt. In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist sein Freundschaft mit dem Dichter Mohammad Hossein Behjat (bekannt als Shahriar), der erstmals eine bedeutende Sammlung von Gedichten in aserbaidschanischer Sprache herausgab.

 

Ale-Hashems Identität als Aserbaidschaner spielte eine wichtige Rolle bei der Beteiligung der Öffentlichkeit an seiner Trauefeier

 

Ale-Hashems Identität als Aserbaidschaner und seine Verbindungen zur Gemeinschaft spielten eine wichtige Rolle bei der Beteiligung der Öffentlichkeit an seiner Trauerfeier. Dies zeigt, dass die Unterstützung und Teilnahme an solchen Veranstaltungen tief in der lokalen Identität und kulturellen Affinität verwurzelt sein kann und nicht rein politischer Loyalität oder staatlichem Einfluss geschuldet ist. Darüber hinaus war Ale-Hashem vor seiner letzten Position Chef der »Politischen Ideologischen Organisation der Armee der Islamischen Republik Iran«, was seinen Einfluss innerhalb des Systems stärkte.

 

Ebrahim Raisi stammt ursprünglich aus der Stadt Birjand, etwa 250 Kilometer südlich von Maschhad. Die Trauerfeier für Irans Präsidenten wurde am Imam-Reza-Schrein abgehalten, dessen Verwaltung der Kleriker für mehrere Jahre geleitet hatte. Gespräche mit Beerdigungsteilnehmern bezeugen, dass ihre Anwesenheit durch den Wunsch motiviert war, die Bedeutung von Maschhad und seinen Einwohnern hervorzuheben. Dieses Beispiel unterstreicht zusammen mit dem vorherigen die Bedeutung der regionalen Zentren Irans und lokaler Netzwerke für die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Die Unterstützung des Staates ist oft ein zweitrangiges Element dieser tief verwurzelten sozialen Bindungen.

 

Die staatlichen Stellen gaben an, dass drei Millionen Menschen an dem Trauerzug für Raisi teilgenommen hätten. Ein Blick auf die fünf Zugangswege zum Imam-Reza-Schrein legt jedoch nahe, dass diese Zahl höchst unrealistisch ist. Daten aus dem städtischen Verkehrssystem stützen diese Skepsis. Demnach nutzten nach der Beerdigung etwa 60.000 Menschen die U-Bahn-Linie nutzten. Journalisten und Teilnehmer vor Ort schätzten die Teilnehmerzahl auf etwa 500.000 Menschen.

 

Bemerkenswert ist auch, dass die Beerdigung von Qasem Soleimani in Maschhad vor drei Jahren eine größere Menschenmenge angezogen hatte. Soleimani galt als »Märtyrer«, weil er durch einen US-Angriff im Irak Anfang 2021 ums Leben kam. Viele Iraner empfanden die Ermordung deshalb als einen Angriff eines ausländischen Feindes auf ihr Land. Im Gegensatz dazu löste Raisi, der bei einem Unfall ums Leben kam, nicht das gleiche Ausmaß an öffentlicher Trauer aus, obwohl er offiziell ebenfalls mit der Bezeichnung »Märtyrer« bedacht wurde.

 

Diese Zusammenkünfte bieten den Menschen die Möglichkeit, sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen, die tief in der iranischen Kultur verwurzelt sind

 

Raisi war privat wie beruflich eng mit Maschhad verbunden, und das nicht nur wegen seiner engen Anbindung an die Stiftung des Imam-Reza-Schreins. Sein Schwiegervater Ahmad Alamolhoda war Imam der Freitagsmoschee von Maschhad und Vertreter des Revolutionsführer Ali Khamenei in der Stadt. Darüber hinaus verfügt Maschhad über eine starke konservative Basis. Für Raisi stimmten bei den Präsidentschaftswahlen 2017 56 Prozent, 2021 dann 72 Prozent.

 

Darüber hinaus beherbergt Maschhad eine große Zahl afghanischer Flüchtlinge, die Teil der unteren Gesellschaftsschichten der Stadt sind und von den Sozialleistungen des Raisi-Netzwerks profitieren. Nimmt man die Unterstützung der unteren Schichten der Stadt sowie der afghanischen Flüchtlinge zusammen, erscheint eine Schätzung der Menschenmenge auf 500.000 Teilnehmer realistischer.

 

Ein weiteres entscheidendes Element ist die kulturelle und religiöse Bedeutung öffentlicher Ereignisse in der iranischen Gesellschaft. Trauerzüge und andere Zeremonien weisen oft tiefe historische Verbindungen sowohl zur schiitischen Ideologie als auch zu breiteren iranischen Kulturpraktiken auf. Solche Veranstaltungen können Paraden, Festen oder Karnevalsumzügen ähneln und gekennzeichnet sind von Ausdrucksformen wie schiitischer Musik und öffentlichen Trauerbekundungen. Diese Zusammenkünfte bieten den Menschen die Möglichkeit, sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen, die tief in der iranischen Kultur verwurzelt sind.

 

Diese Tradition der öffentlichen Trauer, zu der das Singen religiöser Lieder durch Lobredner und spezielle Programme für Kinder und Jugendliche gehören, spiegelt einen einzigartigen Aspekt der iranischen Gesellschaft wider. Daher ist die Teilnahme an diesen Veranstaltungen für viele Teilnehmer eine Gelegenheit, sich an kulturellen und religiösen Praktiken zu beteiligen, unabhängig von ihrer politischen Einstellung oder Unterstützung für den Staat. Diese Veranstaltungen bieten die Möglichkeit, Teil eines Gemeinschaftserlebnisses zu sein, das Unterhaltung und erhabene Trauer miteinander verbindet.

 

Nach einer Woche emotional aufgeladener Trauerzüge bleibt die entscheidende Frage

 

Die Trauerfeiern von Raisi und anderen hochrangigen Offiziellen verdeutlichte aber ebenso den strategischen Einsatz emotionaler Elemente durch den Staat, um die öffentliche Stimmung zu beeinflussen. Auch deswegen wurden sämtliche bei dem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommenen Beamten als »Shohada-ye Khedmat«, zu Deutsch »Märtyrer des Dienstes« bezeichnet. Darüber hinaus ersetzten die staatlichen Medien den offiziellen Titel des Präsidenten, »Oberhaupt der Republik« durch »Märtyrer der Republik« und stellten die Familien der verstorbenen Politiker prominent in den Mittelpunkt, um starke emotionale Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorzurufen. Beispielsweise wurden Bilder des Kindes des Provinzgouverneurs Malik Rahmati zusammen mit dessen schwangeren Frau weit verbreitet. In ähnlicher Weise blendeten die staatlichen TV-Sender immer wieder den betagten Vater des Imams von Täbris sowie die Mutter von Ebrahim Raisi ein.

 

Den Trauerzug des Präsidenten begleitete zudem der Sarg seines ebenso ums Leben gekommenen Leibwächters. Dessen Leichnam wurde anschließend zur Beerdigung zurück in dessen Heimatstadt Shahr-e-Rey transportiert. Dieser Akt wurde symbolisch genutzt, um die Loyalität und Hingabe der Leibwächter des Präsidenten zu demonstrieren, die auch nach seinem Tod an Raisis Seite blieben, bis er beigesetzt wurde, und erst dann zu ihrer eigenen Beerdigung zurückkehrten. Dieses Narrativ spielte eine bedeutende emotionale Rolle und wurde vom Staat effektiv genutzt, um Themen wie Loyalität und Opferbereitschaft zu betonen.

 

Diese emotional aufgeladenen Darstellungen dienten dazu, die Verstorbenen menschlicher zu machen und eine Verbindung zur Öffentlichkeit herzustellen, indem sie die Trauer der Familie nutzten, um Empathie und Unterstützung zu gewinnen. Der Staat zielte darauf ab, die öffentliche Wahrnehmung und Stimmung zu beeinflussen, indem er die emotionale Anziehungskraft als Instrument zur Aufrechterhaltung und Stärkung seiner Erzählung und Kontrolle über den öffentlichen Diskurs nutzte. Nach einer Woche emotional aufgeladener Trauerzüge bleibt die entscheidende Frage, ob der Staat für den bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf, aber eben auch für die Unterstützung des Systems und dessen Agenda nutzen kann.


Hessam Habibi Doroh ist Lehrbeauftragter für Internationale Beziehungen und Interkulturellen Dialog am FH Campus Wien.

Von: 
Hessam Habibi Doroh

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