Noch vor wenigen Jahren lagen Griechenland und die Türkei auf Konfrontationskurs. Warum die Chance auf einen diplomatischen Durchbruch im östlichen Mittelmeer nun so günstig wie lange nicht mehr sind – und wie sich die Bundesrepublik als Vermittler bewähren kann.
Ankaras Außenminister Hakan Fidan spricht von einer »neuen und positiven Periode« in den Beziehungen zu Griechenland. Sein Athener Amtskollege Georgios Gerapetritis sagt, es sei nötig, »auf das aufzubauen, was uns eint und besser zu verstehen, was uns entzweit«. Fidan und Gerapetritis sind neu in ihren Ämtern. Beide, so heißt es in Ankara und Athen, genießen das absolute Vertrauen ihrer Vorgesetzten. Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Mitsotakis sind nach triumphalen Wahlerfolgen innenpolitisch gestärkt. Ihren Außenministern haben sie den Auftrag erteilt, systematisch nach einer Lösung der langjährigen und vielschichtigen griechisch-türkischen Konflikte zu suchen. Die Vereinbarung verkündeten Erdoğan und Mitsotakis am Rande des NATO-Gipfels in Vilnius im Juli.
Das Treffen der Außenminister der Türkei und Griechenlands in Ankara Anfang September ist der erste Schritt einer »Roadmap«. Die enthält eine lange Liste von türkisch-griechischen Begegnungen, die für die kommenden Wochen und Monate angesetzt sind. Wenn alles nach Plan läuft, kommen Mitsotakis und Erdoğan vor Jahresende zu zwei weiteren Gipfeltreffen zusammen. Das nächste ist für den 18. September am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York vereinbart, spätestens im Dezember wollen die Regierungschefs ein weiteres Mal im griechischen Thessaloniki zusammenkommen. Parallel finden politische Konsultationen zu Fachthemen und vertrauensbildende Maßnahmen statt. Diese Dichte von hoch- und höchstrangingen griechisch-türkischen Treffen hat es lange nicht gegeben.
Es ist nicht das erste Mal, dass Ankara und Athen sich anschicken, ihre Probleme am Verhandlungstisch zu lösen. Leichter geworden ist das Projekt nicht: Über die Jahre haben die Differenzen und deren Komplexität zugenommen. Schon die Frage, worüber verhandelt werden soll, ist zwischen Athen und Ankara in hohem Maße umstritten. Geht es nach den Griechen, ist die Abgrenzung der maritimen Hoheitszonen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer das alleinige Thema. Ankara hat weiterreichende Ambitionen, will auch über den militärischen Status der ostägäischen Inseln, die türkischsprachige Minderheit in Griechenland und den Terrorismus sprechen. Wie ein Damoklesschwert schwebt über jedweder griechisch-türkischen Annäherung weiterhin das Zypern-Problem mit einer ganz eigenen – destruktiven – Dynamik.
Dieses Mal scheinen die Voraussetzungen, dass es zu greifbaren Ergebnissen kommt, günstiger als zuvor. Das liegt an der Innenpolitik in der Türkei und in Griechenland, wo Erdoğan und Mitsotakis unangefochten im Sattel sitzen. Auch die weltpolitische Lage im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine begünstigt die griechisch-türkische Diplomatie.
Ein offener Konflikt zwischen den NATO-Partnern Griechenland und der Türkei wäre für die Allianz eine politische Katastrophe
Förderlich für die Annäherung ist zudem die Stimmungslage in beiden Ländern. Diese hat sich in den zurückliegenden Monaten erkennbar aufgehellt. Der wesentliche Auslöser dieser psychologisch bedeutsamen Entwicklung auf beiden Seiten der Ägäis waren die verheerenden Erdbeben in Anatolien im Februar und die folgende außergewöhnliche Solidarität, die Griechenland und die Griechen in der Stunde der Not gezeigt haben. Die sogenannte Erdbeben-Diplomatie, die der damalige Athener Außenminister Nikos Dendias umgehend einleitete, hat den Weg geebnet für den politischen Neubeginn.
In Washington und in Berlin lösten die symbolträchtigen griechisch-türkischen Umarmungen in den Trümmern des anatolischen Erdbebengebiets Entzücken aus. Seit dem Krieg in der Ukraine ist die Geschlossenheit der NATO eine absolute Priorität des Westens. Ein offener Konflikt zwischen den NATO-Partnern Griechenland und der Türkei wäre für die Allianz eine politische Katastrophe und würde Putins Russland direkt in die Hände spielen.
Dass es hierzu nicht kommt, ist ein strategisches Ziel des Westens in der Region. Dafür zu sorgen, dass Griechen und Türken ihre Probleme friedlich beilegen, diesen politischen Auftrag haben die Amerikaner den Deutschen übertragen. Wenn Berlin, wie zuletzt geschehen, zwischen Athen und Ankara vermittelt, geschieht dies auch im Auftrag der USA – ein Umstand, der der Berliner Diplomatie zusätzliches Gewicht verleiht.
Deutsche Vermittlungen zwischen der Türkei und Griechenland sind nicht neu. Einen Höhepunkt erreichte die diplomatische Einmischung Berlins im Krisensommer 2020, als es im östlichen Mittelmeer um Haaresbreite zu einer militärischen Eskalation im Streit über die maritimen Hoheitszonen gekommen wäre. Eine energische politische Intervention der damaligen Kanzlerin Angela Merkel führte zu einer Beruhigung der Gemüter.
Berlin hat einen wichtigen Beitrag geleistet, dass Erdoğan die Politik des »Mitsotakis yok« hinter sich lässt
Auch unter Bundeskanzler Olaf Scholz bleibt die Verhinderung einer Eskalation im östlichen Mittelmeer und in der Ägäis – oder positiv gesagt: eine dauerhafte Entspannung zwischen Ankara und Athen – ein wichtiges Ziel der deutschen Außenpolitik. Auf unterschiedlichen Ebenen ist die deutsche Diplomatie zwischen Athen und Ankara aktiv: »Wir haben in den letzten Wochen mit der griechischen und der türkischen Seite Gespräche geführt, die wir auch fortsetzen werden«, bestätigt der Regierungssprecher kurz vor dem Treffen der Außenminister Griechenlands und der Türkei in Ankara Anfang September die anhaltende Befassung der Berliner Diplomatie mit dem türkisch-griechischen Thema.
Durchaus effektiv war diese Intervention – unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit – im vergangenen Dezember. In Brüssel trafen auf deutsche Initiative hohe Beamte aus Athen und Ankara zusammen und vereinbarten, den eingefrorenen Dialog wiederaufzunehmen. Berlin hat einen wichtigen Beitrag geleistet, dass Erdoğan die Politik des »Mitsotakis yok« (türkisch für: »Nein zu Mitsotakis«) hinter sich lässt und die Nachbarn wieder ins Gespräch gekommen sind.
Für eine Einordung ist es wichtig, dass Berlin nicht das Ziel verfolgt, den Inhalt der Verhandlungen zu bestimmen. Den Deutschen geht es nicht darum, welche Gestalt eine angestrebte Lösung annehmen soll. Im Vordergrund steht das Verfahren, nicht die Substanz: Berlins Ziel ist, dass beide Seiten am Verhandlungstisch Platz nehmen und gemeinsam nach einvernehmlichen Lösungen suchen. Diese strategische Vorgabe trägt zur Akzeptanz der deutschen Rolle bei. »Wir nehmen völkerrechtlich nicht Stellung, wir sind nicht der Schiedsrichter«, sagt ein Diplomat in Berlin. »Daher kann es keine deutsche Position geben. Die Parteien müssen sich einigen.«
Diese Neutralität, die von Kritikern auch als »Politik des gleichen Abstands« bezeichnet wird, bleibt eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Vermittlung. »Wenn wir den Türken sagen, ihr seid im Unrecht, erreicht man in Ankara genau das Gegenteil und verschärft den Konflikt«, ergänzt der deutsche Diplomat.
Südosteuropa und das östliche Mittelmeer haben eine besondere strategische Bedeutung für Deutschland
Auf beiden Seiten der Ägäis herrscht eine starke Ablehnung gegen »externe Einmischung« in die eigenen »nationalen Angelegenheiten«. Die ist besonders ausgeprägt in Griechenland. Dort sind laut den Ergebnissen einer repräsentativen Meinungsumfrage 75 Prozent der Menschen der Überzeugung, dass Berlin im Konflikt mit der Türkei auf Seiten Ankaras steht.
Neben der Neutralität ist die Diskretion ein zweiter Grundsatz der deutschen Vermittlung. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sehr wenig über die Rolle Deutschlands in diesem Konfliktfeld an die Öffentlichkeit gelangt. Zu keinem Zeitpunkt äußert sich die Bundesregierung offiziell, wie eine Lösung der türkisch-griechischen Differenzen im Einzelnen aussehen sollte. Unter vorgehaltener Hand ist höchstens zu hören, dass für Berlin eine Lösung durch einen Schiedsspruch seitens des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag das beste Ergebnis wäre. »Wir finden den Ansatz gut, dass beide Seiten darüber reden, mit welchen Fragestellungen man den Internationalen Gerichtshof anruft«, sagt ein deutscher Diplomat im vertraulichen Gespräch.
Als führende Wirtschaftsmacht Europas ist Deutschland traditionell an stabilen Verhältnissen interessiert. Südosteuropa und das östliche Mittelmeer haben eine besondere strategische Bedeutung für Deutschland. Mit dem Krieg in der Ukraine hat diese Bedeutung zugenommen. »Wir fühlen uns verpflichtet, für ein gutes Verhältnis der Beteiligten in der Ägäis zu sorgen und sind dabei immer wieder Partner«, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juli und ergänzte: »Das werden wir auch bleiben.«
Im Auswärtigen Amt weiß man, dass mit einer Lösung der griechisch-türkischen Differenzen auf die Schnelle nicht zu rechnen ist. »Möglicherweise dauert das noch Jahrzehnte«, sagt mein Gesprächspartner. »In der Zwischenzeit müssen wir dafür sorgen, dass sie nicht aufeinander schießen.«
Dr. Ronald Meinardus ist Senior Research Fellow bei der »Hellenischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik« (ELIAMEP) und Beauftragter für Forschungsprojekte zu den griechisch-deutschen Beziehungen.