Während viele Wählerinnen und Wähler in Iran der Urne fernbleiben, werben die wenigen Kandidaten für das Präsidentenamt für eine wirtschaftlich goldene Zukunft – und sorgen dabei für ein Novum.
Masoume Ebtekar, ehemals eifrige Revolutionärin bei der Erstürmung der US-Botschaft 1979, mittlerweile eine wichtige Persönlichkeit der iranischen Reformbewegung, sowie aktuell Vizepräsidentin Irans, stellte über Instagram die zentrale Frage der diesjährigen Präsidentschaftswahlen: »Was sollte man tun?« – wählen gehen oder nicht?
Während in den letzten Monaten eine breite Bewegung dazu aufrief, nicht zu wählen und dafür viel Zustimmung erhielt, sorgte die Grundsatzfrage dennoch für hitzige Debatten innerhalb und außerhalb Irans. Die Argumentation folgt dabei der Logik der Islamischen Republik: Eine hohe Wahlbeteiligung, unabhängig vom Ergebnis, bedeutet die allgemeine Zustimmung zum System der Islamischen Republik. Folglich ist der einzige Weg, das System zu hinterfragen, der Wahlboykott. Diese Bedeutung unterstrich Revolutionsführer Ali Khamenei immer wieder.
Die 13. Präsidentschaftswahlen in Iran sind eine Herausforderung für die Bevölkerung und den Staat. Die Wahlen könnten nach den Novemberprotesten 2019 und dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine PS752 im Januar 2020 als Beginn eines neuen politischen Kapitels in die Geschichte des Landes eingehen. Zwischen Aufrufen zu einem Wahlboykott und Aufrufen aller Präsidentschaftskandidaten zu systemischen Veränderungen im Land, kämpft die politische Elite Irans um eine hohe Wahlbeteiligung.
Die neue App Clubhouse sorgte im Vorlauf der Wahlen für ein neues soziales Phänomen in der persophonen Welt. Zum ersten Mal gab es ruhige und moderierte Live-Gespräche mit tausenden Zuhörern zwischen Politikerinnen und Politikern, Journalisteninnen und Journalisten, Theologen sowie Aktivistinnen und Aktivisten aus Iran mit eben denselben Gruppen von Iranerinnen und Iranern außerhalb Irans.
Niedrige Wahlbeteiligung trotz »Clubhouse-Effekt«
Gestandene Politgrößen der Islamischen Republik wie auch bekannte Oppositionelle beteiligten sich an den Gesprächen und sprachen gemeinsam über die Zukunft Irans. Diese länder-, politische wie soziale Gruppen übergreifenden Diskussionen waren für alle Beteiligten eine neue gemeinsame Erfahrung eines persönlichen Austauschs, der eine integrative Wirkung auf die hochpolitisierten iranischen Gruppen weltweit besaß und damit das wichtigste Instrument dieser Präsidentschaftswahlen war. Insbesondere Ex-Präsident Mahmud Ahmadinedschad und die Reformer übertrumpften sich mit immer höheren Zuhöhrerzahlen, darunter etwa das Live-Gespräch mit Faeze Rafsanjani, Tochter des 2017 verstorbenen Polit-Schwergewichts Ali Akbar Haschemi Rafsandschani mit über 20.000 Zuhörern.
Da es sich bei der Abstimmung um Direktwahlen von Einzelpersonen handelt, und es keine klassischen Parteien in Iran gibt, ist der Wahlkampf sehr personenbezogen. Mit sehr geringen Voraussetzungen können sich Freiwillige zur Wahl als Kandidat registrieren lassen, wodurch die Bewerberzahlen seit den 2000ern immer bei etwa 500 Personen lagen. Die teils skurrilen Auftritte der Bewerberinnen und Bewerber, darunter auch zunehmend Frauen, ziehen von Wahl zu Wahl immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Einige Kandidaten sorgen für Schmunzeln und Gelächter, wenn sie sich verkleidet zum Präsidentschaftsamt aufstellen lassen. Andere provozieren Diskussionen, wenn sie beim Registrieren behaupten, ein Prophet oder gleich Gott höchstpersönlich zu sein.
Doch trotz dieses Wahltrubels und dem »Clubhouse-Effekt« mit hitzigen Debatten über den Wahlboykott und Stilfragen guter Politik, scheint die Wahlbeteiligung dennoch auf ein historisches Tief zwischen 35-50 Prozent zu sinken. Die bisher niedrigste Wahlbeteiligung lag bei rund 50 Prozent, als Anfang der 1990er die Islamische Republik ihre erste politische Krise nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs (1980-1988) durchlebte. Anschließend folgte der politische Aufschwung um den Präsidenten Mohamed Khatami, der es schaffte, mit umfassenden Reformbestrebungen große Teil der iranischen Bevölkerung in das politische System zu reintegrieren.
Systemrelevante Veränderungen kündigten ebenfalls alle aktuellen Präsidentschaftskandidaten an, wobei dieses Mal die stärksten Forderungen nach Systemveränderungen unüblicherweise von Seiten der konservativen Kandidaten kamen. Mehrere Kandidaten, die mittlerweile offiziell von der Wahl zu Gunsten des Favoriten Ebrahim Raisis zurücktraten, sprachen davon, dass es einer großen »Operation« des Systems oder einer »substanziellen Veränderung« bedarf, um das Land aus der Krise auf Erfolgskurs zu bringen.
Ebrahim Raeisi selbst, berüchtigt als skrupelloser Richter in Verfahren gegen politische Gefangene am Ende des Iran-Irak-Kriegs und aktuell Chef der Justiz in Iran, trat diesbezüglich zwar vorsichtiger auf, betonte jedoch stets, dass seine Regierung zur Korruptionsbekämpfung und zur Steigerung der Wirtschaftsleistung die Regierungsstrukturen ändern und einschneidende Schritte in der Wirtschaft unternehmen werde.
Die ähnlich klingenden Aussagen deuten wohl auf die Durchsetzung des »Blicks nach Osten« in der konservativen Elite Irans hin, der China als aufsteigende Macht Asiens endgültig zu einem strategischen Vorbild für eine neue Landespolitik macht, gleichsam die Unterschiede zwischen den beiden Ländern bekannt sind. Insofern wird sich auch die Geschichte der ausschließlich westwärts gerichteten Reformbestrebungen aus den 1990ern nicht wiederholen.
In diesem Sinne vertrat der einzig übrig gebliebene, formal unabhängige, doch seit wenigen Tagen von zumindest einigen Reformgruppen offiziell unterstützte Kandidat Abdolnaser Hemmati verhältnismäßig schwache Forderungen für systemische Reformen im Land.
Abdolnaser Hemmati kommt aus dem politischen Lager Rafsandschanis und bewegte sich bislang in wirtschaftspolitischen Ämtern zwischen dem Staat und dem Bankenwesen. Während er gesellschaftlich für eine soziale Öffnung steht, vertritt er die Position, dass eine »Wirtschaftspolitik keine politischen Grabenkämpfe« kenne, sondern Partner suche. In den offiziellen Wahldebatten, in denen die vom Wächterrat abgesegneten Präsidentschaftskandidaten in Fragerunden seit 2013 live gegeneinander antreten, verkündete Hemmati, dass er bereit sei, US-Präsident Biden zu treffen und eine Annäherung an Europa anstrebe.
Ein Treffen mit dem US-Präsidenten als Wahlkampfargument zu nutzen, ist ein Novum. Doch führt er damit nur die politische Entwicklung seit den frühen 2000ern fort, da eine Stabilisierung mit Europa und auch den USA seit dem Atomabkommen als gesetzte Politiklinie erscheint. Interessanter ist dabei, dass Hemmati zwischenzeitlich Botschafter in China war, und somit prädestiniert wäre, eine iranische Brücke zwischen Europa, den USA und China zu moderieren. Dies wäre ganz im Sinne des revolutionären Grundsatzes von 1979 »nicht östlich, nicht westlich, sondern eine Islamische Republik«, und würde den »Blick nach Osten« ergänzen.
»An welchem Ort leben wir dann hier in Iran?«
Die Position der Stabilität gen Westen und dem Blick nach Osten bestätigte auch der konservative Favorit Ebrahim Raisi, als er in den Wahldebatten davon sprach, das Atomabkommen beizubehalten, da es sich um ein Vertragswerk handle. Dasselbe gelte demnach für das Abkommen mit China, welches Iran im Frühling 2021 schloss. Allerdings bleibt es offen, inwiefern er als Präsident die Beziehungen zu Europa und den USA pflegen kann, schließlich steht der 60-Jährige seit 2019 auf der Sanktionsliste des US-Außenministeriums.
Insgesamt demonstrierten die Präsidentschaftskandidaten bei den offiziellen Wahldebatten vor allem Meinungsunterschiede darin, wie stark und wie schnell man die Islamische Republik Iran wirtschaftlich voranbringe könne. Andere Prioritäten außer der Wirtschaft oder die für den wirtschaftlichen Aufschwung nötigen Mittel traten in den Hintergrund.
Die profilierte Reformergröße Mostafa Tajzadeh, der zu den Präsidenschaftswahlen antrat, aber vom Wächterrat disqualifiziert wurde, fasste die Wahldebatten daher mit folgendem Instagram-Post zusammen: Scheinbar gäbe es nicht »eine Person, die für Internetzensur, die Moralpolizei, die Einschränkung sozialer Freiheiten, Diskriminierung von Frauen und das Aufzwingen von bestimmten Lebensstilen sei, zudem gäbe es niemanden, der gegen das Atomabkommen, FATF (ein Finanzgremium gegen Geldwäsche) und den Austausch mit der Welt ist. Nur bleibt dann die Frage an welchem Ort, wir denn dann hier, in Iran, leben?«
Die nächste Präsidentschaft wird zeigen, inwiefern die politische Elite diese Positionen nach den Wahlen vorantreibt und ob die Fokussierung auf wirtschaftlichen Aufschwung reichen wird, um der Bevölkerung neue Perspektiven zu bieten. Zwischen China als neuem Zentrum Asiens und Europa möchte Irans Elite ein neues Gleichgewicht finden und wirtschaftlich profitieren. Solange allerdings breite Bevölkerungsschichten in Iran nicht am Aufschwung beteiligt werden, wird sie die Frage »Was sollte man tun?« zunehmend klarer beantworten.
Masoume Ebtekar selbst beantwortet ihre Frage in ihrem Instagram-Post nicht. Sie gibt zu verstehen, dass es genügend Gründe gäbe, nicht wählen zu gehen, doch zählt im selben Atemzug die Erfolge ihrer Regierung auf, was sich wohl als Begründung verstehen lassen soll, weshalb es sich dann doch lohne, wählen zu gehen.
Ob die politische Elite der Islamischen Republik Iran es erneut schaffen kann, die Bevölkerung für die Präsidentschaftswahlen zu mobilisieren, zeigt sich in den nächsten 24 Stunden im Land selbst und vor den Botschaften und Konsularen Irans weltweit. Revolutionsführer Khamenei formulierte dazu, dass das Ergebnis dieser Wahlen zwar an einem einzigen Tag bestimmt, das Wahlergebnis das Land jedoch nachhaltig prägen werde.
Sören Faika, Iranist und Geschäftsführer von DIBeratung GmbH, bietet mit dem Team von DIBeratung Fortbildungen, Dienstleistungen und Beratung zwischen Deutschland und Iran an.