Es wirkt wie ein Lehrstück zu systemischer Korruption. Ungeklärte Industrieabwässer vergiften den Manzala-See. Der Fischbestand in Ägypten schrumpft dramatisch. Kann eine Klage der Umweltverschmutzung im Nildelta Einhalt gebieten?
Wie jeden Morgen machten sich Ali und Mukhtar Fayala am 9. September 2021 auf den Weg zur Fischfarm. Dann der Schock. »Hunderte Fische trieben leblos und aufgedunsen an der Oberfläche«, erinnern sich die Brüder. In den vergangenen fünf Jahren war dieser Anblick keine Seltenheit. Doch nun waren ihre Rücklagen aufgebraucht. »Wir mussten einen Kredit aufnehmen, um neue Fischlarven anzuschaffen.« Dazu kamen die laufenden Kosten: Das Fischfutter kostet täglich umgerechnet fast 90 Euro – Ausgaben, die die Familie über die Erträge wieder auszugleichen hoffte. Neben den Verbindlichkeiten gegenüber der Bank setzten die Fayalas zudem ausstehende Mietschulden bei der Fischereibehörde des Landwirtschaftsministeriums unter Druck.
»Seit meinem sechsten Lebensjahr habe ich meinem Vater und meinem Bruder auf der Fischfarm geholfen. Es bereitete mir Freude, die Fische vor meinen Augen wachsen zu sehen «, erinnert sich Mukhtar. Er und sein Bruder Ali haben die etwa 180.000 Quadratmeter große Aquakultur geerbt. »Ich werde mir nie verzeihen, dass ich das Erbe meines Vaters nicht bewahrt habe«, bedauert Mukhtar Fayala das drohende Aus für das Familienunternehmen.
Die Familie Fayala ist kein Einzelfall. Etwa 1.300 Fischfarmen am Manzala-See stehen vor dem finanziellen Ruin. Der Grund: Industrieabwässer aus den angrenzenden Fabriken. Der Manzala-See liegt in der östlichen Hälfte des Nildeltas zwischen den Städten Damietta und Port Said, die etwa 25 Kilometer auseinanderliegen. Eine Landzunge trennt das Brackgewässer vom Mittelmeer.
Der niedrige Wasserspiegel von etwa 1,50 Meter ist auch eine Spätfolge verfehlter Landwirtschaftspolitik in den 1980er Jahren, als die ägyptische Regierung Teile des Sees trockenlegen ließ, um die sedimentreichen Schichten als Anbauflächen zu nutzen. Der Versuch scheiterte wegen des hohen Salzgehalts im Boden, seitdem prägen wieder Aquakulturen die Landschaft.
Diese Recherche belegt, dass die in den Manzala-See eingeleiteten Abwässer gegen die im ägyptischen Umweltgesetz von 2009 festgelegten Standards verstoßen und die Schadstoffwerte über den internationalen Normen liegen. Die für diese Recherchen gesammelten Meeresorganismen aus Fischfarmen sowie Boden- und Wasserproben wurden im Labor untersucht. Die Analyse bestätigte, dass die Fische für den menschlichen Verzehr nicht geeignet sind.
Selbst die Fischereibehörde bestätigt in einem Bericht, dass insbesondere die Wasserwege bei Damietta durch ungeklärte Abwässer verunreinigt werden. Als Grund wird hier der ineffiziente Betrieb des naheliegenden Klärwerks Ezbet Al-Burj angeführt. Der Befund deckt sich mit einer Beschwerde, die im Dezember 2017 vom Pächter einer nahen Fischfarm eingereicht wurde. Die Wasserschutzabteilung der lokalen Polizei stellte der Umweltbehörde daraufhin einen Experten bei. Laut dessen Bericht waren keine der Behandlungsstufen in der Anlage in Betrieb. Die ungeklärten Abwässer in der Anlage gelangen von einer Stufe zur nächsten, bis sie den Abfluss erreichen: den Manzala-See.
Ein klarer Verstoß gegen das Umweltgesetz, das Betriebe mit einer Genehmigung zur Einleitung von Schadstoffen dazu verpflichtet, diese zunächst aufzubereiten. Gemäß der Vorschriften muss in dem Fall der Abfluss verwaltungsmäßig gestoppt und die Lizenz der Einrichtung widerrufen werden, wenn die Aufbereitung nicht innerhalb einer Frist von einem Monat abgeschlossen ist oder wenn eine in diesem Zeitraum durchgeführte Analyse ergibt, dass die Fortsetzung der Ableitung schwere Umweltschäden verursachen würde.
Doch dann geschah – nichts. Das Klärwerk in Regierungshand bestreitet jegliches Fehlverhalten und ist bis heute in Betrieb. Dabei hatten Folgeuntersuchungen des Labors für Präventivmedizin in Damietta, die der Autorin vorliegen, bereits 2018 klare Grenzwertüberschreitungen unter anderem bei Industriefetten, Ammoniak und Schwefelwasserstoff belegt.
Salah Abu Gomaa will zu den konkreten Vorwürfen gegen das Klärwerk nichts sagen. »Die Verschmutzung der Gewässer speist sich aus mehreren Quellen«, führt der frühere Chef der Fischereibehörde von Damietta aus. »Etwa aus dem Industriegebiet in der Stadt. Die Abwässer gelangen dann über die Zugangskanäle in den Manzala-See.« Abu Gomaa verweist darauf, dass die Fischereibehörde in den vergangenen Jahren eine Reihe von Reinigungs- und Aufbereitungsmaßnahmen in den Kanälen durchgeführt hat. »Aber ich bin mir bewusst, dass das nicht ausreicht, um dem Fischsterben Einhalt zu gebieten.«
Heute benötigen die Züchter vier bis fünf statt zwei Fischen, um ein Kilogramm verkaufen zu können
Neben der Belastung durch ungeklärte Abwässer setzen auch die Folgen des Klimawandels den Fischbestand unter Druck. Bereits 2015 warnte eine Studie der Universität Tanta vor einem Anstieg der Wassertemperatur im Manzala-See. Die Hydrologen wiesen zudem auf Gefahren durch den steigenden Salzgehalt für die Produktivität der Fischfarmen hin.
Einem Bericht der Weltbank zufolge stiegen die Temperaturen in Ägypten zwischen 1901 und 2013 um etwa 0,1 Grad Celsius pro Jahrzehnt. Für die kommenden Jahre wird ein jährlicher Anstieg der Durchschnittstemperatur um drei Prozent prognostiziert. Fische können besonders empfindlich auf die durch den Klimawandel verursachten Temperaturschwankungen reagieren – noch mehr Fische im Manzala-See werden verenden.
Doch die Folgen für die Aquakulturen beschränken sich nicht auf tote Fische. »Wir erreichen nicht mehr die notwendige Fischgröße«, erklärt Hossam Wafdy. Er steht dem Zusammenschluss der Zuchtfarmer in Ezbet Al-Burj vor. »Die Dauer eines einzelnen Produktionszyklus in den Fischfarmen von Damietta ist das größte Problem«. Das Gebiet eigne sich nur für die Zucht von teuren Meeresfischen, die 20 bis 30 Monate brauchen, um zu wachsen. Während dieses Zeitraums entstünden den Fischzüchtern erhebliche Kosten.
Abu Gomaa zufolge setzen sich die sich zusammen aus den Ausgaben für Fischlarven und Futter, Treibstoff für die Anlagen, die den Wasserpegel regulieren, den Arbeitskosten und schließlich der Pacht, die in den letzten Jahren um das Vierfache gestiegen sei. »Und dann verlieren die Fischfarmer sowohl ihre Fische, als auch die Einnahmen, weil die Abwässer nicht gereinigt werden und es extrem heiß ist«, sagt der frühere Leiter der Fischereibehörde von Damietta.
Die Fischzüchter in Shata am Ostrand von Damietta berichten, dass ihre Zuchtfische mittlerweile nur noch ein Gewicht von durchschnittlich 150-200 Gramm auf die Waage bringen – früher seien sie auf 500 Gramm Lebendgewicht gewachsen. Heute benötigen die Züchter vier bis fünf statt zwei Fischen, um ein Kilogramm verkaufen zu können.
Laut den Zahlen der ägyptischen Statistikbehörde ging die Produktion der Fischfarmen in Damietta 2019 auf 256.667 Tonnen zurück, verglichen mit 264.599 Tonnen im Jahr davor – obwohl die Zahl der Farmen im selben Zeitraum von 42.679 auf 62.701 stieg, darunter sowohl Privatunternehmen als auch staatliche betriebene Aquakulturen.
Der Zufluss von Abwässern setzt die Fische Infektionen mit Bakterien, Viren und Pilzen aus. Die Schadstoffe können zudem Krebs verursachen. Das gilt insbesondere für Schwermetalle – sie stellen auch die größte Gefahr für den Menschen dar, weil selbst in gekochtem Fisch Rückstände verbleiben.
Die für diese Recherche gesammelten Fisch-, Wasser- und Bodenproben wurden im Nationalen Institut für Ozeanographie und Fischerei ausgewertet. Die Proben wurden in der Umgebung der Kläranlagen und dem Wasser der Fischfarmen entnommen. Die Ergebnisse zeigen, dass der prozentuale Anteil schädlicher Schwermetalle im Wasser, im Boden und in den Fischen die zulässigen Grenzwerte für den menschlichen Verzehr gemäß den Richtlinien der WHO und der EU überschreitet.
»Diese Fische leben in einer giftigen Umgebung«, sagt Khaled Al-Maslihi. Der Meeresbiologe leitet das Testlabor des Instituts und hat die Proben analysiert. In der hohen Belastung mit Eisen, Cadmium, Nickel, Mangan sowie Phosphaten sieht er eine erhebliche Gesundheitsgefahr. »Die Fische sind nicht zum Verzehr geeignet und sollten auch nicht in den Handel gelangen«, empfiehlt er.
Die Fischzüchter am Manzala-See haben kaum Möglichkeiten, auf alternative Frischwasserquellen auszuweichen. Ein Gesetz von 1983 verbietet etwa die Nutzung des Nils für Aquakulturen. So sind die Fischfarmen auf das Brackwasser aus der Lagune angewiesen, das über die Kanäle mit Abwässern verunreinigt wird. »Wer soll denn einem Handelspartner trauen, der seine Aquakultur-Betriebe dazu zwingt, Fische in Klärwasser hochzuziehen?«, fragt Mohamed Mabrouk. Der Agrarökonom von der Azhar-Universität weist darauf hin, dass die Schadstoffbelastung immer wieder zu Importverboten führt.
Auf entsprechende Warnungen aus Brüssel mussten nun auch Ägyptens Behörden reagieren. Ende November 2021 ordnete das staatliche Veterinäramt einen Exportstopp in die EU an, der solange gilt, bis die Fischexporte mit Gesundheitszertifikaten versehen sind, die den EU-Normen entsprechen. »Das betrifft vor allem die höherpreisigen Fischarten, die für den Export nach Europa bislang zugelassen waren, also Meerbrassen, Wolfsbarsche und Großkopfmeeräschen«, erklärt Maged Al-Badrawi, der die Fischereiabteilung der Handelskammer des Gouvernorats Damietta leitet. Fischarten minderer Qualität, wie Tilapia oder die Dünnlippige Meeräsche, seien dagegen vor allem für die Ausfuhr in andere arabische Länder vorgesehen.
Die Fischereibehörde besteht darauf, dass offene Verbindlichkeiten beglichen werden, bevor die Aquakulturen den Besitzer wechseln
Die Familie Fayala züchtet neben Shrimps vor allem Wolfsbarsche und andere höherpreisige Fische wie Zackenbarsche und Aale. Das macht die finanziellen Sorgen nicht kleiner, zumal die Regierung 2018 die Pachtverträge für 1.300 Fischfarmen in der Gegend auslaufen ließ. Für die Verlängerung mussten die Betreiber eine saftige Pachterhöhung um das Fünf- bis Sechsfache hinnehmen. Ihre Schulden gegenüber der staatlichen Fischereibehörde belaufen sich mittlerweile auf 130 Millionen Ägyptische Pfund, umgerechnet etwa 7,2 Millionen Euro.
»132.000 Pfund an Verbindlichkeiten gegenüber der Behörde fallen bei uns jährlich an«, rechnet Mukhtar Fayala vor. »Und ich habe keine Ahnung, wie wir diesen Betrag begleichen sollen.« Salah Abu Gomaa kritisiert die Entscheidung seiner Amtsnachfolger als »unangemessen und ungerecht« gegenüber den Fischzüchtern in Damietta. »95 Prozent von ihnen sind betroffen«, schätzt Khaled Ashour. Der Anwalt vertritt die die Fischzüchter gegenüber den Behörden. »Aufgrund der Wertminderung durch Umweltverschmutzung sowie hohe Diesel- und Strompreise entspricht die Pachthöhe nicht dem Einkommen der Betreiber oder dem materiellen Ertrag, den das Land erbringen kann«, argumentiert der Jurist.
»Die Fischzüchter haben diese Gewässer mit ihrer Arbeit über Jahrzehnte hinweg überhaupt erst nutzbar für Aquakulturen gemacht«, sagt Ashour, der den Sinn der massiven Pachterhöhung nicht nachvollziehen kann. »Mieterhöhungen sind etwas ganz Normales, aber sie führen in diesem Fall doch nur dazu, dass die Menschen noch weniger Mittel haben, um ihren Beruf fortzuführen.«
Viele Fischzüchter haben inzwischen den Betrieb eingestellt. Doch die Fischereibehörde besteht darauf, dass offene Verbindlichkeiten beglichen werden, bevor die Aquakulturen den Besitzer wechseln. Ansonsten drohen Strafen, im Zweifel auch Erzwingungshaft.
Mohamed Naim ist einer dieser Pächter. Er gab die Fischzuchtanlage in Shata, die er von seinem Vater geerbt hatte, im August 2021 auf, nachdem er Schulden in Höhe von 250.000 Pfund (umgerechnet etwa 14.000 Euro) beglichen hatte. »Doch ich bekam das Geld nur zusammen, weil meine Mutter und meine Schwester ihren Goldschmuck veräußerten – damit niemand von uns ins Gefängnis muss«, berichtet er. Gold gehört zu den wichtigsten Rücklagen für ägyptische Familien und ist eigentlich für Mitgift und Aussteuer vorgesehen.
Abwässer aus den nahen Fabriken strömen in den See, dazu liegt ein prägnanter Chlorgeruch in der Luft
Maged Al-Badrawi sieht die Ursache für den Niedergang der Fischzuchtbetriebe nicht allein in hohen Pachten und übermäßiger Schadstoffbelastung. »Die Fischfarmen in Shata sind die saubersten im ganzen Land. Die Verschmutzung beschränkt sich auf drei, vier Klärwerke – das ist viel weniger als in anderen Gouvernoraten«, argumentiert der Vertreter der Handelskammer. Er gibt vielmehr den Fischfarmern selbst eine Mitschuld. »Wenn gierige Züchter fünf Tonnen Fisch in einem Becken hochziehen, dass nur für eine Tonne gedacht ist, dann verenden die Fische eben.«
Für die Gebrüder Fayala müssen solche Worte wie Hohn klingen, als sie an diesem schwülen Septembermorgen die leblosen Fischkörper auflesen. Knapp 25 Kilometer weiter östlich sieht die Lage kaum besser aus. Vor den Toren der jungen Metropole Port Said leben viele Menschen im heutigen Vorort Al-Qabouti traditionell ebenso vom Fischfang. Im Gegensatz zum westlichen Teil des Manzala-Sees mit seinen dicht gedrängten Aquakulturen fahren die Fischer mit ihren flachen Booten aufs Wasser, um ihre Netze auszuwerfen.
Abbas Zakaria denkt gerne an bessere Zeiten zurück. »Bis zu 100 Kilogramm gingen mir pro Tag ins Netz«, erzählt der 50-jährige Fischer, den es seit seinem 15. Lebensjahr auf den Manzala-See zieht. »Inzwischen muss ich mir andere Fanggründe suchen – die sind zwar auch verseucht, aber zumindest nicht so stark wie der Manzala-See.«
Täglich bietet sich Abbas Zakaria derselbe Anblick: Abwässer aus den nahen Fabriken strömen in den See, dazu liegt ein prägnanter Chlorgeruch in der Luft. Wissenschaftliche Untersuchungen stützen solche Beobachtungen. Für eine 2018 veröffentlichte Studie entnahmen die Agrarchemiker Nabil Azzaz und Mokhtar Beheary Wasser- und Sedimentproben aus der Fahrrinne des Suez-Kanals sowie den Gewässern am Industriegebiet in Al-Qabouti.
Sie kamen zu dem Schluss, dass die höchste durchschnittliche Schwermetallkonzentration in den Wasserproben im Sommer auftraten – und dass die Fabriken in der Industriezone südlich von Port Said für die Verschlechterung der Wasserwerte verantwortlich sind. Die Auswertung ergab außerdem, dass die Schwermetalle in den Gewässern rund um Al-Qabouti biologisch nicht abbaubar sind, sich leicht in lebenden Organismen anreichern – und ihre Konzentration aufgrund von Industrieabfällen stark zugenommen hat.
Im Juli 2019 reichte der Abgeordnete Khaled Abu Talib einen Antrag zur Auskunft über das Werk des indischen Chemiekonzerns TCI Sanmar in der Industriezone von Port Said ein. Zusammen mit fünf anderen Betrieben sei die Fabrik für die Ableitung von täglich 1,5 Millionen Kubikmetern nichtaufbereiteter Industrieabwässer in den Manzala-See verantwortlich.
Sein Parlamentskollege Hassan Ammar richtete dieselbe Anfrage an Premier Mostafa Madbouly und Umweltministerin Yasmine Fouad. Ammar wies neben den Umweltschäden auf die Gesundheitsrisiken für Anwohner und Angestellte in Al-Qabouti hin. Demnach häuften sich Erstickungsanfälle unter den Fabrikarbeitern, weil Arbeitsschutz- und Sicherheitsstandards nicht eingehalten würden.
»Fast 40.000 Familien sind direkt oder indirekt betroffen «, sagt Ammar. »Ungeklärte Industrieabwässer gelangen in den Wasserweg, der den Manzala-See mit dem Suez-Kanal verbindet – im Ergebnis verenden die Fische und den Fischern wird die Lebensgrundlage genommen.« Den Rückgang von Fischbestand und Artenvielfalt beobachtet auch Fischer Abbas Zakaria. »Viele Spezies sind hier nicht mehr anzutreffen, etwa bestimmte Meeräschen, Zackenbarsche, Schollen sowie einige Krabbenarten.«
2018 reichte Ahmed Muhammad Amer Klage gegen das Werk ein – und konnte einen ersten Etappenerfolg verzeichnen
Der indische Konzern TCI Sanmar betreibt in Port Said eine der größten Chemiefabriken Ägyptens. Die Investitionen in das Werk belaufen sich seit dem Bau 2002 auf über 1,2 Milliarden US-Dollar. Die Fabrik stellt vor allem Natriumhydroxid, meist in Form von Natronlauge, sowie das Polymer PVC her. Außerdem wird hier Chlor zur Wasserreinigung produziert. Unter den Abfallstoffen, die in den Manzala-See abgeleitet werden, finden sich etwa Ethylen und Ethanoldichlorid.
2018 reichte Ahmed Muhammad Amer Klage gegen das Werk ein – und konnte einen ersten Etappenerfolg verzeichnen. Im November desselben Jahres verfügte ein Gericht die Überprüfung auf Verletzungen gesetzlicher Umwelt- und Gesundheitsschutzbestimmungen. »Das ist die erste Klage dieser Art«, sagt der Anwalt aus Port Said und gibt sich optimistisch. »Der Fall steht mittlerweile kurz vor dem Abschluss zu unseren Gunsten«, ist er sich mit Blick auf die Gutachten des eingesetzten Sachverständigen sicher. Allerdings verzögere sich der Urteilsspruch, weil noch nicht alle Unterlagen übermittelt worden wären.
Derweil weichen Abbas Zakaria und seinen Berufsgenossen notgedrungen in andere Ecken aus. Etwa nach Ashtum Al-Gamil, am nordöstlichen Zipfel des Manzala-Sees. Wasser-, Sediment- und Fischproben, die im Zuge der Recherche für diesen Abschnitt des Gewässers entnommen wurden, belegen, dass sowohl in Al-Qabouti, als auch in Ashtum Al-Gamil die gesetzlichen Grenzwerte überschritten wurden. Allerdings liegt die Schadstoffbelastung in Ashtum Al-Jamil etwas niedriger. »Der Grund liegt im Anschluss an das Mittelmeer, dadurch werden die Gewässer zu einem gewissen Grad erneuert«, erklärt Meeresbiologe Khaled El-Moslehi, der die Proben ausgewertet hat.
Al-Tamimi Abu Al-Magd fischt seit sechzig Jahren in Ashtum Al-Gamil – mehr als drei Viertel seines Lebens. Er hat die glorreichen Zeiten und den Niedergang des Fischfangs im Manzala-See erlebt. Sein Tag beginnt um 2 Uhr morgens. Dann fährt er auf den See hinaus, anschließend verkauft er seinen Fang an Zwischenhändler. Um 8 Uhr morgens macht er sich dann daran, die Netze zu flicken. Am Donnerstagmorgen endet seine Arbeitswoche. Dann kehrt er zu seiner Familie heim und stattet seinen Freunden einen Besuch ab – Weggefährten, die wegen der gesundheitlichen Schäden durch die Schadstoffbelastung den Beruf an den Nagel hängen mussten.
So wie Malik Khader, der fast 20 Jahre zum Fischen auf den Manzala-See fuhr. Obwohl er erst 45 Jahre alt ist, musste er sich aufgrund von Nierenschäden zur Ruhe setzen. Zweimal pro Woche fährt er nun zur Dialyse. »Mir ergeht es wie meinem Onkel, der war auch Fischer und starb 2018 an Nierenversagen «, erzählt er. Al-Tamimi Abu Al-Magd und Abbas Zakaria sagen, dass ihnen beiden jeweils mindestens zehn Fälle von Nierenschäden unter Berufskollegen bekannt seien.
Bereits Ende der 1990er Jahre belegte eine Studie, dass die Abwässer aus den Industrieanlagen am Manzala-See eine direkte Ursache für erhöhte Konzentrationen von Blei, Cadmium und Quecksilber sind. Diese Schadstoffe sind wiederum eine der Hauptursachen für Leber-, Herz-Kreislauf-, Atemwegs-, Verdauungs-, Harnwegs-, Muskel- und Hauterkrankungen unter den Fischern. Für die Studie waren 100 Fischer, die am Manzala-See arbeiteten, und 100 Berufskollegen aus anderen Regionen klinisch untersucht worden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Fischer am Manzala-See weitaus mehr Probleme mit dem Herzen, den Blutgefäßen, dem Verdauungsapparat und den Harnwegen aufwiesen.
»Zudem drohen den Fischern Infektionen durch den ständigen Kontakt mit industriellen, sanitären oder landwirtschaftlichen Abwässern«, ergänzt Eman Abdel Moneim. Sie leitet die toxikologische Abteilung der Fakultät für Medizin an der Universität Kairo und ist mit den Krankheitsbildern infolge der Umweltbelastung vertraut. »Durch verunreinigtes Wasser werden Cholera, Giardiasis und Typhus übertragen. Die Verdunstung von Abwässern erhöht außerdem das Risiko einer Lungenentzündung«, erklärt die Ärztin.
Al-Tamimi Abu Al-Magd verabschiedet sich von seinen Freunden. In der kommenden Woche wird er wieder rausfahren. »Ich hänge an diesem See«, erzählt er, auch wenn die Erträge schrumpfen. »Oft bringe ich nur ein paar Ägyptische Pfund mit, das reicht dann für ein, zwei Tage.« Abbas Zakaria hingegen sieht keine Zukunft mehr für sich in dem Beruf. »Ich würde gern Arbeit weit weg vom See finden – ich möchte nicht so enden wie viele meiner Kollegen.«
Eman Mounir lebt und arbeitet in Ägypten als freie Investigativ-Journalistin.