Lesezeit: 8 Minuten
Indien zwischen China, Russland und dem Westen

Modis Drahtseilakt in Moskau

Analyse
von Leo Wigger
Indien zwischen China, Russland und dem Westen
Außenministerium Indien

Russland und Indien stellen ihre engen Beziehungen zu Schau. Dabei ist die Lage komplex. Im Schatten des Ukraine-Kriegs und einer drohenden Eskalation mit China versucht Indien, seine eigenständige Außenpolitik aufrechtzuerhalten.

Während vergangene Woche das westliche Verteidigungsbündnis NATO zum 75-jährigen Jubiläumsgipfel in Washington zusammenkam und schwere russische Luftangriffe in der ukrainischen Hauptstadt Kiew unter anderem ein Kinderkrankenhaus zerstörten, traf in Moskau der frisch wiedergewählte indische Ministerpräsident Narendra Modi zum vielerwarteten Staatsbesuch ein. 17-mal haben sich Modi und Russlands Präsident Wladimir Putin schon getroffen. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine war es aber der erste Besuch Modis in Moskau. Umso inniger die öffentlich zelebrierte Umarmung der beiden Politiker.

 
Neben einem fünfstündigen Galadinner und einer Pferdeshow kam auch die Lage in der Ukraine zur Sprache. Modi bekräftigte seine Forderung nach einer friedlichen Beilegung des Konfliktes. Sonst standen vor allem wirtschaftliche Themen auf der Agenda. Ganze neun sektorübergreifende Absichtserklärungen unterzeichneten die Delegationen, unter anderem zu indischen Investitionsprojekten in Russlands Fernem Osten sowie Kooperationen im Bereich Energiewende, Handel in nationalen Währungen sowie dem Ausbau von Handelswegen in der Arktis, dem Nord-Süd-Korridor (INSTC), der beide Länder über Iran und den Südkaukasus verbindet, und dem Chennai-Wladiwostok-Korridor. Auf 100 Milliarden US-Dollar soll das Handelsvolumen bis Ende des Jahres steigen.

 

Die Importe aus Russland übersteigen die Exporte gen Norden mittlerweile fast um das Zehnfache

 

Rund 65 Milliarden US-Dollar beträgt das das bilaterale Handelsvolumen im Finanzjahr 2024, und damit rund 5,5-mal so viel wie vor der Pandemie. Billige Ölimporte aus Russland machen den Großteil des Handelsvolumens aus. Die indische Wirtschaft bezieht dazu rund 70 Prozent ihrer Düngemittel aus Russland. Westlichen Partnern ist das ein Dorn im Auge. Indien hält dagegen, dass es schon aus nationalem Eigeninteresse das günstigste Öl auf dem Markt kaufen müsse. Zudem importieren auch westliche Länder immer mehr weiterverarbeite Ölprodukte wie Diesel aus Indien. Dass das Rohöl dafür aus Russland stammt, ist nicht mal mehr ein offenes Geheimnis. Indien hat derweil mit einem anderen Problem zu kämpfen: Die Handelsbilanz mit Moskau ist für Delhi tief ins Negative gerutscht, die Importe aus Russland übersteigen die Exporte gen Norden mittlerweile fast um das Zehnfache.

 

Auf russischer Seite dürfte der Besuch des Ministerpräsidenten der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt mit Blick auf den NATO-Gipfel als PR-Erfolg verbucht worden sein. Historisch sind die Beziehungen zu Moskau eng, insbesondere auch im Militärsektor. Das geht auf eine enge Kooperation zu Zeiten des Kalten Krieges zurück, als Erzrivale Pakistan partnerschaftliche Beziehungen zu den USA pflegte, während Indien besonders in den 1960er- und 1970er-Jahren massive Militärhilfen aus der Sowjetunion bezog. Dass die USA im Jahr 1971 unter Präsident Richard Nixon Pakistan im Krieg mit Indien unterstützte hat man in Delhi bis heute nicht vergessen.

 

Im Jahr 2002 vereinbarten Russland und Indien eine strategische Partnerschaft. Die Indisch-Russische Regierungskommission (IRIGC) ist einer der größten und umfassendsten Regierungsmechanismen, die Indien mit einem anderen Land auf internationaler Ebene unterhält. Im November 2022 lobte der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar Russland als »außergewöhnlich beständigen« und »bewährten« Partner.

 

Längst hat China Pakistan als dominierendes Sicherheitsthema in Delhi abgelöst

 

Aus indischer Sicht spiegelt Modis Treffen in Moskau vor allem ein geoökonomisches Dilemma wider. Die strategischen Beziehungen zum Westen sind zwar immer enger geworden. Doch in Folge des Ukraine-Kriegs möchte Indien unbedingt verhindern, in geopolitische Allianzen hineingezogen zu werden. Das Ziel stattdessen: eine selbstbewusste, eigenständige Außenpolitik, die sich vor allem an indischen Eigeninteressen ausrichtet und nicht an westlichen Befindlichkeiten – daran konnte auch der Ukraine-Krieg und ein Besuch des US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsbeauftragten Jake Sullivan im Juni in Delhi nichts ändern.

 

Aus Diplomatenkreisen heißt es, Sullivan habe versucht, Modis Moskaureise mit Blick auf den NATO-Gipfel auf ein weniger symbolträchtiges Datum zu verschieben, Indien habe jedoch mit Verweis auf die eigenständige Außenpolitik abgewunken. Ein möglicher weiterer Grund: Den seit langem herausgezögerten Besuch in Moskau vor die erwartete Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten zu legen und somit die immer engeren indisch-amerikanischen Beziehungen unter einer neuen Administration nicht von Anfang negativ zu belasten.

 

Über allem schwebt dabei der Faktor China. Die indisch-chinesischen Beziehungen haben sich zuletzt stark verschlechtert. Beijing erkennt bis heute die Landgrenze entlang der sogenannte McMahon-Linie zwischen beiden Himalaya-Anrainern nicht an und erhebt unter anderem Anspruch auf den Bundesstaat Arunachal Pradesh. Bei einem Zwischenfall an der »Line of Control« in Ladakh starben im Jahr 2020 mindestens 20 indische Soldaten. Längst hat China Pakistan als dominierendes Sicherheitsthema in Delhi abgelöst. Auch in der maritimen Sphäre fühlt sich Indien durch expansive chinesische Hafenprojekte in der eigenen Nachbarschaft von der Bucht von Bengalen über Sri Lanka bis ans Arabische Meer zunehmend an den Rand gedrängt.

 

Moskau häuft immer größere Rupien-Vorräte an, die es international kaum los wird

 

Dass ausgerechnet Russland in Folge des Ukraine-Kriegs enger an China gerückt ist, welches zusammen mit Iran und Nordkorea die russische Kriegswirtschaft am Laufen hält, bereitet in Delhi angesichts der eigenen, immer spürbareren Gefährdung durch den Nachbarn zunehmend Kopfschmerzen. Auch weil die Zuspitzung der Spannungen mit Beijing Indien längst zu einem gefragten Partner des Westens gemacht hat. In unterschiedlichen Formaten kooperiert Indien eng mit den USA, Japan, Australien, Frankreich, Großbritannien, aber auch Deutschland.

 

Und so wagt Delhi einen schwierigen Drahtseilakt: Russland mit verstärktem Handelsbeziehungen möglichst viel Spielraum gegenüber China zu verschaffen, ohne dabei die bilaterale Handelsbilanz noch weiter ins Negative abrutschen zu lassen, und gleichzeitig die Beziehungen zu Russlands und Chinas Rivalen im Westen weiter auszubauen.

 

Darauf deuten neben der Regelung zum Handel in nationalen Währungen – Moskau häuft immer größere Rupien-Vorräte an, die es international kaum los wird, ein vereinfachter Mechanismus zum Handel in nationalen Währungen soll dem nun Abhilfe schaffen – auch die anderen Abmachungen in Folge des Modi-Putin-Gipfels: die Stärkung von Transportkorridoren wie dem INSTC, der Ausbau der Kooperation in der Arktis, sowie der Förderung indischer Investitionen im russischen Fernen Osten, unweit der chinesischen Grenze.

 

Indien ist bei der Munitionsproduktion auf absehbare Zeit auf russische Kooperationsbereitschaft angewiesen

 

Vor einem besonders heiklen Dilemma steht Indien im Rüstungssektor, welcher noch immer stark von russischer Technologie, beziehungsweise von deren Interoperabilität abhängig ist. Trotz einer Diversifizierung und Nationalisierung der Verteidigungspolitik stammen noch immer rund 60 Prozent der indischen Waffenbestände aus russischer beziehungsweise sowjetischer Produktion. Um die eigene Verteidigungsfähigkeit gegenüber China und Pakistan zu gewährleisten, ist Indien beispielsweise bei der Munitionsproduktion auf absehbare Zeit auf russische Kooperationsbereitschaft angewiesen.

 

Ähnlich verhält es sich mit Plattformen wie dem Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder BRICS, welche China und Russland immer deutlicher in ein anti-westliche Bündnisse umwandeln wollen und in dem Indien zunehmend Gefahr läuft strategisch an den Rand gedrängt zu werden. Der anstehende BRICS-Gipfel im Oktober findet im russischen Kasan statt und könnte den Trend verfestigen.

 

Unter umgekehrten Vorzeichen spiegelt das die Entwicklung in Plattformen wie dem QUAD, einem indopazifischen Format Indiens mit den USA, Australien und Japan. Dort verwehrt sich Indien dagegen, den bisher losen, aber in Hinblick auf Chinas immer aggressivere Politik im Indopazifik zunehmend bedeutsamen Sicherheitsdialog perspektivisch in ein westlich-dominiertes Bündnis umzubauen. Zwar kann sich Indien als begehrter Partner, aufstrebende Wirtschaftsmacht und das bevölkerungsreichste Land der Welt den geopolitischen Drahtseilakt leisten.

 

Ein weiterer Irritationsfaktor: Bundeskanzler Olaf Scholz jüngster Besuch in Beijing

 

Aber: Das Ziel der strategischen Autonomie wird in Zeiten geopolitischer Frontenbildung zunehmend zur Quadratur des Kreises. Ein Ausweg: eine engere Kooperation mit der EU. Theoretisch wollen das beide Seiten. Die Verhandlungen zu einem langerwarteten Freihandelsabkommen stocken aber seit Jahren. Erst diese Woche warnte der EU-Botschafter Hervé Delphin vor einer schwierigen Verhandlungsphase und forderte hochaufgehangene politische und strategische Flankierung. Der Schlüssel dürfte dabei den deutsch-indischen Beziehungen zukommen.

 

Ende Oktober findet in Delhi die Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft (APK) statt. Einer der Konferenzleiter: Vizekanzler Robert Habeck. Ein Termin mit hohem Symbolcharakter, der zusammen mit den geplanten deutsch-indischen Regierungskonsultationen durchaus zum langersehnten Durchbruch führen könnte.

 

Bisher herrscht auf beiden Seiten Skepsis. Während sich nicht wenige im politischen Berlin weiterhin über Indiens Russlandpolitik ärgern, herrscht bei Gesprächspartnern in Delhi durchaus noch Unklarheit darüber, wie ernst es der Ampelregierung mit dem Kurs des De-Risking in Bezug auf China wirklich ist. Ein weiterer Irritationsfaktor: Bundeskanzler Olaf Scholz jüngster Besuch in Beijing. Geopolitische Balanceakte: Man kennt sie nicht nur aus Delhi.

Von: 
Leo Wigger

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.