Wirtschaftssanktionen, gesperrte Konten und akuter Mangel an Bargeld zwingen Afghanistans Bevölkerung, neue Wege zu gehen. Über findige Krypto-Pioniere und Hilfslieferungen per Mausklick.
Hamed* betreibt in Kabul einen Technikladen. »Ein Teil meines Vermögens wurde eingefroren, ich habe keinen Zugriff darauf. Pro Woche kann ich lediglich 100 bis 200 US-Dollar abheben«, klagt er. »Warum muss ich für mein eigenes Geld Schlange stehen?« Wer in Kabul an Bargeld gelangen will, muss wie Hamed lange Wartezeiten hinnehmen und steht selbst dann womöglich mit leeren Händen da. In den meisten Bankautomaten in der afghanischen Hauptstadt sind die Scheine aufgebraucht.
Das Vertrauen in die Banken ist auf dem Tiefpunkt. Seit Beginn der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Die Regierung hat massive Liquiditätsprobleme, US-Präsident Biden ließ umgerechnet sieben Milliarden Euro der Staatsreserven einfrieren, die die Afghanische Zentralbank in den USA geparkt hat. Das Bruttoinlandsprodukt ist um 45 Prozent gesunken, während Wirtschaftssanktionen Hilfszahlungen in das Land fast unmöglich machen.
Da Afghanistan aus dem internationalen Finanztransaktionssystem SWIFT ausgeschlossen wurde, sind Überweisungen aus dem In- und Ausland nicht mehr ohne Weiteres möglich. Die Kontrollbehörde des US-Finanzministeriums (OFAC) kann zwar Ausnahmegenehmigungen erteilen, gewährt diese jedoch selten. Geld kann weder rein noch raus. Afghanische Banken sind handlungsunfähig – und das wirkt sich auf die Bürger aus.
Genau hier schaffen Kryptowährungen Abhilfe: Sie agieren dezentral auf der Blockchain, sind unabhängig von Banken – und deshalb auch unberührt von internationalen Wirtschaftssanktionen. »Ich traue den Banken und der Regierung nicht«, berichtet Hamed, der sich bereits vor der Machtübernahme mit Kryptowährungen beschäftigt hat. »Wir nutzen sie bei der Warenbeschaffung, bedienen aber auch immer mehr Kunden, die so bezahlen wollen.« Krypto kehrt so zu seinem ursprünglichen Zweck zurück: ein System entkoppelt von politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit, Warengeld statt Geldanlage.
Dennoch ist der Anteil von Geschäften und Dienstleistungen, die in Afghanistan mit Krypto getätigt werden können, verschwindend gering. Das Land gilt nach wie vor als eine »Cash Economy«, und die fußt neben der Landeswährung Afghani auf Bargeldtransfers in US-Dollar. Doch genau dieses Bargeld geht aus.
Die Zentralbank tauscht jährlich Geld im Wert von drei bis vier Milliarden Afghani mit neuen Scheinen aus
US-Dollar gelangen seit den Sanktionen nur schwer ins Land, und Afghani-Scheine »zerbröseln, wie auch die Wirtschaft, in Stücke«, berichtet die Los Angeles Times. Die meisten Banknoten im Umlauf seien völlig zerfleddert und werden oft notdürftig mit Tesafilm zusammengehalten. Die Zentralbank tauscht jährlich Geld im Wert von drei bis vier Milliarden Afghani mit neuen Scheinen aus.
Diese Scheine stammen allerdings aus Polen: Die dortige Nationaldruckerei PWPW ließ im Auftrag der Vorgängerregierung Banknoten im Wert von zehn Milliarden Afghani drucken. Die sollten bereits im September 2021 nach Afghanistan geliefert werden. Durch die Sanktionen ist das nun nicht mehr möglich.
Wer in dieser Lage eine bargeldlose Alternative anbietet, findet schnell Gehör. So auch Sanzar Kakar, dessen Bezahl-App »HesabPay« 2019 an den Start ging. Der afghanischstämmige Geschäftsmann hat in den USA und Großbritannien studiert und arbeitet seit 2009 in Afghanistan. Wer mit HesabPay (von hesab auf Farsi und Paschto, »zählen«) ein Konto erstellt hat, kann sich von dort sein Gehalt auszahlen lassen. »Wir starteten HesabPay für Lohnzahlungen. Doch mit der Machtübernahme durch die Taliban mussten wir schnell reagieren und haben so unseren Fokus auf Transaktionen innerhalb des Landes gelegt«, erklärt Kakar. »Deswegen basiert das Bezahlsystem seit November 2021 auf der Blockchain, ist also unabhängig von SWIFT und vom traditionellen Bankensystem.«
Der an den US-Dollar gekoppelte Tether ist deutlich wertstabiler als die offizielle Währung, der Afghani
Nach drei Monaten hatten bereits rund 400.000 Nutzer HesabPay installiert, um Geld zu empfangen, zu verschicken sowie für Waren und Dienstleistungen zu bezahlen – insgesamt wurden vier Millionen Transaktionen in diesem Zeitraum registriert. »Jedes Konto hat eine eigene Adresse, mit der Nutzer Geld aus aller Welt empfangen und an jeden versenden können.«
Diese Adresse kann auch für Krypto genutzt werden, zumeist für Stablecoins. So werden Kryptowährungen bezeichnet, die an einen realen Vermögenswert gekoppelt sind, beispielsweise eine Währung. Dadurch wird die Instabilität der Coins – einer der gängigsten Kritikpunkte – in Grenzen gehalten.
Das steigert die Attraktivität von Stablecoins gerade in Ländern wie Afghanistan, wo der an den US-Dollar gekoppelte Tether sogar deutlich wertstabiler ist als die offizielle Währung, der Afghani. Tether ist die am meisten genutzte Kryptowährung in Afghanistan und dient, im Gegenzug zu Bitcoin oder Ethereum, Nutzern vorrangig als alltagstaugliches Finanzmittel. Der digitale Geldverkehr funktioniert jedoch nicht überall reibungslos.
»Das klappt natürlich am besten in urbanen Gegenden, in denen viele Menschen Smartphones besitzen und mit Apps umgehen können«, erklärt Sanzar Kakar. Mit einem Durchschnittsalter von 19,5 Jahren zählt die afghanische Bevölkerung zu einer der jüngsten weltweit. Gleichzeitig leben laut Weltbank etwa drei Viertel der Bevölkerung in ländlichen Gebieten, wo es in dem vielerorts bergigen Land oft kaum Empfang gibt und der Zugang zum Internet sich somit schwierig gestaltet.
Zudem haben im Sommer 2022 schwere Erdbeben und Überschwemmungen Teile des Landes vom Netz abgeschnitten. Doch HesabPay funktioniert auch per SMS. »Wer einen Kauf abschließen möchte, verschickt eine Kurznachricht an uns und bekommt daraufhin ein Kennwort, mit dem dann die Transaktion abgeschlossen wird«, erklärt Sanzar Kakar. Bislang kann man so in über 4.100 Geschäften in Afghanistan mit seiner Anwendung bezahlen. Auch in Hameds Technikladen. Damit diese Zahl steigt, muss die Nachfrage anziehen.
Sollte sich dieses System bewähren, könnte Afghanistan gar Vorreiter werden
»Es ist wie bei der Henne und dem Ei: Wenn mehr Nutzer auf diese Weise bezahlen wollen, sind mehr Geschäfte dazu bereit, die Zahlweise zu akzeptieren. Und damit die Zahl der Nutzer steigt, braucht es eben auch mehr Akzeptanz«, meint Sanzar. Sollte sich dieses System bewähren, könnte Afghanistan gar Vorreiter werden. »Wenn wir das in Afghanistan schaffen, warum dann nicht überall auf der Welt?«
Trotzdem bleibt die Tatsache, dass die afghanische Wirtschaft am Boden liegt. Neben massiven Einschränkungen bei Frauenrechten, Bewegungs- und Pressefreiheit erlebt das Land eine massive humanitäre Krise. Laut den Vereinten Nationen sind über 90 Prozent der Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen – es droht eine Hungersnot, die gerade in den Wintermonaten verheerende Folgen haben könnte. Auch deswegen müssen dringend Gelder in das Land fließen, dessen Haushalt sich schon vor der Machtübernahme der Taliban zu etwa 80 Prozent aus Mitteln ausländischer Geldgeber speiste. Doch auch Hilfszahlungen sind von den Sanktionen betroffen.
Ein im Frühjahr 2022 erschienener Bericht der norwegischen Flüchtlingshilfe analysierte sämtliche Zahlungsweisen, die Organisationen zur Verfügung stehen, und mahnte: »Keiner der Finanzierungskanäle ist bisher in der Lage, NGO-Gelder nachhaltig und sicher nach Afghanistan oder innerhalb des Landes zu transferieren, auch nicht in der erforderlichen Menge und Größenordnung.«
Zwar gebe es Sanktionsausnahmen für internationale Hilfsorganisationen, in der Praxis tun sich Banken dennoch schwer mit Überweisungen in das Land. Es kursieren sogar Berichte über Transaktionen durch ausländische Organisationen, die nicht in das Land fließen, sondern nur das Wort »Afghanistan« im Namen tragen.
Selbst die UN ist auf ungewöhnliche Wege umgestiegen und hat in den letzten Monaten mehrere Hundert Millionen US-Dollar Bargeld in das Land eingeflogen. Das Geld wird in der Afghan International Bank (AIB) gelagert und sollte eigentlich durch die Afghanische Zentralbank in Afghanis umgetauscht werden. Doch die ist dazu aus genannten Gründen nicht in der Lage. Doch auch hier werden Lösungen gefunden, wieder von den Menschen im Land selbst – basierend auf Krypto.
»Wie können wir Technologie einsetzen, um Afghanistan zu helfen?«
»Unser Fokus war ganz klar: Wie können wir Technologie einsetzen, um Afghanistan zu helfen?«, erzählt Mohammad Nasir, COO bei Aseel. Eigentlich wurde Aseel als afghanisches Gegenstück zu Etsy oder Amazon konzipiert, bei dem handgemachte, lokal produzierte Waren wie Schmuck, Textilien und Möbel über eine Online-Plattform in die ganze Welt verkauft werden.
Doch das änderte sich schlagartig im August 2021: »Wir mussten etwas tun, um den Menschen zu helfen. Also setzten wir uns in Kabul zusammen.« Mohammad und den 45 anderen Mitarbeitern von Aseel wurde bewusst: »Wir haben die Lieferketten, die Zahlungskanäle und die digitale Infrastruktur, die genauso dafür genutzt werden könnten, Spendengelder zu sammeln und Hilfsgüter an Bedürftige zu leiten.«
Es folgten Spendenaufrufe auf Instagram, Twitter und anderen sozialen Netzwerken – gerichtet an die afghanische Diaspora, die so dank Aseel bereits über 300.000 Menschen in 29 der 34 Provinzen helfen konnte. Vor Ort werden diese Aktionen durch ein Netzwerk von freiwilligen Atalan (Paschto für »Helden«) unterstützt. Alles Maßnahmen vorbei an den Sanktionen, über Krypto.
Wer bei Aseel spendet, hat die Wahl, mit einer von 16 verschiedenen Kryptowährungen, per Banküberweisung, PayPal oder Kreditkarte zu bezahlen. »Die Spenden landen nicht direkt in Afghanistan, sondern auf einem Konto in den USA. Von dort aus konvertieren wir sie zu Tether Coins. Die geben wir dann an unser Netzwerk von Händlern hier in Afghanistan, die uns dafür etwa Lebensmittel oder Babyprodukte zur Verfügung stellen«, erklärt Mohammad Nasir.
Viele von ihnen sind im Mandawi-Basar in Kabul angesiedelt und konnten wegen der Sanktionen nicht mehr für Waren wie Reis, Mehl und Öl bezahlen, die sie sonst aus benachbarten Ländern wie Usbekistan und Tadschikistan importierten. »Also boten wir ihnen Tether an, womit sie ihre Importe finanzieren konnten – im Gegenzug für Nahrungspakete, die wir an Bedürftige ausgeben.« Auch HesabPay hat Großes vor: »Wir arbeiten gerade mit internationalen Hilfsorganisationen an Wegen, Spenden sicher in das Land und an Hilfsbedürftige zu senden«, erzählt Sanzar Kakar. Derzeit laufen mehrere Pilotprojekte, bei denen über 10.000 Haushalte mit bargeldloser humanitärer Hilfe unterstützt werden sollen.
Beim Verbot durch die Taliban geht es – genau wie bei den Themen Frauen, Presse und Bildung – um Kontrolle
Doch die Taliban möchten derartigen Zahlungen Einhalt gebieten. Erst im August 2022 haben sie Kryptowährungen offiziell verboten und kurz darauf 16 Krypto- Shops in der Stadt Herat schließen lassen. Grund sei »die Anhäufung von Betrugsfällen«, die mit digitalen Währungen einhergingen. Im Juni hatten die Taliban den Handel mit ausländischen Währungen (Forex) verboten, da dieser angeblich gegen islamische Gesetze verstoße. Beim Verbot durch die Taliban geht es – genau wie bei den Themen Frauen, Presse und Bildung – aber um etwas anderes: Kontrolle.
In der Praxis werden sich die Verbote jedoch kaum umsetzen lassen können. Ändern tut sich damit wenig an den Bestrebungen von HesabPay und Aseel: »Deswegen sprechen wir nicht von Krypto, sondern einer digitalen Geldbörse«, entgegnet Sanzar Kakar, der nach eigenen Angaben noch keine Einschränkungen seitens der Taliban erlebt hat.
Afghanistan liegt bereits heute auf Platz 20 von 154 des »Chainalysis 2021 Global Crypto Adoption Index«. Obwohl der nach Pro-Kopf-Kaufkraft gewichtet ist, was ärmere Länder wie Afghanistan bevorteilt, zeigt er klar: Das Interesse an Kryptowährungen steigt. »Sie sind sicherer, verlässlicher, transparent und nachvollziehbar – Lichtjahre entfernt von Bargeld«, findet Sanzar Kakar. »Sie helfen der afghanischen Bevölkerung, dank Krypto sind unsere Vermögen sicher«, ist auch Hamed überzeugt. Mohammad Nasir sieht die Vorteile, gesteht aber ein, »dass es Teil unserer Kultur ist, Bargeld zu nutzen. Nicht alle trauen der neuen Technologie.« Allerdings sei auch vom Vertrauen in die Banken nicht mehr viel übrig.
Auf die Frage, was passieren würde, wenn alle Sanktionen über Nacht aufgehoben würden, sagt Mohammad Nasir: »Banken würden wieder funktionieren, Geld würde gedruckt werden und die Menschen würden wieder mit Bargeld handeln.«
Hält das Pul-e-Barqi (Farsi für »elektronisches Geld«) in großem Stil in Afghanistan Einzug? Fakt ist: Das verlorene Vertrauen in Banken wird nicht ohne Folgen bleiben. In der derzeitigen Lage führt an Kryptowährungen kein Weg vorbei.
* Name geändert