Im Nordosten Syriens bahnt sich eine neue Katastrophe an. Provisorische Ölpumpen verseuchen die einstige Kornkammer des Nahen Ostens. Ein fataler Kreislauf setzt sich in Gang.
Zehn Patienten behandelt die Krebsklinik im nordsyrischen Qamischli täglich, berichtet Blenda Abdul-Rahman. Auf die etwa 200.000 Einwohner der Stadt kommen 200 Krebsdiagnosen pro Monat – für die gesamte Region gar 1.500. »Solche Zahlen waren früher unvorstellbar«, sagt die Onkologin.
Den sprunghaften Anstieg von Lungenkrebs und weiteren Atemwegserkrankungen führen Experten auf den Ausstoß von Giftstoffen zurück. Provisorische Ölpumpen sondern giftige Gase ab, darunter Schwefelwasserstoff, Methan und schwere nichtflüchtige Substanzen.
Die provisorischen Ölpumpen entstehen seit Ausbruch des Krieges 2011 in den Provinzen Hassakeh, Deir Ezzor und Raqqa. Nach dem Rückzug der syrischen Regierungstruppen aus weiten Teilen des Nordostens im Juli 2012 übernahmen dort Milizen die Kontrolle. An die Stelle der professionellen Fördertürme der Ölgesellschaften traten zusammengeschusterte Pumpstationen, die rund um Qamischli verstreut sind und sich bis an die Grenzen zum Irak und zur Türkei irakischen und türkischen Grenze erstrecken.
Der Konflikt machte es Unternehmen unmöglich in der Region zu operieren. An die Stelle der Energieunternehmen traten erst die Freie Syrische Armee (FSA), dann die mit Al-Qaida verbundene Al-Nusra-Front und der »Islamische Staat« (IS) in Deir Ezzor und Raqqa (2013-2018) sowie die kurdischen Kräfte YPG und YPJ in der Region Rojava, einschließlich Hassakeh, Qamischli, Kobane und Afrin. Im Jahr 2015 unterstützte die von den USA angeführte globale Koalition gegen den IS die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bei der Rückeroberung des gesamten Nordostens des Landes vom IS.
Kaum beziffert sind bislang aber die gesundheitlichen Langzeitschäden des Krieges
Doch auch die kurdische Autonomieverwaltung bekommt die Probleme mit den Ölpumpen nicht in den Griff, obwohl das Gebiet seit 2017 unter ihrer Kontrolle steht und US-Truppen und -Stützpunkte dort stationiert sind. Kurdische Beamte sagen auf Nachfrage, dass ohne politische Anerkennung Rojavas kein Ölunternehmen aufgrund des Konflikts bereit sei, in der Region zu arbeiten. Die einzige Ausnahme, die US-Firma Delta Crescent Energy (DCE), operierte noch dank einer Ausnahmegenehmigung – doch auch die ließ die Regierung Biden Ende 2021 auslaufen.
Im Zeitraum zwischen 2013 und 2017 ließen sich rund 330 Ansammlungen solch provisorischer Pumpstationen in der gesamten von den Kurden verwalteten Region ausmachen – insgesamt bis zu 15.000 Förderanlagen unterschiedlicher Größe. Heute sind östlich von Qamischli, zwischen Qahtaniyah und Tal Hamis, wohl noch etwa 20 dieser Ansammlungen in Betrieb. Allerdings macht die prekäre Sicherheitslage die Erhebung exakter Daten in vielen Regionen Syriens unmöglich. In den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten können unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen nicht frei arbeiten, und die Vereinten Nationen haben nur begrenzt Zugang zu Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle.
Etwa 600.000 Menschenleben hat der Krieg in Syrien gefordert, 13,5 Millionen Syrerinnen und Syrer mussten ihre Heimat verlassen, die Hälfte davon sind Binnenvertriebene. Kaum beziffert sind bislang aber die gesundheitlichen Langzeitschäden des Krieges. »Vor einigen Jahren häuften sich etwa massiv Lebervergiftungen in einem Dorf bei Tel Hamis: 80 Fälle – bei gerade 500 Einwohnern«, erinnert sich Akram Khalil. Der Internist praktiziert seit 25 Jahren in Qamischli und führt Vergiftungen wie diese auf Brunnen zurück, die nahe der provisorischen Ölförderanlagen liegen. »Auch die Verbrennungsabgase tragen ihren Teil bei, Luft, Wasser und Lebensmittel zu verschmutzen«, ergänzt Khalil, der darin eine Ursache für zunehmende Magen- und Darmerkrankungen erkennt.
Die unmittelbarsten gesundheitlichen Folgen der unregulierten Erdölförderung bekommen aber die Arbeiter vor Ort zu spüren. »Früher wir hatten einmal im Jahr eine Erkältung, und die meisten von uns brauchten nicht mal Medikamente«, berichtet Fahed, der sich auf einer dieser Anlagen verdingt und eine deutliche Verschlechterung seines allgemeinen Gesundheitszustandes spürt: »Heute leiden wir unter ständigem Husten und Juckreiz an Händen und Füßen sowie unter Durchfall. Aber es gibt sonst keine Jobs.«
In zahlreichen Gesprächen mit Arbeitern wird deutlich: Wer hier schuftet, hat oft keine Wahl. Die meisten Männer sind Alleinversorger und nehmen die gesundheitlichen Risiken in Kauf. »Wir sind uns der schädlichen Wirkungen bewusst. Die meisten von uns leiden unter Hautallergien und manchmal auch Atemnot«, sagt einer von ihnen. »Aber solange wir uns auf den Beinen halten können, arbeiten wir weiter.« Ein anderer ergänzt: »Wer nicht an einer Krankheit stirbt, wird verhungern.«
Doch die Beiprodukte der provisorischen Ölförderung machen nicht nur Menschen krank. »Die nichtflüchtigen Substanzen in den Abgasen schweben für kurze Zeit in der Luft, sinken dann bei niedriger Temperatur aber auf die Bodenoberfläche und bilden dort einen öligen Film, der jegliches Leben abtötet«, hat Landwirtschaftsingenieur Anas Alqasem beobachtet.
»So sterben die Mikroorganismen ab, auf deren Mineralien die Pflanzenwurzeln angewiesen sind«, seufzt Algasaem, der auch als Imker arbeitet und seit Jahren beobachtet, wie immer mehr Äcker in der Gegend um Qamischli veröden. Selbst Pflanzen, die unter diesen Umständen noch wachsen, schaffen es nicht, sich zu vermehren. »Der Ölfilm bedeckt die Blüten – und verhindert so die Bestäubung, weil der Pollen nicht von den Staubgefäßen zur Narbe gelangt. Deshalb tragen die Blüten keine Früchte«, erklärt Alqasem.
»Der Rauch der Verbrennungsanlagen hat den Boden schwarz gefärbt und das Brunnenwasser verseucht«
Was das konkret bedeutet, wird etwa 30 Kilometer südöstlich von Qamischli deutlich. Der nordöstliche Zipfel Syriens, die Jazira, gehört traditionell zu den landwirtschaftlich ertragreichsten Kulturlandschaften der Region. »Früher habe ich Baumwolle, Weizen und Gemüse angebaut«, erzählt Bauer Bassem aus dem Dorf Beshayriya. Doch seit mehr als zwei Jahren liege sein 40.000 Quadratmeter großer Acker brach. »Der Rauch der Verbrennungsanlagen hat den Boden schwarz gefärbt und das Brunnenwasser verseucht«, beklagt er.
Vor dem Krieg, erzählt Bassem, hätten etwa 3.000 Menschen in seinem Dorf gelebt. Nur ein Drittel sei noch geblieben: »Und die Hälfte von ihnen hat Krebs.« Im vergangenen Jahr sei auch bei seiner Frau Lungenkrebs diagnostiziert worden. Täglich machten sich die erkrankten Einwohner aus Beshayriya auf den Weg zur Behandlung. »Einige von ihnen fahren in die Nachbarstadt Al-Qahtaniyah, andere nach Qamischli und wieder andere nach Damaskus«, erzählt der Bauer.
Nicht nur die Menschen verlassen die Felder und ihre Heimat. Besonders gravierend wirkt sich der Rückgang der Bienenpopulation aus. Mehr als 90 Prozent der weltweit wichtigsten Kulturpflanzen werden von den Insekten bestäubt. Sterben die Bienen, wachsen auch Kultur- und Wildpflanzen nicht mehr, die den Menschen in dieser Gegend stets wichtige Mikronährstoffe geliefert haben.
Verschwindet die ökologische Vielfalt, steigt das Risiko von Mangelerscheinungen, etwa bei Vitamin A, Eisen und Folsäure. »Im Gegensatz zu anderen anpassungsfähigen Insekten fehlt den Bienen die genetische Resistenz gegen Umweltgifte«, erklärt Anas Alqasem. Und so wird das Bienensterben in der Jazira zum zweiten Grund für die ausbleibende Bestäubung der Kulturpflanzen. »Insbesondere in der Nähe der Ölförderanlagen.«
Viele Bienenvölker im Nordosten Syriens seien vollständig verschwunden – nicht zuletzt, weil in den letzten Jahren die behördliche Aufsicht fehlt, die dem Einsatz verbotener Pestizide Einhalt gebieten könnte. »Vor dem Krieg hatte ich Tausende Bienenzargen, inzwischen sind mir noch 150 geblieben.« Imker Alqasem führt den Niedergang seines Berufsstandes auch auf die Verödung der Anbauflächen infolge der Ölverschmutzung in der Region zurück. »Einst blühten hier Baumwolle, Sonnenblumen, Sesam und viele Gemüsesorten. Heute sind die Böden in der Umgebung unfruchtbar.«
Der Imker zeigt dennoch Möglichkeiten auf, wie sich der Bienenbestand erholen könnte. »Dafür müssten Felder nahe der Türkei angelegt werden – die Bienen könnten dann über die Grenze fliegen, um an Pollen zu gelangen.« Verödete Flächen in der Jazira wieder urbar zu machen, ist aber eine ungleich schwierigere Herausforderung.
Wie alle landwirtschaftlich genutzten Wüstengebiete wäre Syriens Nordosten auch ohne Krieg und Umweltverschmutzung von den Folgen des Klimawandels betroffen. Unter den Bedingungen des Konflikts verschärft sich diese Entwicklung aber zusätzlich. Wieder einmal spielen die provisorischen Ölpumpen eine zentrale Rolle.
Obwohl inzwischen die meisten Industrieanlagen in Syrien entweder zerstört oder stillgelegt wurden, erreichen die CO2-Emissionen immer noch vergleichsweise hohe Werte. 2020 beliefen sie sich auf 30,53 Millionen Tonnen – ein Ausstoß vergleichbar mit dem von Industrieländern wie Irland oder der Schweiz.
Zwischen 2018 und 2020 kletterte das Thermometer in Hassakeh mehrfach auf 49 Grad Celsius
Das Fehlen von Industriestandards erklärt die hohen Emissionswerte in Syrien aber nur bedingt. Immer wieder sind Ölförderanlagen Ziel taktischer Angriffe, zudem verhindert die Sicherheitslage in umkämpften Gebieten eine sachgemäße und regelmäßige Wartung der Infrastruktur – insbesondere des Leitungsnetzes. So verschmutzt Öl, das beim Transport aus Pipelines oder Lastwägen austritt, Ländereien auch außerhalb der Fördergebiete. Wenn es dann auch noch Feuer fängt, trägt der Wind giftigen Rauch übers Land – sobald die Partikel in höhere Luftschichten aufsteigen, richten sie über den Regen zusätzlichen Schaden an.
Und so leistet die Region einen unheilvollen Beitrag zur Erderwärmung, unter der sie wie kaum eine zweite leidet. Zwischen 2018 und 2020 kletterte das Thermometer in Hassakeh mehrfach auf 49 Grad Celsius, im vergangenen Juli wurden gar 50 Grad Celsius gemessen. Temperaturen, die es früher nie gegeben hatte. Gleichzeitig regnet es weniger. Waren es zwischen 2000 und 2010 noch durchschnittlich 440 Liter pro Quadratmeter im Jahr, sind es im letzten Jahrzehnt noch 380 Liter.
Zudem verseuchen nicht nur unabsichtlich versickerndes Öl und marode Infrastruktur die Gegend, auch der am Ende entstehende Treibstoff ist minderwertig – und entsprechend giftig für Mensch und Natur. »In Qamischli sind mindestens 50 Großgeneratoren täglich acht Stunden in Betrieb. Dazu kommen Tausende kleinerer Generatoren für den Hausgebrauch«, berichtet ein Händler, der mit Import und Verkauf von Generatoren sein Geld verdient. Zudem sind seit 2017 geschätzt 600.000 Kraftfahrzeuge nach Nordost-Syrien gebracht worden – und die tanken lokal produziertes Benzin und Diesel.
Fast eine Viertelmillion Menschen flohen 2013 bis 2015 Richtung Irakisch-Kurdistan, erst vor dem IS, dann vor russischen Kampffliegern. Und das, obwohl das Gebiet unter Kontrolle der kurdischen YPG als vergleichsweise sicher gilt. Feldinterviews, etwa der niederländischen NGO PAX, legen nahe, dass nicht nur die Gefechte, sondern auch die die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen durch Umweltschäden als Fluchtursache aus Nordost-Syrien bereits damals an Bedeutung gewannen.
Die Instabilität durch den Konflikt verhindert jegliche Bemühungen, den Umweltschäden entgegenzuwirken. Dafür wäre viel mehr Zusammenarbeit und Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren und Regionen Syriens erforderlich. »Das Mindeste, was der Region helfen würden, wäre eine ordentlich funktionierende Ölraffinerie«, findet Onkologin Blenda Abdul-Rahman aus Qamischli. »Dann wären wir wenigstens nicht mehr so vielen schädlichen Abgasen ausgesetzt.«
Khabat Abbas und Hisham Arafat arbeiten als freie Journalisten in Nordsyrien.