Seit Jahrzehnten ringen Ägypten und Sudan um einen Küstenstreifen. Der Streit ums Hala'ib-Dreieck und seine Bodenschätze scheint nun entschieden – und könnte die Kräfteverhältnisse am Roten Meer damit neu ordnen.
Folgt man dem Grenzverlauf zwischen Ägypten und Sudan von Westen nach Osten, macht die gerade Linie knapp 200 Kilometer vor der Rotmeerküste unvermittelt einen Schwenker gen Südost, dann wieder Richtung Nordosten. Die knapp 20.000 Quadratmeter große Anomalie ist Zeugnis kolonialer Grenzziehung, wechselvoller Beziehungen zwischen den Rotmeeranrainern über die letzten 130 Jahre – und möglicherweise Schauplatz erneuter geopolitischer Rivalitäten.
Die Wurzeln des Streits um das Hala'ib-Dreieck reichen in die Kolonialzeit zurück, als Ägypten und der Sudan faktisch ein britisches Protektorat waren. Nach dem Abkommen zum anglo-ägyptischen Kondominium von 1899 wurde der Sudan gemeinsam von Großbritannien und Ägypten verwaltet. Die britische Administration zog die Grenze zwischen Ägypten und dem Sudan entlang des 22. nördlichen Breitengrads neu und platzierte das Hala'ib-Dreieck auf ägyptischem Territorium.
Im Jahr 1902 änderten die Briten den Verlauf ein weiteres Mal, um die Verwaltungsgrenzen mit den Weidegründen der lokalen Stämme wie den Ababda und Basharya in Einklang zu bringen. Die neue Grenzziehung übertrug die Verwaltung der angrenzenden Region Bir Tawil an Ägypten, da es sich um Weideland handelte, das von den aus Assuan stammenden Ababda genutzt wurde. Das Hala'ib-Dreieck hingegen wurde der sudanesischen Administration unterstellt, da das Stammesgebiet der Basharya engere kulturelle Beziehungen zum Sudan unterhielt.
Im Jahr 1902 änderten die Briten den Verlauf ein weiteres Mal, um die Verwaltungsgrenzen mit den Weidegründen der lokalen Stämme in Einklang zu bringen
Der Streit um territoriale Hoheit und Gebietsansprüche nahm dann nach der Unabhängigkeit des Sudan im Jahr 1956 an Fahrt auf. Ägypten unter Präsident Gamal Abdel Nasser versuchte, die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen, da es das Hala'ib-Dreieck auf der Grundlage des Grenzabkommens von 1899 als integralen Bestandteil Ägyptens betrachtete. In der Zwischenzeit formulierte Sudan seinen Anspruch auf Grundlage seiner langjährigen administrativen Kontrolle seit 1902. Ägypten erkannte diese Änderung nie formell an und legte damit den Grundstein für den Streit. Diese Konstellation hat zu dem kuriosen Ergebnis geführt, dass beide Staaten Anspruch auf das Hala'ib-Dreieck erheben, während keiner von ihnen Bir Tawil, den kleineren Teil im Westen des Areals, für sich reklamiert. Bir Tawil ist deutlich ärmer an Ressourcen und gehört zu den wenigen von keinem Staat beanspruchten Territorien weltweit.
Im Jahr 1958 nahm der Streit nach dem Ausbruch eines Grenzkonflikts einen viel ernsteren Charakter an. Anlass war die Absicht des Sudan, im Hala'ib-Dreieck Wahlen abzuhalten. Ägypten entsandte unter Nasser Truppen, um die Region zu besetzen, die jedoch nach nur einem Monat wieder abgezogen wurden. Der einzige weitere größere Zwischenfall war die erneute Entsendung ägyptischer Truppen im Jahr 1984. Die Gründe für die Eskalation sind nach wie vor unklar, führende Persönlichkeiten aus der Region vermuten jedoch, dass es dem damaligen Präsidenten Hosni Mubarak nach der Ermordung seines Vorgängers Anwar Al-Sadat wenige Jahre zuvor um eine Machtdemonstration ging. Zudem erschütterten Dürre und Misswirtschaft den Sudan Mitte der 1980er-Jahre, nur ein später kam das Regime von Dschafar Al-Numeiri zu Fall.
Der Status quo einer relativ friedlichen gemeinsamen Kontrolle blieb dennoch bis 1992 bestehen, woraufhin die Spannungen zwischen beiden Staaten allerdings ihren Höhepunkt erreichen sollten. Im Februar desselben Jahres erlaubte der Sudan einem kanadischen Unternehmen, in den Gewässern des Roten Meeres vor dem Hala'ib-Dreieck nach möglichen Ölvorkommen zu suchen. Ägypten erhob daraufhin Einspruch gegen die Konzessionsvergabe. Nachdem sich das Unternehmen mit der Begründung zurückgezogen hatte, dass zunächst die Frage der territorialen Zugehörigkeit geklärt werden müsse, wurde Kairo beschuldigt, wiederholt militärische Mittel einzusetzen, um seinen Anspruch zu untermauern. Khartum reagierte daraufhin mit einer Klage bei den Vereinten Nationen, die jedoch erfolglos blieb.
Als es Kairo wie Khartum dämmerte, dass die Gegend womöglich doch bedeutende Ressourcen beherbergte, war eine Eskalation des Streits vorprogrammiert
1995 wurde Mubarak während seines Besuchs in Addis Abeba, wo er an einer Tagung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) teilnahm, Ziel eines letztlich vereitelten Attentats. Dieser Vorfall sollte die Kontrolle über Hala'ib entscheidend zugunsten Ägyptens verändern. Die Weigerung des Sudans, drei mutmaßlich beteiligte Personen auszuliefern, und die Äußerungen des äthiopischen UN-Vertreters, der die Involvierung Khartums als »offensichtlich« bezeichnete, lieferten den Anschuldigungen des Mubarak-Regimes Vorschub. Infolgedessen festigte Ägypten seine Kontrolle über das Hala'ib-Dreieck, indem es das Gebiet effektiv verwaltete, Wahlen abhielt und es in seinen administrativen Rahmen integrierte.
Es ist kein Zufall, dass die Vertreibung der verbliebenen sudanesischen Streitkräfte in den 1990er-Jahren mit der Erteilung der Explorationsrechten an das (ungenannte) kanadische Unternehmen zusammenfiel. Vor diesem Vorfall hatte sich der Streit mangels lukrativer Ressourcen oder einer nennenswerten Bevölkerung, die besteuert werden könnte, auf eine Meinungsverschiedenheit über unpraktische Grenzen aus der Kolonialzeit beschränkt. Wie in vielen früheren kolonialen Territorien, hatten die Bedürfnisse der Lokalbevölkerung bei der Grenzziehung nicht an erster Stelle gestanden.
Als es Kairo wie Khartum dämmerte, dass die Gegend womöglich doch bedeutende Ressourcen beherbergte, war eine Eskalation des Streits vorprogrammiert. Die Konsolidierung der ägyptischen Herrschaft über die Region – mit der Stadt Schalatin als Zentrum – hatte eben primär zum Ziel, sich die Kontrolle über die Bodenschätze zu sichern. Der Streit zwischen Ägypten und Sudan wird zudem dadurch verkompliziert, dass weder das Grenzabkommen von 1899 noch jenes von 1902 völkerrechtlich anerkannt sind. Daher sind die von beiden Seiten erhobenen Ansprüche nicht per se illegal oder unrechtmäßig.
Geologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass im Hala'ib-Dreieck entlang der Küste des Roten Meeres Öl- und Gasreserven liegen könnten. Diese Ressourcen sind zwar noch weitgehend unerforscht, erhöhen aber die wirtschaftliche und strategische Bedeutung der Region, insbesondere im Zusammenhang mit dem Energiebedarf Ägyptens und des Sudan. Nicht nur fossile Ressourcen, sondern auch Mineralien werden im Hala'ib-Dreieck vermutet. Neben Gold etwa auch Mangan, das als Legierungselement bei der Produktion von Stahl und Dünger Verwendung findet und ein wichtiger Bestandteil von Lithium-Ionen-Batterien ist.
Der Streit um das Hala'ib-Dreieck ähnelt den Stellvertreterkonflikten in der unmittelbaren Nachbarschaft
Obwohl beide Staaten an ihren Ansprüchen festhalten, schafft in erster Linie Ägypten vor Ort Fakten. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2014 hat Präsident Abdul-Fattah Al-Sisi erhebliche Anstrengungen unternommen, Projekte zu fördern, die er persönlich für geeignet hält, die Wirtschaft zu entwickeln. Die privilegierte Rolle des Militärs als Wirtschaftsakteur über eine Reihe affiliierter Unternehmen ist essenzieller Bestandteil dieser Pläne.
Und so prägt der militärisch-ökonomische Komplex auch die wirtschaftliche Entwicklung im Hala'ib-Dreieck. Nach einem Erlass vom Februar 2014 machte sich Ägypten ans Werk. Im März desselben Jahres begann die Regierung, Angebote für die Offshore-Exporation von Erdöl und Erdgas einzuholen. Zugleich ist das »Schalatin-Unternehmen für Bodenschätze« für den Betrieb von Goldminen verantwortlich. Diese Firma ist direkt der »Nationalen Organisation für Dienstleistungsprojekte« (NSPO) unterstellt, einem der dem Verteidigungsministerium untergeordneten halbstaatlichen Konglomerate. Der Sudan bleibt angesichts der zahlreichen Krisen im vergangenen Jahrzehnt, zuletzt dem seit April 2023 tobenden Bürgerkrieg, außen vor, während der Nachbar im Norden neue Einnahmequellen erschließt.
Doch auch Ägyptens wirtschaftliche Aussichten sind alles andere als rosig. Kairo hat unter einer Reihe von externen Schocks gelitten, hält aber unverändert an kostspieligen Prestigeprojekten fest. In der Folge erreichte die Inflationsrate bis Anfang 2024 den zweistelligen Bereich. Das Land erlebte infolge des russischen Einmarsch in der Ukraine einen Devisenabfluss, die Einnahmen aus dem Suezkanal gingen nach dem 7. Oktober drastisch zurück. Eine noch größere Krise konnte nur abgewendet werden, nachdem Kairo Darlehen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zur Aufstockung seiner Devisenreserven erhalten hatte.
Die Abhängigkeit Kairos von ausländischen Staaten zeigt sich auch in Hala'ib. Wie viele andere regionale Konflikte, die nicht einfach eine bilaterale Angelegenheit bleiben, ähnelt der Streit um das Hala'ib-Dreieck den Stellvertreterkonflikten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ägyptens engster Unterstützer in dieser Hinsicht sind die VAE, die sich insbesondere seit dem Aufstieg von Präsident Sisi zu einem unerlässlichen Verbündeten entwickelt haben.
Kairos Rückgriff auf die Grenzen von 1899 fiel mit der Einweihung eines neuen Marinestützpunktes in Berenike zusammen
Von den VAE gedeckte Investitionen finanzieren Ägyptens Ambitionen bei der Förderung der Goldvorkommen im Hala'ib-Dreieck. Unternehmen aus dem Golfstaat haben Interesse an der Exploration in mineralienreichen Gebieten in ganz Ägypten an den Tag gelegt. Abu Dhabis Rückendeckung für Ägypten im Streit um das Hala'ib-Dreieck hängt mit umfassenderen strategischen Interessen in der Region zusammen. Zunächst schützt man dadurch die eigenen Investitionen. Dennoch sind politische Erwägungen von noch größerer Relevanz.
Die feindliche Haltung gegenüber den Muslimbrüdern hat beide Länder im vergangenen Jahrzehnt sicher näher rücken lassen. Doch die Tatsache, dass Ägypten im Nachbarland die Sudanesischen Streitkräfte (SAF) unterstützt, während die VAE die »Rapid Support Forces« (RSF) aufrüsten, zeigt, wie komplex und widersprüchlich solche Stellvertreterkonflikte oftmals sind. Angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den VAE und der schlechten wirtschaftlichen Lage des Landes sind Ägyptens Optionen bei der Wahl der bevorzugten Partner im Nachbarland aber zweifellos begrenzt.
Bis heute beruft sich Ägypten auf die Legitimität des Abkommens zum anglo-ägyptischen Kondominium von 1899. Interessanterweise erklärte das ägyptische Verteidigungsministerium im Januar 2020, dass die rechtmäßigen Grenzen mit denen von 1899 übereinstimmen. Dass ausgerechnet diese staatliche Stelle solch eine Erklärung abgab, offenbart den wachsenden Einfluss des Militärs auf die Wirtschaft und insbesondere auf die Entwicklung des Hala'ib-Dreiecks. Angesichts der effektiven militärischen und bürokratischen Kontrolle durch Kairo und dank erheblicher finanzieller Unterstützung aus dem Ausland für das Sisi-Regime fehlen dem Sudan jegliche Möglichkeiten, seinem Anspruch auf die Region weiterhin Nachdruck zu verleihen.
Für Ägypten eröffnen sich dadurch neben wirtschaftlichen auch neue geostrategische Optionen. Denn der Rückgriff auf die Grenzen von 1899 fiel zusammen mit der Einweihung eines neuen Marinestützpunktes in Berenike, der einstigen antiken Handelsmetropole, etwa 100 Kilometer nördlich der Küste von Hala'ib. Die Basis ist nicht nur für die Abwehr potenzieller Bedrohungen aus dem Sudan zuständig, sondern könnte auch dazu dienen, die Handelsrouten im Roten Meer mit eigenen Truppen gegen die Angriffe der Huthis abzusichern.