Die neue syrische Führung bekennt sich zu religiöser Toleranz, zugleich häufen sich Übergriffe, etwa auf Christen, Schiiten und Alawiten. Führt HTS-Führer Ahmad Al-Shar’a die Öffentlichkeit in die Irre oder hat er die eigenen Gefolgsleute nicht im Griff?
Syrien steht nach dem Sturz der Assad-Diktatur vor einer hoffnungsvollen, mit dem »Befreiungskomitee« Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) an der Staatsspitze jedoch vor einer ungewissen Zukunft. Obwohl sich die HTS öffentlich moderat gibt, deuten kleine Details immer wieder auf ihre religiös-konservative Gesinnung hin. So verkündete der von der HTS eingesetzte Premierminister Muhammad Al-Baschir am 10. Dezember die Bildung einer Interimsregierung vor zwei unterschiedlichen Flaggen. Obwohl seine Antrittsrede inklusive Ankündigung von Wahlen fast schon demokratisch anmutete, war neben der syrischen Revolutionsflagge auch ein schwarz-weißes Banner mit der arabischen Aufschrift zu sehen: »Es gibt keinen Gott außer Allah und Muhammad ist der Prophet Gottes«. Gruppen wie die afghanischen Taliban verwenden diese Flagge als islamistisches Erkennungssymbol. Das wirft die Frage auf, welche Pläne die neuen Machthaber wirklich für das geschundene Land haben.
Gegenüber dem Sender Al-Jazeera stellte ihr Oberhaupt 2013 heraus, dass der HTS-Vorläufer Nusra-Front für die Einführung der Scharia kämpfe, unter der es keinen Platz für Minderheiten geben könne. Im selben Jahr setzten die USA die Gruppe und ihren Führer Abu Muhammad Al-Dschulani auf die Terrorliste, kurz darauf folgte die EU diesem Schritt. Nachdem die Nusra-Front von der US-geführten Koalition gegen den »islamischen Staat« (IS) ins Visier genommen wurde, änderte sie ihre Kampfstrategie und legte ihr radikal-religiöses Profil ab. Fortan distanzierte sich Dschulani vom globalen Dschihad der Al-Qaida, brach mit ihrem Oberhaupt Ayman Al-Zawahiri und beschwor den »revolutionären Befreiungskampf« gegen die Diktatur in Syrien. Seit dem Sturz von Baschar Al-Assad, den die HTS maßgeblich vorantrieb, fungiert Dschulani, der in der Öffentlichkeit nun wieder mit seinem bürgerlichen Namen Ahmad Al-Shar’a in Erscheinung tritt, als De-Facto-Herrscher über Syrien, – eine Machtposition, die er jahrelang strategisch vorbereitet hatte.
Um die Streichung von den Sanktionslisten zu erreichen, hatte Dschulani die Verbindungen zur internationalen Terrororganisation Al-Qaida gekappt, die Nusra-Front stärker in die Oppositionsbewegung Syriens eingebettet und 2016 ihren Namen in »Dschabhat Fath al-Sham« (»Eroberungsfront Großsyriens«, JFS) abgeändert. In Folge der Rückeroberungen durch die Regierungstruppen und deren Verbündete zog sich die JFS in die nordwestliche Provinz Idlib zurück. Dort schloss sie sich 2017 mit fünf islamistischen Verbänden unter der Führung Dschulanis zur jetzigen HTS zusammen. Mit dem Niedergang des IS im Jahr 2019 übernahm die HTS die Führung im Kampf gegen Baschar Al-Assad und kontrollierte über die »Heilsregierung« mit Idlib die letzte Oppositionsbastion Syriens.
Mit türkischer Unterstützung gelang es der SSG ein funktionierendes Gesundheits-, Bildungs- und Justizwesen aufzubauen sowie öffentliche Dienstleistungen zu gewährleisten. Obwohl sich die Gesetzesauslegung am islamischen Kodex orientierte, inszenierte sich ihr Vorsitzender Muhammad Al-Baschir als legitimer Vertreter des syrischen Volkes. Gleichsam gab sich Dschulani geläutert und agierte machtorientiert pragmatisch. Er tauschte seine Tarnkleidung gegen Anzüge und bot sich dem Westen sogar als Partner zur Eindämmung des iranischen Einflusses an. Gleichzeitig startete die HTS »Antiterrorkampagnen«, um gegen Überreste von Al-Qaida und IS vorzugehen, wozu sie mit moderateren Rebellengruppen kooperierte – eine Allianzbildung, die ihre Vorgängerorganisation Nusra-Front religiös bedingt noch strikt abgelehnt hatte.
Shar’a hat Gefolgsleute in Schlüsselpositionen der Verwaltung und der Armee eingesetzt, – darunter einen ehemaligen Al-Qaida-Kommandeur sowie Dschihadisten aus dem Kaukasus
In einem Interview mit dem US-Sender PBS erläuterte Dschulani 2021 seine neue »Vision für Syrien«, in der nun »alle religiösen und ethnischen Minderheiten« Platz hätten. Da von ihm und seiner HTS »keine Bedrohung mehr für den Westen« ausgehe, könnten die USA und die EU sie von ihrer Terrorliste streichen. Die syrischen Geflüchteten könnten unter ihm in ihre Heimat zurückkehren und müssten keine Repressalien wie unter Baschar Al-Assad fürchten – eine Botschaft, die sich an Europa, besonders an den internationalen Geldgeber Deutschland und den HTS-Unterstützer Türkei richtete.
Ungeachtet solcher Bekundungen wurde in Idlib das Recht auf freie Meinungsäußerung jahrelang unterdrückt. Beobachter vor Ort berichteten, dass Dschulani und Muhammad Al-Baschir »mit harter Hand« regierten und »keinerlei abweichende Meinungen« – insbesondere in Bezug auf religiöse Angelegenheiten – duldeten. Das Mediennetzwerk Syria Direct dokumentierte 2022, dass die HTS als rigorose Ordnungsmacht dutzende Menschen einsperren, foltern und ermorden ließ. Dabei hätte sie besonders drakonische Strafen gegen Aktivisten, Journalisten und Frauen verhängt. Letztere seien auch an den Pranger gestellt worden, wenn sie der religiösen Kleiderordnung nicht Folge leisteten. Diesbezüglich erregte HTS-Führer Ahmad Al-Shar’a nun Aufsehen, als er eine unbeteiligte Frau bei einer Fotoaufnahme dazu aufforderte, ihr Haar zu bedecken. Er rechtfertigte dies damit, dass es seine »persönliche Freiheit« sei, sich nur mit verschleierten Frauen ablichten zu lassen.
Die HTS wird als stärkstes Oppositionsbündnis in der Ära nach Assad eine tragende Rolle in Syrien spielen. Das hat bereits die Ernennung von Muhammad Al-Baschir zum Interimspremierminister gezeigt, der viele seiner Vertrauten in die Übergangsregierung berufen hat. Shar’a hat zudem Gefolgsleute in Schlüsselpositionen der Verwaltung und der Armee eingesetzt, – darunter nicht nur den ehemaligen Al-Qaida-Kommandeur Anas Hassan Al-Khattab und den HTS-Militärchef Murhaf Abu Qasra, sondern auch ausländische Dschihadisten aus dem Kaukasus und Zentralasien, wie Abdullah al-Daghestani, Anführer von »Jaysh al-Muhajirin wa-l-Ansar« und Saifuddin Mamar, Militärchef von »Kitaib al-Tawhid wa-l-Jihad«.
Auch wenn die HTS-Führung bemüht ist, medienwirksam den Schutz der Minderheiten zu propagieren, bleibt die endgültige Haltung der neuen Machthaber gegenüber Alawiten, Christen oder Kurden noch ungewiss
Zu den ersten Amtsentscheidungen der Interimsregierung gehörten dann nicht nur die Einsatzregelung der Sicherheitskräfte, sondern auch das Vollstrecken des Alkohol- und Rauchverbots in der Öffentlichkeit. Dies führte zum Beispiel in Aleppo und Hama zu Übergriffen auf von religiösen Minderheiten geführten Läden, die Alkohol und Zigaretten verkaufen. Obwohl der Premier angetreten ist, das gesamte syrische Volk zu vertreten, sitzt in der Interimsregierung weder ein Alawit, Schiit, Druse noch ein Christ. Zwar ist positiv hervorzuheben, dass darin auch Frauen vertreten sind. Allerdings gab die konservative Frauenbeauftragte Aischa Al-Dibs zu verstehen, dass die Rolle der Frau »nicht über die Prioritäten ihrer von Allah gegebenen Natur hinausgeht« und daher primär »ihre Familie und ihren Ehemann« zur Aufgabe hat. Das »ideale Modell für Syrien« sei kein »westlicher Import wie der Säkularismus«, sondern eine »Verfassung auf Grundlage der Scharia«.
Ungeachtet solcher Statements verkündete die HTS am Tag nach Assads Sturz, dass die »persönliche Freiheit für alle« garantiert sei und die »Rechte jedes Einzelnen« geschützt würden. Diese Verlautbarungen ließen nicht nur unter den Minderheiten, sondern auch in den westlichen Staaten durchaus Hoffnung aufkeimen. Jedoch ist die Euphorie mit Vorsicht zu genießen. Schließlich hat der pragmatisch agierende Shar’a bei seinem moderaten Kurs sicherlich die internationale Gemeinschaft als zukünftigen Geldgeber im Blick, darunter Deutschland als starken Entwicklungshelfer. Die neue Regierung in Damaskus benötigt Milliarden für den Wiederaufbau.
Auch wenn die HTS-Führung bemüht ist, medienwirksam den Schutz der Minderheiten zu propagieren, bleibt die endgültige Haltung der neuen Machthaber gegenüber Alawiten, Christen oder Kurden noch ungewiss. Hoffnungsvoll stimmt, dass Shar’a seine Truppen angewiesen hat, »Zivilisten zu schonen« und »Minderheitenrechte zu wahren«. Dagegen fällt in Verlautbarungen der neuen Machthaber schon auf, dass das einst arabisch-nationale Protokoll durch ein islamisches ersetzt worden ist. In offiziellen Dokumenten ist beispielsweise die Formel »im Dienst des arabischen Vaterlands« bereits mit der religiösen Phrase »für die Sache Allahs« ausgetauscht worden. Darüber hinaus hat die »Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Syrien« (SOHR) seit dem Sturz des Assad-Regimes religiös motivierte Gewalttaten dokumentiert.
Besonders die Überreste des IS dürften die unsichere Lage bald für sich ausnutzen wollen, um durch aufsehenerregende Gewalttaten zu alter Stärke zurückzufinden
Darunter fallen nicht nur die Verbrennung eines Weihnachtsbaums in Suqaylabiyah, die Zerstörung einer Kirche und Schändung eines Friedhofs in Hama sowie die Vertreibung von Christen in Maalula, sondern auch die Zerstörung des schiitischen Schreins Ras Al-Husaynin in Aleppo sowie die Schändung des alawitischen Mausoleums von Abu Abdullah al-Hussein bin Hamdan Al-Khasibi und die Verfolgung, Folterung und Ermordung von Alawiten in Damaskus, Homs und Tartus. Im letzteren Fall diffamierten die Peiniger ihre Opfer als »Hunde«, »Affen« und »Schweine«, allesamt religiös konnotierte Beleidigungen von Minderheiten. SOHR-Leiter Rami Abdel Rahman gab in diesem Zusammenhang zu Protokoll, dass »aufgrund der Häufigkeit der Vorfälle nicht mehr von Einzelfällen« gesprochen werden könnte.
Ahmad al-Sharaa strebt die Konsolidierung seiner Macht an. Darauf deutet sein ungewöhnlicher Werdegang hin, in dem er sich als pragmatisches Chamäleon offenbart hat, um seine religiös-politischen Ziele zu erreichen. Die entscheidende Frage für Syrien lautet, ob sein Sinneswandel lediglich taktisch oder tatsächlich ideologisch begründet ist. Neben all den lokalen, regionalen und internationalen Implikationen ist auch fraglich, ob die radikal-religiösen Bewegungen in Syrien seinen Machtpragmatismus auf Dauer mittragen. Besonders die Überreste des IS dürften die unsichere Lage bald für sich ausnutzen wollen, um durch aufsehenerregende Gewalttaten zu alter Stärke zurückzufinden.
Zudem ist das syrische Staatsgebiet kriegsbedingt fragmentiert und dadurch für die neuen Machthaber schwer kontrollierbar: Die HTS und die von der Türkei unterstützte Miliz »Syrische Nationalarmee« (SNA) haben die Kontrolle in West- und Zentralsyrien, die mit ihr verfeindeten »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) im Nordosten, das prowestliche »Südliche Operationskommando« agiert im Südwesten, IS-Zellen in der Badia-Wüste, Pro-Assad-Milizen in Latakia und Tartus sowie pro-iranische Milizen in den Grenzregionen zum Libanon und dem Irak. Geheimdienstberichten zufolge arbeitet Iran zusammen mit seinen Stellvertretern dort schon daran, die syrische Interimsregierung mit Hilfe lokaler Kräfte zu destabilisieren.